Kurz vor dem iPad-Verkaufsstart in Deutschland steigt in der öffentlichen Diskussion wohl das Fieberthermometer. So setzt sich der Medienwissenschaftler Gundolf S. Freyermuth in einem lesenswerten Beitrag mit der iPadologie II auseinander – dem Abschied von der analogen Hardware Es ist wohl ein Streit der digitalen Daniel Düsentrieb-Szene mit den Apple-Enthusiasten, die sich ausschließlich an der Nutzerfreundlichkeit und dem Design ergötzen. So kritisierte Cory Doctorow die vollständige Geschlossenheit des iPads – das Fehlen jeglicher Möglichkeiten, die Funktionalität des Geräts selbständig zu ergänzen oder auch nur Peripheriegeräte anzuschließen – als Entmündigung und Infantilisierung der Nutzer. Ähnlich argumentiert auch „Klaus“ in seinem Kommentar zum ersten Teil der iPadologie von Freyermuth: „Was mich an Computern fasziniert hat, war immer … auch die Möglichkeit, an ihnen zu schrauben, sie umzubauen, sie zu tunen und aufzurüsten. … Auch Spielekonsolen als geschlossene Systeme haben mich nie interessiert, obwohl sie für Spiele manchmal besser geeignet sind, als PCs. Das iPad fällt für mich in die selbe Kategorie …“
Doctorows Vorwurf begegnete Joel Johnson vehement: „Computer werden zu normalen Haushaltsgeräten. Was ist daran so schlecht?“, fragte er in einem Beitrag für das Technologie-Blog Gizmodo: „Ich bin froh, dass ich nicht mehr in den ‚fucking 70s’ lebe und Computerprogramme aus Zeitschriften abtippen muss. Nichts am iPad deutet auf das Ende von Innovation, Bastelei, Programmieren, Design. Wenn das so wäre, gäbe es nicht in diesem Augenblick im App-Store 150.000 Apps. Was macht das schon, dass du keine iPad-Programme auf einem iPad herstellen kannst? Ich beschwere mich ja auch nicht darüber, dass ich mit meinem Geschirrspüler keine neuen Geschirrspüler herstellen kann.“
„In dieselbe Richtung gingen die Überlegungen des Programmierers und Bloggers Daniel Tenner. Auch er verstand das iPad als Indiz dafür, dass Computer eine gewisse technische Reife erlangt haben und sie sich nun wie normale Haushaltselektronik ohne technisches Verständnis oder gar ständige Wartung durch ihre Besitzer nutzen lassen“, schreibt Freyermuth. Die Mutter von Tenner benötige eine Möglichkeit, die Preise von Flugtickets rauszukriegen, den Wetterbericht zu lesen, auf Facebook zu gehen, Kinokarten zu kaufen, ihre E-Mail zu checken, ihn über Skype anzurufen und für Tausend andere kleine Dinge, die nicht sehr schwierig und fordernd sind, weder für sie noch für das Gerät, das sie benutzt.
Joel Johnsons Vorwurf gegen digitale Veteranen und Vordenker wie Cory Doctorow ging allerdings einen entscheidenden Schritt weiter. Er interpretierte die heftigen negativen Reaktionen auf das iPad als Teil eines Machtkampfs: „Die alte Garde packt DIE ANGST. Sie sehen das iPad und die Begeisterung, die es geweckt hat, und sie realisieren, dass sie selbst unwichtig – oder zumindest unsichtbar – geworden sind. Sie realisieren, dass es möglich geworden ist, einen Computer herzustellen, der nicht ständig kaputt geht, der nicht plötzlich aufhört zu funktionieren, der nicht mehr ständiges Herumbasteln erfordert.“
„In der Tat erinnert auch mich – als Computer-Veteran – manches an den Vorwürfen, die in den vergangenen Wochen gegen die Simplizität des iPads vorgebracht wurden, an die heftigen emotionalen Widerstände, die Mitte der achtziger Jahre die ersten Macintosh-Computer (und später auch die ersten Windows-Rechner) mit einfachem GUI-Interface und simpler Maussteuerung weckten – vor allem bei DOS-Virtuosen, die ihre mühsam erworbenen Kursor- und Kommandozeilen-Kompetenzen und damit ihren exklusiven Hardcore-Guru-Status auf einen Schlag entwertet sahen“, führt der Medienprofessor aus.
