Goethe, Weltpoesie und internationale Diskurse: Über die Wiederbelebung der Salonkultur #StreamingEgos @meta_blum

Vorbereitungen des Salon-Gespräches mit Sabria David
Vorbereitungen des Salon-Gespräches mit Sabria David

Das Internet ändert die Strukturen unserer Öffentlichkeiten, es ändert die Funktionsweisen politischer und gesellschaftlicher Kommunikationsprozesse, es macht es einzelnen einfacher, sich in politische, kulturelle und gesellschaftliche Debatten einzumischen, es macht institutionelle Grenzen durchlässiger und Entscheidungsprozesse transparenter, es ist anders als Massenmedien interaktiv und wird so auch genutzt.

„Das Internet hat das technische Potenzial für eine demokratische, partizipatorische Mediennutzung”, frohlockt der Medienwissenschaftler Stefan Münker und verweist auf Jürgen Habermas, der fest davon überzeugt ist, dass das World Wide Web die Schwächen des anonymen und asymmetrischen Charakters der Massenmedien ausgleiche. Für Michel Foucault waren die Ausschlussmechanismen der Massenmedien nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Diese Spielregeln werden im Netz untergraben. In einem Pressegespräch des Zentrums für Kunst und Medientechnologie in Karlsruhe (ZKM) erläuterte die Kuratorin Margit Rosen, dass das 21. Jahrhundert ein Jahrhundert des Gesprächs sei. Das 20. Jahrhundert war ein Jahrhundert der Manifeste. Was wir jetzt erleben, sei eine Abweichung von geschlossenen Medienformaten. Schon in den 1980er Jahren experimentierten Kurd Alsleben und Antje Eske vernetzten Dialogen über HyperCards. Essentiell sei dabei die kulturelle Tiefe der Konversationen. Alsleben und Eske wollen die künstlerischen Qualitäten von digitalen Plattformen und die politische Dimension des Social Web abtesten. Basta-Entscheidungen und das reine Manifestieren von politischen Positionen würden nicht mehr funktionieren.

“Es geht immer mehr um das mühsame Aushandeln von Positionen und um die Frage ‘Wie wäre es denn schön’”, sagte Rosen.

Es gehe um die Überwindung von verfestigten und verkrusteten Strukturen. Für den ZKM-Vorstand Professor Peter Weibel gibt es einen Bogen von der Salon-Konversation, über die Aufklärung bis zum Chat-Room:

„Das Internet führt fort, was im Umkreis der Aufklärung begonnen wurde und man kann hoffen, dass es sich als eine erweiterte politische Macht etabliert.“

Die Dialogformen der sozialen Medien seien nichts anderes als die demokratisierte Form der Salonkonversation, die früher nur in elitären Kreisen geführt wurde – heute ist es ein Jedermann-Phänomen. Das Internet habe das Gespräch als politische Kraft zu einem Instrument der gemeinsamen Lebensgestaltung gemacht. Diese Dialoge müsse man als Philosophie des Sprechaktes sehen. „Hier werden Dinge mit Worten gemacht”, so Weibel bei der Vorstellung der Ausstellung „Konversationskunst”.

Die Salonkultur im 18. und 19. Jahrhundert war bekanntlich geprägt von der Periodizität des Zusammentreffens, von der Durchlässigkeit bei den Teilnehmern und von der Schaffung von Gegenöffentlichkeit zur höfischen Macht. Das Gespräch galt als wichtigstes Handlungsmoment und die Internationalität.

Letzteres soll in dem Beitrag des deutschen Länderzirkels zur StreamingEgos-Convention des Goethe-Instituts mit digitalen und analogen Mitteln wiederbelebt werden. Kuratorin des Projektes ist Sabria David, Leiterin des Slow Media Instituts in Bonn.

Im Gespräch mit dem Literaturwissenschaftler Dr. Peter Goßens geht Sabria David der Frage nach, wie der Dichterfürst Goethe den transnationalen Diskurs beförderte. Etwa mit seinem Grußwort an die Versammlung von Naturforschern und Ärzten im Jahre 1828. Goethe ging es darum , dass die gebildeten Menschen seiner Zeit miteinander darüber diskutieren, wie man altes Wissen in die neue Zeit rettet und ein neues gesellschaftliches Modell entwickelt:

„Wenn wir eine europäische, ja eine allgemeine Weltliteratur zu verkündigen gewagt haben, so heißt dieses nicht daß die verschiedenen Nationen von einander und ihren Erzeugnissen Kenntnis nehmen, denn in diesem Sinne existiert sie schon lange, setzt sich fort und erneuert sich mehr oder weniger; nein! hier ist vielmehr davon die Rede, daß die lebendigen und strebenden Literatoren einander kennen lernen und durch Neigung und Gemeinsinn sich veranlaßt finden gesellschaftlich zu wirken.“

Die europäischen Beiträge des StreamingEgos-Projekte werden am 16. Januar in Düsseldorf vorgestellt und von mir live übertragen.

Einen Ausblick auf die Convention des Goethe-Insituts gibt Sabria David im ichsagmal.com-Bibliotheksgespräch.

Hashtag zum Mitdiskutieren über Twitter #StreamingEgos oder über den Frage-Button der Google Plus-Eventseite.

Goethe-Salon-Blog verdient eine Nominierung für den Goldenen Blogger des Jahres.

Teuflischer Pakt: Machteliten und Maschinen #NEO15 Session

Machteliten-Hacking

Im Internet der Dinge infiltriert Software heute jede fast jede Maschine:

„Das Universum kommunizierender Objekte expandiert weiter. Und damit werden unehrliche Menschen und korrupte Organisationen mehr denn je versucht sein, ihre Produkte nach eigenen Wünschen zu impfen. Nennen wir das einfach mal ‘Lügen zweiter Ordnung’. Und Benutzer können das nicht mehr erkennen. Denn leider wächst den Maschinen keine lange Nase. So wird Wahrheit oder Lüge plötzlich ein Schlüsselfaktor in der Mensch-Maschine-Interaktion. Und es taucht schlagartig die Frage auf, ob und wie man Maschinen ethisches Verhalten beibringen könnte. Ein sehr verzwicktes Problem. Und es führt zu Verwicklungen, für die wir heute noch nicht mal Denkfiguren haben. Es wird Zeit, die zu entdecken”, so Brightone-Analyst Stefan Holtel im Gespräch mit dem Soziopod-Blogger Patrick Breitenbach auf der Next Economy Open in Bonn.

Wenn Konzerne wie Psychopathen agieren

Beim VW-Skandal ist dieser Teufelspakt zwischen lügenden Maschinen und Maschinisten im Brennglas zu beobachten. Beim Wolfsburger Autogiganten ist es eine Kombination von autoritären Kommandostrukturen, Erfolgsdruck und Hörigkeit. Nur so können teuflische Effekte entstehen, die kaum noch unter Kontrolle zu bringen sind. Mit gesundem Menschenverstand könne man das Verhalten der VW-Topmanager nicht begründen, so Holtel. Bei VW handelt man total irrational, da es höchst naiv sei, bei Manipulationen in Millionen Fahrzeugen nicht mit der Aufdeckung zu rechnen. Jetzt ist der Schaden maximal.

Die Ursachen für den Diesel-Gate basieren auf den Organisationsstrukturen, die sich in fast allen Weltkonzernen finden lassen: Geschlossene und egozentrische Einheiten agieren wie ein Psychopath: Unberechenbar, unkontrolliert und beziehungsunfähig. Das Fundament sind autokratische Top-Manager, die mit emotionalen Ausbrüchen ihre Belegschaft zu Ja-Sagern degradieren. Ein Konzern sei nichts anderes als ein Psychopath, bemerkt Holtel in dem Fachgespräch im Rheinischen Landesmuseum. Diese Erkenntnis hilft vor allem dem gemobbten Mitarbeiter weiter, weil er Abstand finden kann zwischen sich und der Konzernstruktur.

„Mit Psychopathen zu interagieren ist schwierig. Man kann keine Vertrauensbasis aufbauen, man weiß nie, was im nächsten Augenblick passiert“, sagt der Brightone-Spezialist für Künstliche Intelligenz.

