Erwartet man von einem Chirurgen, dass er selbst eine Blinddarmentzündung hatte, bevor er zum Skalpell greift, fragt sich der off the record-Blogger Olaf Kolbrück: “Wenn es um Social Media geht, hält sich indes hartnäckig der Irrtum, nur wer selbst auf Twitter oder Facebook sei, werde die digitale Welt verstehen. Unfug. Ein Marketer muss nicht twittern, er muss nicht einmal selbst bei Facebook sein. Schön, wenn er das tut. Doch das Management des Wandels ist keine Frage von Tools und Features.”
Es gehe in erster Linie um das Verständnis und einen kulturellen Wandel im Unternehmen. “Das Marketing muss sich die Schuhe des Kunden anziehen, wenn es ihn verstehen will. Es muss sich davon befreien, den Kunden nur als anonyme Zielgruppe zu sehen, der man eine Ware aufschwatzt. Das Unternehmen muss ein Problemlöser für die Menschen sein und Verständnis für die Bedürfnisse des Kunden haben. Das aber gilt unabhängig von Social Media und übrigens in gleichem Maße für Social-Media-Berater und Social-Media-Officer, der Tellerrand allerdings oftmals an der Plastikschale rund ums iPhone endet”, so Kolbrück und vergleicht sie mit alten SED-Kadern, die dem Popanz umfassender Dialogkultur im Web nachtrauern, weil Facebook und Twitter eben von Marken auch dazu genutzt werden Gewinnspiele und Coupons unter das digitale Volk zu streuen. SED-Kader trauern allerdings eher der verloren gegangenen Friedhofsruhe im politischen Diskurs nach – insofern ist der Vergleich etwas schief. Es ist auch nichts dagegen zu sagen, über Social Media die Bedürfnisse der Kunden zu erkennen und zu erfüllen. So puristisch denken wohl nur die wenigsten.
Allerdings gibt es auch einige Führungskräfte in deutschen Unternehmen, die das Social Media-Thema wie eine Monstranz vor sich her tragen und ansonsten nach Befehl-und-Gehorsam-Prinzip weiterregieren. Insofern sollten einige Marketingmanager mal den Sprung ins kalte Wasser wagen und sich nicht hinter Hierarchien, Agenturen und Abteilungen verschanzen. Ich glaube nicht, dass die Mehrheit der Firmen kapiert hat, welche tektonischen Veränderungen zur Zeit ablaufen. Das der Marketingpapst Philip Kotler sehr hübsch beschrieben: “Verbraucher glauben einander mehr als den Unternehmen. Der Aufstieg der sozialen Medien ist schlicht ein Ausdruck der Verlagerung des Vertrauen der Verbraucher von Unternehmen auf andere Verbraucher. Laut dem Nielsen Global Survey verlassen sich immer weniger Konsumenten auf die Werbung von Unternehmen…Rund 90 Prozent der befragten Konsumenten glauben den Empfehlungen von Bekannten. 70 Prozent halten die ins Internet gestellten Meinungen von Kunden für zuverlässig.”
Daran ändern auch ein paar gelungene Facebook-Kampagnen von Otto und Co. nichts. Ein weiteres Faktum hat der Servicespezialist Convergys auf einer Tagung in Düsseldorf präsentiert: Die meisten Kunden geben negative Erfahrungen im Social Web weiter und schaden dem Ruf von Unternehmen.
Und noch ein sehr schöner Befund: 62 Prozent der Kunden, die in einem sozialen Medium von negativen Erfahrungen lesen, beenden die Geschäftsbeziehung mit dem betreffenden Unternehmen oder beginnen sie erst gar nicht. Da helfen dann nervige Gewinnspiele, Coupon-Aktionen oder Fotowettbewerbe auf Facebook nicht mehr weiter.
Hier die Audioaufzeichnungen von zwei Vorträgen der Convergys-Tagung in Düsseldorf:
1. Vortrag von Glen Wilson, Convergys:
2. Vortrag vom Marketingexperten Günter Greff:
Siehe auch:
Don’t Call It Social Media.
Marketiers, die das Zuhören und die Fähigkeit des Dialogs mit Kunden und Interessenten verlernt haben müssen nicht selbst twittern und in facebook sein. Nein, weiss Gott nicht. Aber es schadet nichts, wenn sie mal wieder selbst Kontakt mit echten Kunden und deren Bedürfnissen haben. Sie könnten stattdessen auch mal drei Tage hinter der Verkaufstheke stehen, Reperaturen annehmen, oder oder. Nur bitte nicht weiter über social media theoretisieren.