Vergessen darf man auch nicht den Wiederaufstieg von Apple nach der Rückkehr von Steve Jobs. Der Apple-Chef hatte sehr schnell realisiert, wer seine letzten treuen Kunden waren: die Kreativen, die Microsoft-Resistenten und die PC-Hasser. Auf dieser Basis gründete Jobs die Rettung seines Konzerns. Das ist vielleicht auch der Grund für das Zerwürfnis mit dem Apple-Mitgründer Steve Wozniak, wie ich es in einem Artikel für die absatzwirtschaft März 2010 beleuchtet habe. Woz ist zwar ein begnadeter Mathematiker und zählt zu den legendärsten Computeringenieuren aller Zeiten. So stilisiert sich zumindest der frühere Weggefährte von Steve Jobs und Erfinder des Apple I in seiner eigenen Biografie. Was Woz nicht ist: ein Marketinggenie. Das wollte er nie sein und äußert sich dementsprechend enttäuscht, dass sein alter Kumpel Jobs nicht den Ingenieur in den Mittelpunkt des Unternehmens stellte. Vielleicht ist das auch der Grund, warum deutsche Unternehmen nicht in der Lage sind, die Früchte ihrer Entwicklungen erfolgreich zu vermarkten. Das Land der Dichter, Entwickler und Tüftler stößt zwar vieles an, holt aber nicht heraus, was möglich wäre, kritisiert Wirtschaftswoche-Korrespondent Matthias Hohensee in seiner Kolumne Valley Talk. Er sieht den Grund in der mangelhaften Ausstattung von Gründern mit Wagniskapital. Das mit einer halben Million Dollar gestartete soziale Netzwerk Facebook hätte in Deutschland dieses Anschubkapital wohl niemals bekommen. Ich halte allerdings die reine technikgetriebene Politik vieler Firmen für die Hauptursache der Innovationsmisere in unserem Land.
Von Anfang an war Apple als Marketingunternehmen konzipiert: „Das Produkt wird sich mit anderen Worten danach richten, welche Wünsche und Anforderungen die Marketingabteilung bei den Kunden finden wird. Das ist das genaue Gegenteil von einem Ort, wo Ingenieure einfach das konstruieren, was ihnen Spaß macht, und das Marketing anschließend Wege findet, um das Produkt zu vermarkten“, sagt Wozniak. Genau das sei der Grund, warum „Woz“ nur noch über alte Zeiten sinniert und Steve Jobs zu den erfolgreichsten IT-Unternehmern der Welt zählt, meint Peter B. Zaboji, Chairman des Frankfurter After-Sales-Spezialisten Bitronic: „Obsessionen für technische Perfektion sind ja schön und gut. Am Ende des Tages ist der Markterfolg entscheidend und nicht die Selbstverliebtheit von Ingenieuren. In vielen IT-Unternehmen sind Marketing, Management und Führung immer noch viel zu herstellerorientiert.“
Eine nicht unwichtige Sollbruchstelle in der Produktpolitik von Apple sieht allerdings der Designtheorie-Professor Friedrich von Borries. Auf seinen Distributionsplattformen übe Apple mittlerweile Zensur über die Inhalte aus. „Weil Steve Jobs keine sexuellen Anzüglichkeiten duldet, müssen Boulevardzeitungen für ihre iPhone-Anwendung die Brustwarzen ihrer Pin-Ups wegretuschieren. Aber die Zensur bezieht sich auch auf politische Inhalte. Dem Pulitzer-Preisträger Mark Fiore, so ein publik gewordener Eingriff in die Meinungsfreiheit, wurde die Veröffentlichung seiner Karikaturen als Apps für das iPhone verboten. Und so wirkt Apple’s derzeitige Produktpolitik wie die Fortsetzung der Bush-Ära mit multimedialen Mitteln“, moniert von Borries.
Nachtrag: Das letztere Problem wurde auch auf der Hacker-Konferenz in Köln diskutiert. Blogger Michael Seemann hat das angesprochen. Die zunehmende Verbreitung und steigende Macht von großen Anbietern wie Facebook, Google oder Apple lege eine neue Schicht über das Internet, so Seemann. Und diese sei nicht mehr anarchisch, sondern werde von einigen wenigen Entscheidungsträgern kontrolliert.
Beispiele dafür gibt es genug: der Apple-Konzern, der nur Programme zulässt, die den eigenen moralischen Kriterien nicht widersprechen; die Suchmaschine Google, die entscheidet, welche der gefundenen Inhalte sie zeigt und welche nicht; das Netzwerk Facebook, das Nutzer fast zwingt, Informationen öffentlich zu machen.
Doch ist das Freiheit, wenn einige wenige Unternehmen festlegen, was im Internet verfügbar ist und was nicht? Seemann fordert, dass der Staat regulierend eingreift, um die Freiheit zu retten – in vollem Wissen, wie paradox diese Forderung klingt. So paradox ist die Forderung doch gar nicht. Bei der Liberalisierung des TK-Marktes gab es doch auch eine Regulierung zur Deregulierung. Und wenn Apple und Co. zu Zensoren mutieren, ist das ein Fall für das Bundesverfassungsgericht. Schließlich geht es um Grundrechte.