Mythos der Unfehlbarkeit: Maschinen als symbolisches Kapital

Für die Überlebensstrategie innerhalb des Konzerns mag diese Erkenntnis hilfreich sein, auch wenn eine Portion Fatalismus dabei herausspringt oder die innere Kündigung. In den Machtbeziehungen zur Außenwelt ist diese Konstellation äußerst problematisch. Patrick Breitenbach warnte vor einer Akkumulation von Macht, die von psychopathischen Organisationen ausgeht. Konzerne akkumulieren nicht nur ökonomisches Kapital, sondern soziales Kapital über Beziehungen, Netzwerke und Eliten, kulturelles Kapital über Informationsvorsprünge und symbolisches Kapitel über Expertentum und Maschinen. Gefährlich sei vor allem die Anhäufung von symbolischem Kapital über Maschinen, die wir für wahrhaftig und präzise halten.

Wir schreiben den Maschinen Fähigkeiten wie Rationalität und Unfehlbarkeit zu.

„Das speist sich unseren täglichen Erfahrungen. Niemand rechnet Excel-Tabellen. 2007 gab es im Intel-Prozessor einen Hardware-Fehler, der dazu führte, dass Excel falsch rechnete. Es gibt diese systemischen Fehler sehr häufig, aber Menschen sind kaum in der Lage, diese Risiken einzuschätzen“, erklärt Holtel.

Mit den Fähigkeiten von kognitiven Maschinen wie IBM Watson sei es für Menschen schwer, auf Augenhöhe zu interagieren. Das wertet der Brightons-Analyst als Bedrohung. IBM und Co. verkaufen uns das mit Narrativen der Weltverbesserung und stellen sich kaum den kritischen Fragen. Sie wollen neue Märkte erobern und damit Milliarden machen. Aus wirtschaftlichen Gründen sei das nachvollziehbar, aus politischer, gesellschaftlicher und psychologischer Sicht ist das hoch brisant.

Warum wir IBM-Watson und Co. dekonstruieren müssen

„Wir werden von Systemen ummantelt, die immer mehr Fähigkeiten haben, von denen wir nicht mehr wissen, was sie mit uns tun. Digitale Assistenten, wie die Spracherkennungs-Software Siri sind erst der stümperhafte Anfang von dem, was noch kommen wird“, warnt Holtel.

So werde IBM-Watson in einer verbesserten Version in sieben oder acht Jahren auf unseren Smartphones passen und uns durchs Leben dirigieren. Wir haben dem nichts entgegenzusetzen, weil uns schlichtweg die Fähigkeiten in Schulen und Hochschulen nicht vermittelt werden, um Big Data-Anwendungen und diskriminierende Algorithmen, die beispielsweise unsere Kreditwürdigkeit herunterstufen oder Prämien für Krankenversicherungen hoch stufen, forensisch unter die Lupe zu nehmen. Die Politik müsste ein Checks-and-Balance-Regelwerk schaffen, um zwischen Mensch und Maschine einen Machtausgleich herzustellen und den Machteliten einen Missbrauch der Maschinen-Intelligenz zu erschweren, fordert Breitenbach.

Wir sollten zudem die Übertreibungen von Extremisten der Künstlichen Intelligenz im öffentlichen Diskurs dekonstruieren. Mit der Verteufelung von Technik kommt man dabei nicht weit. Was denkbar ist, wird umgesetzt. Und Macht ist eine Konstante in unserem Leben. Wer das ignoriert, dem wird es schwerfallen, eine Rezeptur im politischen Diskurs hervorzuzaubern. Gefragt seien vor allem Gegen-Narrative zur Entlarvung der wahren Absichten der manipulativen Maschinisten.

Der entmündigte Bürger

Es sei völlig inakzeptabel, diese Technologien zum Entmündigen des Bürgers zu nutzen, proklamieren die Digital Manifest-Autoren in einem Beitrag für Spektrum Wissenschaft.

„Big Nudging und Citizen Scores missbrauchen zentral gesammelte persönliche Daten für eine Verhaltenskontrolle, die totalitäre Züge trägt. Dies ist nicht nur unvereinbar mit Menschenrechten und demokratischen Prinzipien, sondern auch ungeeignet, eine moderne, innovative Gesellschaft zu managen. Um die eigentlichen Probleme zu lösen, sind vielmehr bessere Informationen und Risikokompetenz gefragt.“

Für persönliche Daten, die über uns gesammelt werden, sollte es ein Recht auf Kopie geben, liebwerteste Gichtlinge von Schufa und Konsorten.

„Es sollte gesetzlich geregelt sein, dass diese Kopie in einem standardisierten Format automatisch an eine persönliche Datenmailbox gesandt wird, über die jeder Einzelne die Verwendung der Daten steuern kann. Für einen besseren Schutz der Privatsphäre und um Diskriminierung zu vermeiden, wäre eine unautorisierte Verwendung der Daten unter Strafe zu stellen. So könnte man selbst entscheiden, wer welche Informationen für welchen Zweck wie lange nutzen darf.“

Wenn der Bundesgerichtshof aber die Offenlegung dieser Daten und die undurchsichtigen Algorithmen als Geschäftsgeheimnis einstuft, wie beim Schufa-Urteil, wird es schwerfallen, auch nur annähernd für Klarheit zu sorgen, wenn Maschinen lügen, denunzieren und Existenzen ruinieren. Die juristischen Fakultäten sollten daher überlegen, Informatik und Big Data-Forensik als Pflichtfach einzuführen, damit solche Urteile bald der Vergangenheit angehören.

Wenn Müller nur Müllerchen rekrutiert – Die Seilschaften-Politik der Deutschland AG #NEO15 @th_sattelberger @breitenbach

Sattelberger-Keynote auf der #NEO15 „Wir haben es mit einer Verrohung von Führung zu tun.“
Sattelberger-Keynote auf der #NEO15 „Wir haben es mit einer Verrohung von Führung zu tun.“

Technologische Innovationen nutzen nach Auffassung von Lars Vollmer überhaupt nichts, wenn das Management veraltet ist. Aber genau da fangen die Probleme an. Im Kern dominieren auf den deutschen Chefetagen immer noch paternalistische SOZIAL-Technologien auf dem Kenntnisstand des letzten und mit einem Menschenbild des vorletzten Jahrhunderts.

Management-Denken 1.0 ist für diesen Zustand eher die harmlose Beschreibung der Gemengelage der Deutschland AG. Man braucht sich nur die Keynote von Thomas Sattelberger auf der Next Economy Open in Bonn anzuschauen.

Als ehemaliger Personalvorstand in Unternehmen wie Daimler, Continental, Lufthansa und Telekom plauderte er im Rheinischen Landesmuseum aus dem Nähkästchen. 50 Prozent der DAX-Konzerne stecken in einer akuten Krise oder sind an die Grenzen ihres Geschäftsmodells gelangt. Aus der blühenden Bankenlandschaft ist eine am staatlichen Tropf hängende Commerzbank und eine um ihre globale Wirkung ringende Deutsche Bank geworden. Bei den ehemaligen Energie-Giganten E.ON und RWE werde an der Börse schon der Exitus durch spekuliert. Viele große Spieler stehen mit dem Rücken zur Wand und sind unfähig, sich zu transformieren.

https://twitter.com/Isarmatrose/status/663670336047706112?ref_src=twsrc%5Etfw

Wie soll das in einem Inzucht-System auch gelingen, wenn Müller nur Müllerchen rekrutiert. Seilschaften sichern sich ihre Karrieren in den obersten Chefetagen ab. Die Denkschulen für Manager und Ingenieure sind auf Berechenbarkeit und Planungsillusionen aufgebaut. Sie scheuen Experimente und blockieren Investitionen in ungewohnte Territorien, die zu schlechteren Quartalszahlen führen könnten. Es geht um Effizienz sowie um die Bewahrung von Margen und nicht um neue Geschäftsmodelle.

