
Kurz vor Weihnachten muss ich ein Bekenntnis ablegen – ähnlich wie Nico Lumma. Es ist einfach nicht mehr zu ertragen, wie wir im Netzzeitalter kommunizieren. Ständig bilden wir Stereotypen, ständig nehmen wir radikale Vereinfachungen vor, ständig neigen wir zu rigorosen Bewertungen, was gut und was böse ist.
Die Netzwelt ist zu groß, zu weit, zu komplex, um als Ganzes verstanden zu werden. Die Wirklichkeit geht an uns vorbei. Wir basteln uns „Pseudowelten“. Originalwahrnehmungen, die ein Mensch eigentlich machen kann, sind in den Plastikwelten von Twitter und Co. einfach nicht mehr möglich. Ein Dasein aus zweiter Hand. Die Welt, mit der wir es in politischer Hinsicht zu tun haben, liegt außer Reichweite, außer Sicht, außerhalb unseres Geistes.
Aber Halt, bevor mein Jammer jetzt ausufert, muss ich noch ein Bekenntnis abgeben. Was ich gerade geschrieben habe, stammt gar nicht aus meiner Feder. Ich habe es aus dem Werk „Public Opinion“ von Walter Lippmann geklaut. Seine Forschungsarbeit ist 1922 erschienen und bezieht sich natürlich nicht auf die Filterblase im Netz, was für eine überraschende Erkenntnis, sondern auf die Gatekeeper-Funktion der klassischen Medien.
„Jede Zeitung, wenn sie den Leser erreicht, ist das Ergebnis einer ganzen Serie von Selektionen“, so der Medienkritiker Lippmann.
Die Umstände zwingen dazu, ein scharfer Mangel an Zeit und Aufmerksamkeit. Und was lassen die Journalisten als „news values“ passieren? Den klaren Sachverhalt, der sich widerspruchsfrei mitteilen lässt, Superlative, Konflikte, Überraschungen, Krisen. Die Auswahlkriterien der gatekeeper erzeugen bewusst oder unbewusst eine Vereinheitlichung der Berichterstattung. Indem so die Auswahlregeln weitgehend übereinstimmen, kommt eine Konsonanz zustande, die auf das Publikum wie eine Bestätigung wirkt.
Für die Beeinflussung der öffentlichen Meinung über Nachrichtenselektion reichen Bild, BamS und Glotze nicht mehr aus. So funktionierten noch die Leitplanken von Altkanzler Gerhard Schröder. Die Willensbildung ist durch das Internet schwieriger und unübersichtlicher geworden.
„Wir erleben ein Ende der Leitmedien“, so der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen im Interview mit WDR 2.
Ein Medium wie Bild könne einen Politiker wie Guttenberg in einer linearen Weise nicht mehr durchsetzen oder halten. Die massive Positivkampagne des größten Boulevardblattes für den baronesken Welterlöser war nicht von Erfolg gekrönt, da man die sich selbst organisierende Web-Öffentlichkeit nicht mehr unter Kontrolle bringt.
„Die Schwarmintelligenz im Netz benötigte gut zwei Tage, um Guttenbergs Dissertation bis auf die Knochen abzunagen. Wie Piranhas“, schreibt Volker Zastrow in einem opulenten und höchst lesenswerten Beitrag für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung.
Die blitzschnelle Recherche des GuttenPlag Wikis habe auch die Qualitätsmedien des Landes beeindruckt, sie mit Material und der nötigen Entschiedenheit versorgt, meint Pörksen. Und nicht zuletzt die Wissenschaftscommunity auf die Barrikaden gebracht.
Vox populi bekommt ganz andere Entfaltungsmöglichkeiten.
„Das Internet ändert die Strukturen unserer Öffentlichkeiten, es ändert die Funktionsweisen politischer und gesellschaftlicher Kommunikationsprozesse, es macht es einzelnen einfacher, sich in politische Debatten einzumischen, es macht institutionelle Grenzen durchlässiger und Entscheidungsprozesse transparenter, es ist anders als Massenmedien interaktiv und wird so auch genutzt. Das Internet hat das technische Potenzial für eine demokratische, partizipatorische Mediennutzung“, schreibt Stefan Münker in seinem Buch „Emergenz digitaler Öffentlichkeiten“ und verweist auf Jürgen Habermas, der fest davon überzeugt ist, dass das World Wide Web die Schwächen des anonymen und asymmetrischen Charakters der Massenmedien ausgleiche.
Für Michel Foucault waren die Ausschlussmechanismen der Massenmedien nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Diese Spielregeln werden vom Web 2.0 ausgehebelt.
An der Uni Leipzig ist zu diesem Themenkomplex eine interessante Arbeit angefertigt worden. Grundthese: Die zunehmende Fragmentierung der Medienwelt und damit auch der Verlust der gemeinsamen Informationsbasis führen auch zu einem Verlust einer gemeinsamen öffentlichen Meinung. Ist das schlecht? Überhaupt nicht. Es erschwert das Geschäft der Meinungsmanipulatoren. Deshalb kann ich das Leiden von Nico Lumma an seiner Filterblase nicht nachvollziehen. Jeder hat heute wohl eine andere Filterblase, die sich aber nicht mehr massenmedial von Gatekeepern steuern lässt.
Ohne Auswahlkriterien funktioniert die Nachrichtenwahrnehmung auch heute nicht – sonst würde ich wohl im Wahnsinn enden. Meine News-Aggregatoren – etwa via Flipboard – bereichern jeden Tag meine Themenrecherchen. Über die App-Economy, über Künstliche Intelligenz, Netzpolitik, Literatur, Tech-Trends, Debatten, Studien, Filme, Musik, Soziologie, Philosophie, Sport oder Konferenzen. Meine Filterblase ist noch nicht kaputt.