“Jeff Jarvis ist wieder auf Tour. Der wahlweise als Web-Guru oder Internet-Visionär betitelte US-Amerikaner hat sich zu einem weltweiten Ein-Mann-Wanderzirkus in Sachen Web-Propaganda entwickelt. Seine Thesen werden von der Netzgemeinde eifrig beklatscht und selten hinterfragt. Aktuell auf dem Berliner Blogger-Kongress re:publica. Aber die Antwort auf die wichtige Frage, wie man mit dem Internet eigentlich Geld verdienen kann, hat Jarvis bisher nur für eine einzelne Person beantwortet: für sich selbst”, so sieht es der meedia-Blogger Stefan Winterbauer in seinem Rundumschlag gegen den Medienprofessor.
So witzelte Jarvis in Berlin über das deutsche Paradoxon, dass man sich hierzulande lieber nackt in die Sauna hockt, statt sich von einem Google Streetview Auto in voller Montur ablichten zu lassen. “Gelächter, Applaus, weiter im Text. Bloß nicht drüber nachdenken, sonst wäre die schöne Pointe womöglich hinüber. Dass es einen Unterschied macht, ob man sich in einem abgeschirmten Raum wie einer Sauna selbstbestimmt nackt zeigt oder ob man ungefragt auf der Straße fotografiert wird, wird von Jarvis nonchalant übergangen. Würde der Google-Fotograf mit einer Digitalkamera in der Sauna hocken und rumknipsen, würde wohl auch der eine oder andere protestieren”, meint Winterbauer. Der Konter sitzt nicht. Wenn ich in eine öffentliche Sauna gehe, weiß ich in der Regel nicht, welche Leute da mit mir herumsitzen. Trotzdem ist es gar kein Thema, mich meiner Kleider zu entledigen und sich unter das Nacktvolk zu mischen, sich mit anderen zu unterhalten und vielleicht sogar persönliche Infos preiszugeben. Den gleichen Effekt habe ich über den Tante Emma-Laden beschrieben.
Jetzt aber zum zentralen Vorstoß von Winterbauer. Das große Thema, das Jarvis in seinem Buch “What would Google do?” abhandelt, ist die Link-Ökonomie. “Eine Art Web-Variation von Georg Francks berüchtigter (wieso berüchtigt, das ist ein intellektuell anspruchsvolles Buch, bei Hanser erschienen, keine einfache Kost. Hat Winterbauer dieses Opus überhaupt gelesen?) ‘Ökonomie der Aufmerksamkeit’. Die besagt ganz grob, dass Aufmerksamkeit heutzutage eine Währung darstellt. Laut Jarvis wird diese Aufmerksamkeit durch Links erzeugt. Die Medienhäuser sollten sich also darauf konzentrieren, viele Links auf ihre möglichst spezialisierten und einmaligen Inhalte zu bekommen. Und, so die finale Schlussfolgerung, um viele Links, also viel Aufmerksamkeit, zu bekommen, muss alles natürlich frei verfügbar sein. Theoretisch ist das ein in sich schlüssiges Gedankengebäude. Solange man sich nicht in die wirkliche Welt hinauswagt. Wer von Jarvis wissen will, wie er denn die vielen Leute, die Gebäude, die Dienstleister, die ganze Infrastruktur mit der Link-Ökonomie bezahlen soll, der erhält zur Antwort, man müsse ‘Wege finden’, die Aufmerksamkeit zu monetarisieren. Immer wenn’s ans Eingemachte geht, verdrückt sich Jarvis ins Ungefähre und eilt zum nächsten Vortrag”, kritisiert Winterbauer, der wohl etwas neidisch ist, dass Jarvis zur Zeit eine so hohe Aufmerksamkeit genießt und sie auch monetarisieren kann. In einem Vortrag zu erwarten, dass Jarvis nun neue Geschäftsmodelle für unterschiedliche Wirtschaftsbranchen auszubreiten, ist doch recht idiotisch. Wer das Buch von Jarvis rezipiert hat, weiß, dass dieser Vorwurf nicht zutrifft. Dort findet man für unterschiedlichste Branchen detailliert Vorschläge, wie man die Google-Philosophie umsetzen und auch Geld verdienen kann. Vom Google-Mobil bis zum Google-Krankenhaus. Siehe auch: Google-Mobil: Mitmachautos und Hersteller als Mobilitätsprovider.
Auch auf seinem Blog Buzzmachine verdrückt er sich nicht ins Ungefähre, sondern bewegt sich sehr wohl in der realen Wirtschaftswelt. Selbst seine googligen Produktempfehlungen sind immer wieder sehr amüsant gemacht und haben bei mir direkt einen Kaufanreiz ausgelöst.
Jarvis ist ein sympathischer, pointenreicher und witziger Rhetor, der auf Kongressen wie der re:publica sein Publikum unterhalten will. Mehr kann man von Vorträgen doch nicht erwarten. In der Regel tummeln sich auf solchen Veranstaltungen Graue Mäuse, die mit ihren Powerpoint-Orgien nur Schnarcheinlagen bringen.