Reaktionäre Denkmodelle und Altherren-Dünkel

Zu beobachten am maroden Telekom-Konzern, der sich als Avantgarde der Besitzstandswahrer jetzt sogar die Startup-Szene zur Brust nehmen will. Wer keinen Vorfahrtschein für den bevorzugten Datentransport im Internet einlöst, muss halt Geschäftsanteile an den ehemaligen Monopolisten abdrücken. Die Digitale Transformation zelebriert der Magenta-Laden nicht mit attraktiven Datendiensten, sondern mit einem dümmlichen politischen Lobbyismus.

Die reaktionären Denkmodelle aus der Zeit der Massenproduktion, in denen man ausgebildet und sozialisiert wurde, stellt man nur ungern auf den Kopf. Höttges, Zetsche & Co. wird es allerdings nicht gelingen, mit diesem Altherren-Dünkel über die Runden zu kommen.

„Bei den DAX-Konzernen gibt es 29 Absteiger seit 1988, von denen 24 dauerhaft verschwunden sind. Der Lebenszyklus der deutschen Konzerne wird immer kürzer. Nur vier Prozent der DAX-Vorstände verfügt über unternehmerische Erfahrung. Da hilft dann auch der Silicon Valley-Tourismus nichts. Da kommt man hin, macht große Augen, kommt zurück, fällt in die alte Max Werberscher Bürokratie hinein und repetiert die alten Routinen“, moniert Sattelberger.

Alter Mittelstand

Im Mittelstand sieht es nicht viel besser aus. Nur sechs Prozent der sogenannten Hidden Champions wurden nach 1964 gegründet. 94 Prozent der Top-Mittelstandsfirmen sind älter als 50 Jahre. Konsequenz: Die Investitionsbereitschaft von Inhabern sinkt mit zunehmendem Alter rasant. Von den Unternehmern über 60 Jahren investiert laut einer KfW-Analyse nur noch rund jeder Dritte. Die anderen ziehen sich aus der Weiterentwicklung ihres Unternehmens zurück. Das gefährdet den künftigen Geschäftserfolg, bremst die Modernisierung und reduziert das gesamtwirtschaftliche Wachstum. Sinkt die Wettbewerbsfähigkeit, sind häufig auch Arbeitsplätze gefährdet.

https://twitter.com/Isarmatrose/status/663668221745242112?ref_src=twsrc%5Etfw

Verschärft wird der Status quo durch die miserable Reproduktionsquote von neuen und frischen Unternehmen jenseits von Nagelstudios und Shops zur Haarverlängerung. In Europa sind wir bei den Firmenneugründungen fast das Schlusslicht. Nur Frankreich schneidet schlechter ab. Und nur acht Prozent der deutschen Startups hat mit Mathematik, Naturwissenschaften oder Technik zu tun.

Sattelberger wünscht sich den Tod der Personalfunktion

Was wir in Konzernen und im industriellen Mittelstand erleben, sind häufig reine Abwehrschlachten.

„Der VW-Skandal ist geprägt von einem Endkampf des innovationsärmsten Automobil-Unternehmens um den Verbrennungsmotor“, sagt Sattelberger.

Die Dieselgate-Machenschaften seien beispielhaft für die Führungskultur in Konzernen und patriarchalisch geprägten Mittelständlern:

„Filz wie bei der Fifa oder der Kommunistischen Partei. Zuvor waren es Siemens, ThyssenKrupp, Deutsche Bahn, Telekom, Münchner Rück/Ergo, Deutsche Bank, Infineon und Daimler. Das hat etwas mit den systemstabilisierenden Mechanismen geschlossener und einfältiger Organisationen zu tun, mit tradierten Machtkernen Wirtschaft, Politik und Gesellschaft. Es hat leider auch etwas mit der Erfüllungsgehilfen-Politik des Personalmanagements zu tun“, erklärt Sattelberger, der sich als ehemaliger Personalvorstand in DAX-Konzernen den Tod oder das Ende der klassischen Personalfunktionen wünscht.

Nur so sei eine Revitalisierung der Wirtschaft möglich. Die noch nicht im Sozialprodukt messbare Schieflage vieler Firmen hängt auch mit der mangelhaften Koalitionsfähigkeit der Veränderer zusammen. Die Graswurzelbewegungen, die von außen Druck ausüben könnten, schottet sich in Silos ab. Sattelberger fordert deshalb eine Große Koalition von digitaler APO und Offline-Rebellen, um die geschlossenen Systeme zu knacken, die sich nur über Beförderungs- und Rekrutierungsmechanismen über Wasser hält.

Popper war ein Hacker der politischen Elite

Distanziert äußerte sich Sattelberger in Bonn über die Forderungen nach Leadership oder charismatischer Führung. Leider sei jetzt schon der kooperative Führungsstil auf dem Rückzug. Bevorzugt werde die autoritäre Seite, die zum Duckmäusertum wie bei VW beiträgt:

„Wir haben es mit einer Verrohung von Führung zu tun.“

Es sei ja wunderbar, wenn Arbeitsministerin Andreas Nahles schon von Arbeiten 4.0 spricht. Wir müssten aber erst einmal Reparaturen im alten Betriebssystem vornehmen. Menschen werden im Arbeitsleben leider immer noch wie Objekte behandelt wie in Zeiten der Dampfmaschine. Gefordert ist jetzt Diversität, um geschlossene Systeme aufzubrechen.

In einer Session der NEO15 plädierte Soziopod-Blogger Patrick Breitenbach im Streitgespräch mit dem Brightone-Analysten Stefan Holtel gar für ein Machteliten-Hacking. Man müsse Gegen-Narrative in die Organisation bringen. Die alten Eliten sind von einer Blase der Ja-Sager umgeben. Wie wäre es mit einer subversiven Injektion für kritisches Denken? Der Philosoph Karl Popper hatte eine sehr intensive Beziehung zum leider verstorbenen Altkanzler Helmut Schmidt. Das habe den früheren Regierungschef in seinem politischen Denken sehr stark geprägt.

„Popper war indirekt ein Hacker der politischen Elite“, bemerkt Breitenbach.

Man brauche zudem starke Metaphern, um bei den Entscheidern der Machtelite etwas anzurichten, ergänzt Holtel.

Um Peer-to-Peer-Prinzipien von Formaten wie der Next Economy Open in wirtschaftliche oder politische Organisationen zu bringen, braucht man also nicht nur digitale Werkzeuge.

Zuerst erschienen in meiner Notiz-Amt-Kolumne bei den Netzpiloten.

Wie man innovationshemmende Firmen-Autokraten besiegt #NEO15 @th_sattelberger @olewin

Bühne frei für die #NEO15
Bühne frei für die #NEO15

Thomas Sattelberger, Keynote-Sprecher der Next Economy Open am 9. Und 10. November in Bonn, vergleicht den VW-Skandal mit den Machenschaften und dem Filz der Fifa und der KP. Man erlebe die Götterdämmerung des Verbrennungsmotors, man erlebe aber vor allem innovationsverhindernde Firmen-Autokratien. Vorher waren es Siemens, ThyssenKrupp, Bahn, Telekom, Münchner Rück/Ergo, Deutsche Bank, Infineon und Daimler. Es seien geschlossene und einfältige Systeme, die das Neue bekämpfen und diskreditieren.

Schiss-matische Entlarvung der Herrschenden

Eine Gemengelage, die auch den Renaissance-Schriftsteller und meinen Kolumnen-Namensgeber François Rabelais auf die Palme brachte. Seine Pöbelreden gegen die Herrschenden waren getrieben vom Geist der Erneuerung. Wenn er etwa in seinem Gargantua Pantagruel-Opus die Geistlichen und höheren Stände dem Gespött preisgibt, ihnen Fuchsschwänze und Hasenohren an den Rücken heftet oder das Messgewand des Paters mit Kutte und Hemd zusammennäht. Zog der Unglückliche sein Messgewand wieder aus, streifte er zugleich Kutte und Hemd über den Kopf und stand bis zu den Achseln splitternackt da, zeigte aller Welt seinen Zippidilderich:

„Ei was? Will uns denn der ehrwürdige Pater hier die Opferung und seinen Arsch zum Kuss bieten. Soll ihn das Sankt-Antons-Feuer küssen“, so die schiss-matischen Betrachtungen der oberen Klasse.

