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Warum uns Hirnforscher krankmachen – Über neuro-pseudo-wissenschaftliche Meinungsmanipulation

Im Neuro-Psycho-Zeitalter sind wir scheinbar umgeben von pathologischen Phänomenen.

Wer sich durch unbedachte Einkäufe verschuldet, leidet unter Kaufsucht. Wer nicht an Verhütung denkt, unterliegt der Sexsucht. Wer an Gesprächen nicht teilnimmt, krankt an sozialen Phobien. Ständige Grübeleien über Nichtigkeiten weisen auf Angststörungen hin. Und folgt man der monokausalen Analyse des Autors Manfred Spitzer produziert der übermäßige Konsum von digitalen Medien Heerscharen von Internetsüchtigen mit der Tendenz zur Hirnschrumpfung.

Vielleicht leiden die selbsternannten Neuro-Experten selbst unter einer speziellen Form von pathologischer Schnappatmung im Verbund mit einer interneuronal-molekularen Dysbalance.

Natürlich beeinflusst die Internet-Nutzung das Gehirn – genauso wie Fahrradfahren und alle anderen menschlichen Tätigkeiten und Erfahrungen auch. Selbst Neurowissenschaftlerin Maryanne Wolf, die vor den Gefahren des digitalen Lesens warnt, räumte im Interview mit der Süddeutschen Zeitung ein, dass es bis jetzt kaum harte Fakten zu den Auswirkungen des Lesens an einem Bildschirm gibt. Dann sollten die Neuro-Fanatiker den Ball vielleicht etwas flacher halten in ihrem spekulativen Hirn-Biotop.

Ob sich unser Bewusstsein verändert und wir zu Abziehbildern von Computerprogrammen degradiert werden, ist ein höchst unterhaltsamer Ansatz für Debatten auf Bild-Niveau. Das hat eher den Charakter eines „Wrestling-Events“, wie es der Soziologe Gerhard Schulze ausdrückte. Statt Inhalte werden nur Etikettierungen ausgetauscht. Die einen sind Panikmacher, die anderen Zyniker. Man geht zur Tagesordnung über und sucht sich einen neuen Spielplatz, um „Alarm“ zu brüllen.

„Es ist ja nicht zu bestreiten, dass die Maschinen in vielen Teildisziplinen stärker und besser sind als Menschen. Angefangen bei der Muskelkraft. Heute käme niemand auf den Gedanken, mit einem Industrie-Roboter sich im Armdrücken zu messen“, erläutert Systemingenieur Bernd Stahl von Nash Technologies. Beim Schach oder bei Quizsendungen würde es ähnlich aussehen. Gegen IBM-Watson sei kein Kraut gewachsen. Ob das Internet vergesslich oder dumm macht, hänge nicht mit dem Internet zusammen, sondern liegt an dem, der es benutzt. “Hier wabert viel Spekulatives und man begibt sich auf wackeligen Grund“, so Stahl.

Ob nun Dinge analog oder digital vorliegen, ist in erster Linie nur eine Zustandsbeschreibung. Und Internet-Nutzer nach höchst fragwürdigen Kriterien als krankhaft abzustempeln, ist diskriminierend und anmaßend.

„Die Spitzer-Debatte verläuft eigentlich so wie sie in solchen Fällen immer läuft. Wir müssen verstehen, dass es in Deutschland noch immer ganz viele Menschen gibt, die vor der digitalen Welt eine riesengroße Angst haben. Diese Menschen suchen sich diejenigen, die ihnen kontinuierlich bestätigen, dass man davor Angst haben muss. Es hat viel damit zu tun, dass wir in den Medien seit sehr langer Zeit nur die negativen Aspekte des Themas beleuchten. Ein gutes Beispiel ist hier die Diskussion um Facebook, die in der Regel nur aus der Sicht des Datenschutzes und der Privatsphäre diskutiert wird. Wenn man den Menschen aber sagt, dass beispielsweise Jugendliche bei Facebook geschlossene Gruppen nutzen um ihre Hausaufgaben gemeinsam zu machen, gibt es immer ein großes Erstaunen. Wir haben eine sehr starke Fokussierung auf die vermeintlichen Gefahren der digitalen Welt. Solange man aber in diesem Gedankengebäude verharrt und nicht weiter darüber nachdenkt, ist man gefangen in der ‚Spitzer-Ideologie‘“, sagt der Gaming-Experte Christoph Deeg.

Das Buch „Digitale Demenz“ sei nach seiner Ansicht kein wirklich gut geschriebenes und schon gar kein wissenschaftliches Werk.

„Vernetzt Euch“, die Losung des Blogger Camps in Nürnberg, ist wohl die beste Antwort auf hirnrissige Thesen, die von Hirnforschern und digitalen Skeptikern durch die Gegend geblasen werden.

Vielleicht übertragen omnipräsente Persönlichkeiten wie Manfred Spitzer auch nur ihre eigenen Ängste, Visionen oder Wünsche auf die ganze Gesellschaft und instrumentalisieren dafür die Neurowissenschaft. Seine Wenn-Dann-Denkweise unterschätzt die Komplexität des Gehirns und die vielfältigen Möglichkeiten des Digitalen.
Soweit ein Auszug meiner heutigen Kolumne für Service Insiders.

Am Mittwoch hatte ich mich in meiner The European-Mittwochskolumne ja auch schon zu Spitzer ausgelassen: Der digitale Kaputtmacher.

In ausführlicher Form wird das wohl in Buchform in Zusammenarbeit mit Christoph Deeg weitergehen. Ein Verlag hat schon Interesses bekundet. Mal schauen, wie schnell wir das auf die Beine stellen.

Wer noch mitmachen möchte, ist herzlich eingeladen 🙂

Kann das Internet oder kann das weg? Wäre eigentlich ein schöner Buchtitel.

Lesenswert auch: Deutschlands gestörtes Verhältnis zum Netz.

Über den Autor

gsohn
Diplom-Volkswirt, Wirtschaftsblogger, Livestreamer, Moderator, Kolumnist und Wanderer zwischen den Welten.

1 Kommentar zu "Warum uns Hirnforscher krankmachen – Über neuro-pseudo-wissenschaftliche Meinungsmanipulation"

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