Von speckig abgesessenen Anzugshintern

Ähnlich ketzerisch operiert Sattelberger, wenn er auf Twitter postet: „Will Konzernsucht junger Menschen decouvrieren. Die meisten enden mit speckig abgesessenen Anzughintern in der Mitte.“ Oder: „IG Metall wäscht bei VW Hände in Unschuld. Doch Osterloh war Obereinpeitscher in USA. Agierte unverfroren als ‚Co-Manager’. Wir lieben Schutz.“ Und: „Leider persönliche Erfahrungen mit diesem Machtsystem: lässt einen nicht los! Da bin ich ‚Pain in the Neck’ bis ich Besserung sehe.“ Dann noch: „Thema Demokratie fräst sich in Bewusstsein vieler ‚abhängig Beschäftigter’, aber Unternehmen sehen nicht ihre Innovationschance.“

Musterbrecher und Social Labs

Um das Machtsystem der liebwertesten Gichtlinge der Deutschland AG aufzubrechen, bedarf es ein ganzes Sammelsurium an Aktionen, die Sattelberger in Bonn vorstellen wird: Etwa die Öffnung für Musterbrecher, Nein-Sager, Advocati Diaboli. Die Konfrontation mit Akteuren mit erkennbar anderer Handlungslogik. Neue Gruppendynamik durch Auflösung emotionaler Sperren und alter Machtdynamik. Neue Spielregeln und das Auswechseln der Spieler. „Dritte Orte“ schaffen wie exterritoriale Co-Working-Spaces, Ko-Lokationen als Arbeits-, Lern- & Koordinationsorte.

Man benötige das „Reinfräsen“ innovativer Kultur in die alte Arbeitskultur über Social Labs und über Experimentierfelder für „New Work“.

Der Dritte Weg

Die digitale Technik-Welt muss soziale Innovationen auslösen, die von einer Koalition der Veränderer vorangetrieben wird, fordert Sattelberger. Von den organisierten Interessenvertreter im Lager der Arbeitgeber und Gewerkschaften wird man da keine große Unterstützung bekommen, sagt Ole Wintermann von der Bertelsmann-Stiftung.

Es dominiert eher eine unheilige Allianz, etwa bei der Blockade von dezentralen Arbeitskonzepten. „Es findet ja auch eine Dezentralisierung und Atomisierung der Interessen statt jenseits der Tarifpartner“, erklärt Wintermann im Interview auf der IBM BusinessConnect in Köln.

Ausführlich nachzulesen in meiner Gichtlings-Kolumne für das Debattenmagazin The European.

@wolflotter „Ich recherchiere bunt, groß und breit“ – Arbeiten in der Ablenkungsgesellschaft #NEO15

Wolf Lotter von brandeins auf der IBM BusinessConnect in Köln
Wolf Lotter von brandeins auf der IBM BusinessConnect in Köln

Die Software-Industrie hat sich in den vergangenen Jahrzehnten einseitig den Prinzipien des Industriekapitalismus unterworfen und Unternehmen auf Effizienz getrimmt.

Das hat sich bis heute nicht wesentlich geändert, kritisiert Wolf Lotter in seinem Vortrag “Arbeiten in der Ablenkungsgesellschaft” auf der IBM Bussiness Connect in Köln.

“Wir kommen aus der Fabrikgesellschaft, aus der Industriegesellschaft und denken die Digitalisierung immer noch falsch. Wir organisieren uns in den Routinen der Industrialisierung.”

Seit den sechziger Jahren verliert die Massenproduktion, die nach den Regeln von Hamsterrad-Taktungen funktioniert, an Relevanz. Eine Antwort, wie wir in der postindustriellen Ära arbeiten werden, sucht das Notiz-Amt vergebens.

Die Industriegesellschaft würde, das stand für die meisten Vordenker dieser Zeit fest, durch die sogenannte Informationsgesellschaft abgelöst werden, die eine Art Übergangsregierung zur Wissensgesellschaft werden sollte, bemerkt Lotter.

“Die Informationsgesellschaft war also stets nur als Provisorium gedacht, an dem man lernen sollte, wie man mit der großen Komplexität umgeht, um sie dann, im nächsten Schritt, richtig und gewinnbringend für alle zu nutzen. Was dabei herauskommen sollte, die Wissensgesellschaft, würde viel smarter sein als die Welt der Industrie.”

Daraus wurde aber nichts. Man baut Computer, so wie man schon immer Maschinen baute. Sie verarbeiten Daten schneller und steigern die Komplexität der Anwendungen. Das sei der Knackpunkt: Die Einstellung zum Computer und zur Informatik.

“Man zwingt die Benutzer in einen Zustand kontinuierlicher Anpassung. Heute leiden die meisten unter der antiquierten Idee von Dateien und Verzeichnissen. Viele Benutzer finden die Information nicht wieder, die einmal digital abgelegt worden ist. Aber Paradigmen, die dieses Problem beheben könnten, konnten sich nicht durchsetzen”, moniert Brightone-Analyst Stefan Holtel, der dieses Thema in seiner Session auf der Next Economy Open bearbeitet.

Wir wandeln als Aktenknechte in Pfadabhängigkeiten. Die Informationsgesellschaft sei nach Auffassung von Lotter nicht das Verbindungsglied zwischen Industrie- und Wissensgesellschaft, sondern nur jener “Superindustrialismus”, den der Zukunftsforscher Alvin Toffler in den Siebzigerjahren vorhersah.

“Organisationen, Kultur und Gesellschaft bleiben dabei in den alten Bahnen des Fabrikzeitalters.” Es geht um die Routine-Dressur in den Maßstäben der Industriearbeit. Die Digitalisierung müsste uns aber die Zeit freischießen, um geistig arbeiten zu können. Das komme im öffentlichen Diskurs zu kurz, resümiert Lotter.

Eine Maschine darf nicht im Takt interner Regeln und im eigenen Tempo arbeiten – das macht den Anwender zum Befehlsempfänger. Sie müsste im Gleichklang mit den Denk- und Aktivitätsrhythmen eines Menschen ticken.

“Dann tritt der Wissensarbeiter in einen wertschöpfenden, kognitiven Dialog mit seiner Denkmaschine und es entsteht auf wundersame Weise eine Symbiose zwischen wissendem Mensch und Wissensmaschine”, erläutert Holtel.

Digitale Werkzeuge müssen sich den Gewohnheiten der Anwender anpassen. Wolf Lotter recherchiert seine brandeins-Prologe sehr bunt, sehr groß und sehr breit.

„Dann folgt die Ruhe und Konzentration aufs Schreiben. Während dieser Zeit mache ich nichts anderes. Das ist ein altmodischer Ansatz, der aber noch sehr modern wird.“

Wir müssen wohl wieder lernen, uns neu zu konzentrieren. Digitale Maschinen sollten das unterstützen.

Ausführlich nachzulesen in meiner Notiz-Amt-Kolumne für die Netzpiloten.

Live-Hangout über Daniel Kahneman und die Selbstüberschätzung von Managern #NEO15

Kahneman Session

Führungskräfte perfektionieren Methoden der Täuschung, sie bauen Fassaden, basteln an netten Fünfjahres-Verträgen mit horrenden Abfindungssummen, suchen Sündenböcke, wenn mal etwas schief geht, hauen andere in die Pfanne und erfinden für dieses Ego-Management nette Fantasie-Namen wie Reengineering, Shareholder Value-Management oder Scorecard-Leadership-Schnick-Schnack.

„Es beginnt das ‚Tower-Denken’ und die Burgmentalität. Die Leistungen des Ganzen werden dadurch nicht besser. Man wird wohl wieder vom verbliebenen Rest die Unterdurchschnittlichen entlassen müssen. Todesspirale“, schreibt Gunter Dueck in seinem Buch „Supramanie – Vom Pflichtmenschen zum Score-Man“.

Die Bilanzskandale in einigen großen amerikanischen Firmen waren dafür das erste Leuchtfeuer einer Entwicklung, die auch vor den Toren der „weltweit führenden“ Industrie-Riesen in Deutschland nicht halt macht.

Das „allein richtige“ System

Diese Systeme leben noch mit ihrer Taylorseele, erläutert Dueck. Gemeint ist Frederick Winslow Taylor (1856 bis 1915), der das „Scientific Management“ begründete, also der wissenschaftlichen Betriebsführung. Der Taylorismus oder das Taylorsystem studiert und plant die genauen Zeit- und Arbeitsverläufe. Es wird für Arbeiten eine „allein richtige“ Bewegungsfolge gefunden. Die Einhaltung dieser allein richtigen Bewegungsfolge wurde von sogenannten Funktionsmeistern ständig kontrolliert.

Dieses Wissen um die „allein richtigen Bewegungsabläufen“ erscheint in amtlich vorgeschriebener Ziegelstein-Form („allein richtig“) in Lehrplänen, Managementkursen, Standardlehrbüchern, e-Learning-CDs.

„Wissen wird in Ziegelsteine verwandelt, schön genormt. Das sind die sogenannten Lektionen, Lehreinheiten, Kursmodule. Daraus bauen die Wissensmitarbeiter Mauern für Systeme. Die Menschen müssen die vorgeformten Wissensbausteine schlucken. Sie lernen und pauken und speichern alles auf ihrer Festplatte, wo es abgerufen werden kann, um wirksam zu werden“, führt Dueck aus.

So denkt das Taylorhirn. In Wahrheit wird heute aber kein Wissen mehr fertig.

Aura der Unbesiegbarkeit als Fantasie-Produkt

Was die Taylorianer immer schon unterschätzt haben, sind die Faktoren Zufall und Glück, die der Wirtschaftsnobelpreisträger Daniel Kahneman so trefflich geschildert hat. Besonders von Top-Managern wie Winterkorn wird die Rolle von Können und Geschick maßlos überbewertet. Sie landen in der Falle der Maßlosigkeit und der Selbstüberschätzung. So wollten die Google-Gründer nach einem Jahr ihr Unternehmen für eine Million Dollar verkaufen, aber dem potenziellen Käufer war der Preis zu hoch und der Deal platzte. Weil jede folgende Entscheidung des Suchmaschinen-Giganten mehr oder weniger positiv ausging, deutet die Geschichte auf ein beinahe makelloses Vorauswissen hin – „aber Pech hätte jeden einzelnen der erfolgreichen Schritte zunichtemachen können“, bemerkt Kahneman.

Die Aura der Unbesiegbarkeit und des Heldentums im Management ist in Wahrheit ein Werk der Göttin Fortuna. In der Rückschau neigen wir zu Scheinkorrelationen, die sich bei eingehender Betrachtung als Hirngespinst herausstellen. Die meisten Vorstandschefs beeinflussen den Erfolg ihres Unternehmens nur minimal. Das interessiert aber die Konstrukteure von Geschichten über Sieger oder Verlierer nur minimal. Das gilt vor allem für den Wirtschaftsjournalismus. Man könne sich nur schwer vorstellen, dass sich Menschen in Flughafenbuchhandlungen anstellen würden, um ein Buch zu kaufen, das euphorisch die Methoden von Topmanagern beschreibt, deren Leistungen im Schnitt nur geringfügig über der Zufallsrate liegen, meint Kahneman. Die Öffentlichkeit lechzt nach eindeutigen Botschaften über die bestimmenden Faktoren von Erfolg und Misserfolg im Wirtschaftsleben, und sie brauchen Geschichten, die ihnen Sinnzusammenhänge vermitteln, auch wenn sie noch so trügerisch oder verlogen sind. Krampfhaft versuchen die „Siegertypen“ des politischen und wirtschaftlichen Systems, ihre Handlungen und Intentionen umzuschreiben. Da werden Ursachen den Wirkungen zugeordnet, obwohl es diesen Zusammenhang gar nicht gibt.

Höchste Zeit, dieses Regime der Selbstüberschätzung zu sabotieren und dem Rat von Harald Martenstein zu folgen:

„Je länger du nachdenkst, desto weniger Gewissheiten hast du, desto misstrauischer wirst du in Bezug auf dich selbst. Und eine Welt, in der alle an ihren Gewissheiten zweifeln, wäre tatsächlich eine bessere Welt.“

Nachzulesen in der von Gerhard Steidl so vorzüglich gestalteten Ausgabe des Zeit-Magazins mit dem Schwerpunkt Literatur. Eine Liebeserklärung an das bedruckte Papier – aber in einer Form und mit unterschiedlichen Duftnoten, die sich deutlich von den Gestern-Zeitungen unterscheiden.

Auf den Spuren des Nobelpreisträgers Daniel Kahneman mache ich morgen, also am Montag, den 19. Okotber, mit dem Biologen und Wissensarbeiter Erich Feldmeier einen furiosen Ritt durch die Geschichte beliebter und weit verbreiteter Entscheidungs-Irrtümer. Es geht um Zufall, Glück und die Selbstüberschätzung im Management, in der Politik und im täglichen Leben.

Eine Vorbereitungssession für die Next Economy Open am 9. und 10. November in Bonn.

Wir starten mit dem Live-Hangout um 14 Uhr. Würde mich freuen, wenn Ihr kräftig mit diskutiert. Entweder über den Frage-Button auf der Google+ Eventseite am Webplayer rechts oben oder über Twitter mit dem Hashtag #NEO15.

Vernetzte Welt ohne Kennzahlen-Wahn: absatzwirtschaft zur #NEO15

NEO-Werkstatt

In Zukunft werden vor allem solche Unternehmen erfolgreich sein, die neue Netze knüpfen und nationale Grenzen überschreiten. Die NEO15 versteht sich als Dialogplattform, die notwendige Qualifikationen thematisiert. Hab ich so der absatzwirtschaft gesagt:

Wenn sich die Digitalisierung vornehmlich in Reports und Kennzahlen zeigt, ist das Ausdruck der Hilflosigkeit einer durchorganisierten Gesellschaft in einer vernetzten Welt, meint Gunnar Sohn. Der Wirtschaftspublizist veranstaltet am 9. und 10. November die erste Next Economy Open (NEO). Dort treffen Entscheider und Praktiker aus Wirtschaft, Verbänden und Wissenschaft auf Macher und „Bessermacher“ der Netzszene – und diskutieren den vernetzten Individualismus

NEO_Programm erster Tag

Das Motto der ersten Next Economy Open lautet „Matchen, Moderieren und Managen“. Ziel ist es, das „Digitale“ und „Analoge“ zusammen zu bringen und in einem offenen Format lösungsorientiert über Herausforderungen und Chancen der vernetzten Wirtschaft zu sprechen.

Gerade Mittelständler seien stark von ihrer Leistung geprägt sowie von Innovationen und Patenten, erläutert Sohn weiter. Viele Unternehmen hätten Schwierigkeiten, das zu kommunizieren, was sie ausmacht. Digitale Projekte leben jedoch von Dialog und dem Austausch von Wissen. Entsprechend sieht das Programm der NEO15 Keynotes, Sessions und Workshops zu den Themen „Kundendialog“, „New Work“, „Digitales Unternehmen“ und „Growth Hacking“ vor. Etabliert werden soll der „Next Economy Dialog“ als nachhaltiges Format, so dass es ein ständiges Forum geben soll für Treffen, Expertendiskussionen, Studien und Gesprächsformate.

Impulse für ein neues Netzwerkdenken

Die Session von Patrick Breitenbach beispielsweise, er lehrt Internationales Medienmanagement an der Karlshochschule, thematisiert Markenführung im digitalen Zeitalter. Breitenbach nimmt den „anspruchsvollen und undankbaren Prosumenten“ in den Blick, der sich mit anderen Kunden über Produkte, Preise und Marken kritisch austauscht und zu allem Überfluss auch noch nervige Werbeanzeigen blockiert und langweilige Advertorials ignoriert. Dieser neue Konsument sei nicht mehr abhängig von dem Informationsstand eines überschaubaren Zirkels aus Marketingmanagern, PR-Leuten, Journalisten und sonstigen Medienmachern.

NEO_Programm zweiter Tag erster Teil

Der Marken- und Medienexperte wird erläutern, an welchen Stellen in Unternehmen ein radikales Umdenken in Richtung Netzwerkdenken dringend gefragt ist und an welchen Stellen man das zig1000jährige Rad aus Sicht der Markenführung nicht gleich komplett neu erfinden muss.

Eine Keynote gibt es auf der NEO15 außerdem vom Politik-Berater und ehemaligen Top-Manager Thomas Sattelberger. Er spricht über „Unternehmensbürger, digitale APO und Offline-Rebellen“, denn er beklagt, dass abhängig Beschäftigte auch heute nicht offen ihre Meinung äußern könnten.

NEO_Programm zweiter Tag zweiter Teil

Um eine Demokratisierung in Unternehmen zu erreichen, müsse im Grundgesetz das Recht eines mitarbeitenden Menschen auf Meinungsäußerung verankert werden. „Wir erleben geradezu eine Explosion an neuen Möglichkeiten der Beteiligung durch die Digitalisierung, da kann die Wirtschaftswelt nicht hinterherhinken“, sagt Sattelberger. Letztlich sei mehr Pluralismus und Unterschiedlichkeit in jeder Organisation gefragt, um auf das Konto der Wetterfestigkeit einzuzahlen. Der aktive Ruheständler sieht seine Aufgabe darin, „die geschlossenen Systeme der Deutschland AG aufzubrechen und zu transformieren“.

Dazu passt auch der heutige Live-Hangout zum Thema Unternehmensdemokraten mit Andreas Zeuch, Matthias Wendorf und Bastian Wilkat.

Siehe auch:

Digitale Innovationen brauchen Freiheit in Unternehmen.

Zur Next Economy Open.

Die Ideenlosigkeit der Excel-Manager – Reporting Orgien bringen keine Innovationen #NEO15 @Staeudtner @editor_page @KlausMJan

Matchen - Moderieren - Managen zur Next Economy Open in Bonn
Matchen – Moderieren – Managen zur Next Economy Open in Bonn

Die vernetzte Wirtschaft braucht neue Managementmethoden, so das Credo des Netzökonomie-Campus in Bonn. Mit dem „Kosten-senken-und-Zeit-sparen-Mantra“ der deutschen Führungskräfte kann man keinen Blumentopf mehr gewinnen.

Die Technologie sei dabei nicht das Problem, es sei die systemimmanente Dummheit des Managements, die uns drosselt, so Buchautor Gunter Dueck im „HBM“-Interview (Januar-Special zum Thema „Leadership – Wie geht Führung im Zeitalter digitaler Transformation?“).

In den Führungsmethoden setzt man auf Konditionierung und nicht auf Partizipation sowie Offenheit. Die Wirtschaftswelt tut immer noch so, als seien Menschen und Märkte vollkommen rational und steuerbar sowie die Welt um uns herum vollkommen logisch, bestätigt Dueck:

„Die Ur-Annahmen über den Menschen als Stimulus-Response-Blackbox sind noch immer die Grundlage heutiger Management- und Incentive-Systeme.“

Statt auf die Potenziale ihrer Mitarbeiter zu setzen, verstecken sich die Excel-Führungskräfte hinter Berichtsorgien und Kennzahlen-Management.

„Der dauernde Druck und die ständigen Vorgaben zwingen die Leute dazu, sich den halben Tag Gedanken darüber zu machen, wie sie es schaffen, am ,Ende des Tages‘ – Lieblingsformulierung der Manager – gut dazustehen. Mit Strategieentwicklung, dem Fördern von Innovation und Kreativität oder Personalführung – den eigentlichen Kernaufgaben einer Führungskraft – hat das herzlich wenig gemein“, erläutert Dueck.

Eine Organisation im Optimierungswahn über bürokratische Prozesse fördert die kollektive Dummheit in Unternehmen. Exzellenz, Aufbruchstimmung und visionäres Denken lässt sich nicht verwalten „oder in Listen und Tabellen organisieren – und schon gar nicht aus Vergangenheitsdaten extrahieren“, moniert Dueck. Bestleistungen erzeugt man nicht mit Kontrollen, sondern mit Freude und Leidenschaft.

Das klassische Managementwerkzeug aus dem Industriezeitalter reicht für die Bewältigung der digitalen Transformation nicht aus, resümiert die Käsekuchen-Runde des Netzökonomie-Campus.

Der Autobauer Local Motors zeigt eindrucksvoll, wie man die netzökonomischen Hebel bedienen sollte. Die amerikanische Firma verfügt gerade mal über ein gutes Dutzend fest angestellter Fachleute, die in der Lage sind, ein Fahrwerk oder einen Antrieb zu entwickeln.

„Doch das Kernteam kann sich darauf verlassen, dass zu den Fahrzeugen, die Local Motors entwickelt, mehrere Tausend Experten ihr Wissen beisteuern. Nur arbeiten diese eben nicht in einer Werkshalle oder Büroetage, sondern im Netz. Eine Online-Community, die mehr als 36.000 Autofans und Fachleute rund um die Welt vernetzt, ist das Herzstück des Unternehmens“, so Willms Buhse.

Alle Baupläne sowie Entwürfe stehen im Netz und sind als CAD-Dateien einsehbar. Jeder darf die quelloffene Software nutzen und verbessern, wie man das sonst nur von Linux kennt.

„Mal steuern autobegeisterte Designer aus Rumänien, Brasilien oder Uganda Entwürfe für die Form eines Karosserieteils zu einem Fahrzeug bei, dann wieder lassen professionelle Fahrzeugentwickler aus Frankreich oder den USA in ihrer Freizeit ihr Wissen zur Konstruktion von Motorelementen in ein kollaboratives Entwicklungsprojekt einfließen. So kann Local Motors Fahrzeuge sehr viel schneller realisieren als ein klassischer Autobauer“, führt Buhse aus.

Bei Branchenriesen wie Daimler werde dagegen Besuchern aus Sorge vor Industriespionage sogar dann die Kamera am Smartphone mit Klebeband versiegelt, wenn man dort nur Konferenzräume besucht.

„Mithilfe des Internets können Menschen ihr Wissen teilen und mehren – und somit altgediente Hierarchien und Systeme ergänzen oder gar überwinden“, meint Buchautor Buhse.

Mit offenen und flüssigen Strukturen könnte man auch die Silicon-Valley-Größen wie Apple oder Google schlagen, die fast wie eine Sekte geführt und abgeschottet werden. Was Local Motors schafft, könnte auch deutschen Unternehmen gelingen.

„Während neue Serien und Modelle in der klassischen Autoindustrie eine Vorlaufzeit von fünf bis sieben Jahren haben, dauerte es beim Rally Fighter nur 18 Monate, bis aus der 2-D-Zeichnung und der Konzeptstudie ein Fahrzeug wurde, das ein Kunde abholen konnte. Doch damit nicht genug: Local Motors ist nicht nur schneller, sondern benötigt auch nur den Bruchteil des Kapitals eines klassischen Herstellers, um aus einer Konzeptstudie ein Fahrzeug zu machen. Lediglich 3,6 Millionen Dollar waren für die Entwicklung des Rally Fighters notwendig. Weil die Entwicklungs- und Produktionskosten für jedes Fahrzeug gering sind, brauche Local Motors nach eigenen Angaben lediglich 1000 verkaufte Autos, um damit Geld zu verdienen“, bemerkt Buhse.

Selbst das amerikanische Verteidigungsministerium habe das Hummer-Nachfolgemodell von der Local-Motors-Community konzipieren lassen. Ein Monat wurde für die Entwicklung angesetzt und drei Monate für die Ausführung. Soweit sind deutsche Unternehmen noch nicht.

„Meistens gehen Firmen von einer vorgegebenen Strategie aus, für die Projekte maßgeschneidert und umgesetzt werden. Dieses Vorgehen gibt dem ‚Treibstoff des 21. Jahrhunderts‘, der Kreativität wenig Raum. In Zeiten, in denen Expertise immer schneller veraltet, wird es wichtiger, Ideen und Zufällen eine Chance zu geben“, erläutert Jürgen Stäudtner, Innovationsberater von Cridon, in seiner Studie .

So etwas könnte sehr gut in offenen Systemen gelingen.

„Projekte können Phasen überspringen, neu in Phasen starten ohne in vorherigen Phasen bewertet worden zu sein oder extern durchgeführt werden. Klassicherweise bezieht sich Open Innovation darauf, dass man Partner oder Universitäten in die eigene Innovation einbezieht. Damit kehrt ein neues Paradigma in Firmen ein: ‚Proudly developed elsewhere‘ gibt externen Ideen den gleichen Stellenwert wie internen“, so Stäudtner.

Wie man Software fürs Ideen-Management einsetzen kann, demonstriert Stäudtner in einem kleinen Webinar, das wir via Hangout on Air live übertragen haben.

Ab Ende September werden wir so eine Plattform auch für die Bonner Next Economy Open am 9. und 10. November nutzen, um im Vorfeld schon Ideen, Projekte, Initiativen und Diskussionen zu identifizieren und mit Teilnehmern zu matchen. Das könnte Entwicklungen einleiten, die bis Anfang November realisiert und vorgestellt werden. Oder es könnten erste Überlegungen gefördert werden, um auf der NEO15 neue Projekte zu starten. Schließlich ist unser Leitmotto „Matchen – Moderieren – Managen“ 🙂

Siehe auch:

„Industrie 4.0 ist eine Beruhigungspille für den Mittelstand“

Auch „Open“: Jetzt basteln Google und Twitter eine Open-Source-Version von Facebooks „Instant Articles“

Ist wohl fahrlässig: Self Driving Car: Porsche & General Motors nehmen Entwicklung von Googles selbstfahrendem Auto nicht ernst.

Zur Google-Metamorphose: Blaupause für die Next Economy #Alphabet #NEO15 @netzpiloten #NotizAmt

Presseclub leider ohne blauen Dunst wie zu Zeiten von Werner Höfer
Presseclub leider ohne blauen Dunst wie zu Zeiten von Werner Höfer

Für meine neue Kolumne „Das Notiz-Amt“ bei den Netzpiloten habe ich mir nach langer Zeit wieder einmal den ARD-Presseclub angeschaut, der sich mit der neuen Holdingstruktur von Google auseinandersetzte.

Mit Marina Weisband, Mario Sixtus, Phillip Banse und Miriam Meckel war das sonntägliche Stelldichein in der Tradition von Werner Höfer auch gut und ungewöhnlich bestückt. Drei profunde Netzkenner und eine Vertreterin der klassischen Printmedien sprachen unaufgeregt über die Konsequenzen, die sich aus der Metamorphose des Suchmaschinen-Giganten ableiten lassen.

Google orientiert sich fortan an Berkshire-Hathaway-Holding des milliardenschweren Investors Warren Buffet und beendet damit das Dasein als Gemischt-Warenladen. Mit den neuen Führungsstrukturen kann man sich jetzt auf einzelne Sparten konzentrieren. Das Brot- und-Butter-Geschäft ist mit über 90 Prozent Umsatzanteil immer noch die Werbung via Adwords und Adsense. Mit dem Überbau “Alphabet” stärkt man den Glauben an das große Wachstum in den wilden Projekten, mit denen noch kein Cent verdient wird. Das operative Geschäft bleibt bei Google unter dem neuen Chef Sundar Pichai.

Bei einer Marktkapitalisierung von rund 440 Milliarden US-Dollar einen so radikalen Schnitt zu machen, ist für Miriam Meckel ungewöhnlich – zumindest in Deutschland und Europa. Hier werde eine neue Stufe in der digitalen Ökonomie gezündet, die man sich sehr genau anschauen sollte. Google entwickelt eine Blaupause für den radikalen Weg in die vernetzte Wirtschaft und zeigt, wie das funktionieren kann. Es erleichtert das Schrotflinten-Prinzip in den Aktivitäten außerhalb des Werbegeschäfts, betont der elektrische Reporter Sixtus:

“Sie schießen ganz viele Kugeln in ganz viele Richtungen ab und hoffen, dass irgendeine Kugel treffen wird.“

Das ist wohl der einzig gehbare Weg für die digitale Transformation.

Versuch und Irrtum für Zukunftsmärkte

Wer im technologischen Sektor in zehn Jahren noch überleben möchte, der müsse jetzt Produkte und Services für Märkte und für eine Nachfrage entwickeln, die es noch gar nicht geben kann. Wie das funktioniert, demonstrierte das Mountain-View-Unternehmen mit Google Maps, das vor zehn Jahren gestartet wurde. Erst 2007 war die Geburtsstunde des iPhone und erst danach entfaltete sich das mobile Internet. Damals galt noch das Blackberry als Krönung der Handy-Schöpfung. Als die mobile Revolution einsetzte, war Google mit einer wichtigen Anwendung sofort präsent. Das Wesen dieses Unternehmens unterscheidet sich von der Return on Investment- und Rentabilitäts-Denke in Teutonien.

“Die Gründer und Macher glauben an ihre Projekte, statt Gründe zu suchen, warum etwas nicht gehen kann“, erläutert Sixtus.

Suche, Mobilität, individualisierter öffentlicher Nahverkehr mit dem selbstfahrenden Auto, Vernetzung digitaler Infrastrukturen, Vernetzung von Städten, Robotik und industrielles Internet. Die Zukunftsthemen von Alphabet bauen auf die Daten-Intelligenz, die man sich seit der Gründung erarbeitet hat.

“Für das selbstfahrende Auto sind Karten unabdingbar. Nicht nur in 2-D, sondern auch in 3-D, wo selbst Ampeln und Bürgersteige abgescannt werden. Man braucht dafür die besten Daten-Ingenieure und die besten Daten“, so der Podcaster Philip Banse.

Deshalb rekrutiert Google die besten Genetiker, Hirnforscher, Elektrotechniker, Maschinenbau-Ingenieure (!), Chemiker und Forscher für Künstliche Intelligenz.

Die klügsten Köpfe arbeiten in Mountain View

Die klügsten Leute wollen bei Google arbeiten, konstatiert Marina Weisband. Mit flexiblen Arbeitszeiten, einem guten Betriebsklima, modernen Beteiligungsmodellen, genügend Freiraum für kreative Hobby-Leidenschaften und der Anwerbung von Mitarbeitern mit Migrations-Hintergrund sowie gebrochenen Lebensläufen bietet der Netz-Champion eine Diversität, von der deutsche Unternehmen meilenweit entfernt sind, auch wenn kluge Personalmanager wie Thomas Sattelberger das schon seit Jahren fordern.

Wir verplempern unsere Zeit mit industriepolitischen Scheindebatten, die schon vor drei Jahrzehnten nicht mehr zeitgemäß waren. Seit 1980 sind wir selbst nach den Maßstäben der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung kein Industrieland mehr. Auch der Begriff Industrie 4.0 führt in die Irre, weil er wirtschaftliche Aktivitäten immer noch nach Branchen sortiert.

Zukunftsentscheidend ist nicht mehr die Herstellung eines Kotflügels oder einer Einspritzpumpe, sondern die Verbindung von Daten, Software, Wissen und Algorithmen. Den Rest kauft man sich ein. Ausführlich im Notiz-Amt nachzulesen. Ab jetzt jeden Donnerstag – bei Sonne, Regen, Schnee, Wind und Wetter.

Das Thema wird uns auch auf der Next Economy Open #NEO15 in Bonn beschäftigen am 9. und 10. November.

Und auch morgen im Live-Hangout ab 16 Uhr.

Mitdiskutieren via Twitter-Hashtag #NEO15 oder den Frage-Button von Google Plus nutzen.

Wie die liebwertesten VWL-Gichtlinge die (netz-)ökonomische Wirklichkeit ausblenden #NEO15

Die VWL-Dünnbrettbohrer mit ihren ceteris paribus-Modellen würden fälschlicherweise Quantifizierung mit Wissenschaftlichkeit gleichsetzen.
Die VWL-Dünnbrettbohrer mit ihren ceteris paribus-Modellen würden fälschlicherweise Quantifizierung mit Wissenschaftlichkeit gleichsetzen.

Wolfgang Kasper, emeritierter Professor für Nationalökonomie der australischen Universität New South Wales, geht mit den Protagonisten der Wirtschaftswissenschaften hart ins Gericht. Die sogenannte Neoklassik operiere mit Scheinwissen. Politische Macht und unerwartete sowie schädliche Nebeneffekte von wirtschaftspolitischen Entscheidungen werden einfach wegdefiniert. Die VWL-Dünnbrettbohrer mit ihren ceteris paribus-Modellen würden fälschlicherweise Quantifizierung mit Wissenschaftlichkeit gleichsetzen. Die Modellschreiner und Makromechaniker bilden nach Ansicht von Kasper ein karriereförderndes Kartell. Lehrstuhlkandidaten, die Bürokraten und Minister-Aktivismus kritisieren, hätten nur geringe Chancen im undurchsichtigen universitären Ernennungsdickicht. So etablierten sich Professoren, die sich mit ökonometrischen Gefälligkeitsgutachten und Expertenrat in den Dienst von Politikern und Ministerien stellen. Wichtig wären Denkfabriken, Universitäten und Medien, die nicht vom Steuermäzenatentum abhängig sind.

Zudem brauche man eine Neuausrichtung der Wirtschaftswissenschaften:

„Das neoklassische Gedankengut stammt aus der Ära der Großindustrie mit Massenproduktion. Heute machen maßgeschneiderte Dienstleistungen zwei Drittel bis drei Viertel der Wirtschaftsaktivität aus. Und hier ist dezentrales Wissen der wichtigste Produktionsfaktor“, so Kasper.

Mit Mathematik und irgendwelchen unkritisch hingenommenen statistischen Schätzungen könne man leicht publizieren und promovieren.

„Und wo die Daten nicht ausreichen, da müssen eben ‚dummy variables’ und andere ökonometrische Tricks herhalten. Ich weiß aus eigener Erfahrung, wie ungern man einmal mühsam erlerntes ökonometrisches Wissenskapital ersatzlos abschreibt, auch wenn man merkt, dass die mathematische Ausdrucksweise ein armseliges, künstliches Esperanto darstellt, das für die wirtschaftspolitische Beratung bei weitem nicht das gleiche leisten kann wie das ordnungspolitische Idiom“, führt der Nationalökonom weiter aus.

Als lang gedienter Universitätslehrer und Institutsleiter weiß er, wie leicht das neoklassische VWL-Reportoire zu unterrichten ist.

„So kann man etwa mit dem Marshall’schen ‚ceteris paribus Kreuz’ von Angebot und Nachfrage oder dem makroökonomischen IS-LM Gleichgewicht ohne viel Anstrengung Vorlesungsstunden füllen und erspart den Studenten die Begegnung mit der viel komplexeren Realität, mit Wissen aus Soziologie, Geschichte, Psychologie, Institutionen oder Unternehmertum. Studenten ohne Lebenserfahrung finden die neoklassische Abstraktion zumeist befriedigend. Für das Examen reicht dies aus. Die meisten merken überhaupt nicht, dass sie um aufregende und anregende Wertediskussionen – etwa Freiheit versus Effizienz, oder Sicherheit versus Gerechtigkeit – betrogen werden.“

Erst später, wenn sie ihr Universitätswissen mit der Wirklichkeit konfrontieren, bemerken sie enttäuscht, dass sie mit völlig unbrauchbaren Modellen operiert haben. Man merkt es an den Fehlprognosen, die die Konjunkturforscher in jedem Jahr der Bundesregierung an die Hand geben.

„Die Ökonomen liefern mit ihren Modellen keine Aussagen über Kausalzusammenhänge, sie bieten lediglich mögliche Interpretationen vergangener Handlungen von Wirtschaftsakteuren“, schreibt Tobias Schmidt in der Zeitschrift Merkur.

Das Ganze ist eine Beschreibung vorhandener Datenreihen. Für die Zukunft folge daraus nichts, bemerkt der Merkur-Autor. Dennoch kommen solche Modell permanent zum Einsatz. Eine Zirkelschluss-Ökonomie mit Blick in den Rückspiegel unter Ausschaltung der wirtschaftlichen und politischen Realität.

Einen völligen Blindflug legen die liebwertesten Gichtlinge der Wirtschaftswissenschaften in netzökonomischen Fragen an den Tag. Die ungeheure Dynamik der digitalen Transformation mit ihren ständig neu aufkommenden Trends in der Informationstechnik und der Angriffslust der Internetkonzerne aus dem Silicon Valley stehen nicht auf den Lehrplänen von VWL und BWL. Wie sollte die Wettbewerbspolitik auf die Monopolstrategien von Google und Co. reagieren? Die Internet-Plattformen könnten machtpolitisch irgendwann zu einem Problem werden, warnt Professor Lutz Becker, Studien-Dekan der Fresenius Hochschule, im #BonnerSommerInterview.

Damit müssten wir uns gesellschaftlich auseinandersetzen, fordert Becker. Antworten von den unpolitischen Modellschreinern der wirtschaftswissenschaftlichen Institute sind da nicht zu erwarten. Gefragt wäre eher ein Ludwig Erhard des 21. Jahrhunderts mit netzökonomischer und soziologischer Expertise, der erkennt, wie man mit den großen Aggregationen des Silicon Valley ordnungspolitisch umgeht.

„Das nationale Kartellrecht ist mittlerweile ein zahnloser Tiger. AT&T ist im Vergleich zu Google aus nichtigem Anlass zerschlagen worden“, so Becker.

Das funktioniere im globalen Maßstab nicht mehr. Bislang gebe es keine Antworten auf die „Highlander-Märkte“ – also auf das Bestreben der amerikanischen Technologie-Konzerne nach absoluter Herrschaft: „Erst werden maximale Marktanteile angestrebt und erst danach fängt man mit der Abschöpfung an.“

Wie schnell sich Gewichtungen ändern ändern können, sehe man am iCar von Apple.

„Auf einmal sitzt selbst der Audi-Chef Rupert Stadler auf dem Beifahrersitz. Das haben diese Konzernchefs in der Geschichte der Automobilindustrie noch nie erlebt“, erläutert Becker.

Auch klassische Industrien werden durch die Plattform- und App-Ökonomie in neue oligopolistische Abhängigkeitsverhältnisse geraten, etwa durch 3D-Druck- und Robotik-Plattformen zu sehen.

Das Internet sei in vielen Bereichen zu einem Winner-takes-it-all-Markt geworden, schreibt der Kölner Ökonom Thomas Vehmeier:

„In dieser Welt ersetzt der ‘Wettbewerb um den Markt’ den ‘Wettbewerb im Markt’. Im Zentrum eines solchen Ökosystems sitzt ein Market Maker, alle anderen Unternehmen müssen ihre Strategien anpassen und degenerieren zu digitalen Pizzabring-Diensten.“

Für den herkömmlichen Reifenhändler oder Kleinverlag, für den ortsansässigen Apothekerbetrieb oder den Optiker seien das keine tauglichen Rezepte, um bei weiterlaufendem Bestandsgeschäft den Wandel einzuläuten. Diese Rezepte seien von der Realität in vielen Unternehmen zu weit weg und können daher nicht angegangen werden.

„Als Antwort bieten sich gegebenenfalls offene und multifunktionale Plattformen an, die mittelständischen Industrien im Sinne des Commons-Gedanken vor neuen ökonomischen Abhängigkeiten schützen, gleichzeitig neue Geschäftsmodelle sowie Zugänge zu internationalen Märkten eröffnen“, resümiert Becker, der mit seinen Studentinnen und Studenten auf der Next Economy Open am 9. und 10. November ein Forschungsprojekt vorstellen wird.

Bis November werden wir in Netzökonomie-Campus-Runden die Notwendigkeit einer ökonomischen Theorie des Internets auf die Tagesordnung setzen.

Man hört, sieht und streamt sich spätestens am Samstag, den 22. August, beim nächsten Netzökonomie-Campus in Hamburg.

Siehe auch:

APPLE PAY & CO KOMMEN: BLEIBT DA NOCH PLATZ FÜR ANDERE MOBILE-PAYMENT-ANBIETER?

Googles Umstrukturierung: Teilen und herrschen.

EIN PAAR GEDANKEN ZU GOOGLES “ALPHABET”.