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Virtuelle Salons ohne Tee und Klavier – Wie Livestreaming die Kommunikation verändert

Salon geht auch virtuell - nur nicht so opulent

Salon geht auch virtuell – nur nicht so opulent

Im Digitalen gibt es keine Abgeschlossenheit und keine Unveränderlichkeit. Wir stehen in einer andauernden Konversation. Texte, Videos und Audios werden im Netz dokumentiert, sie werden verbreitet und weitergenutzt, sie regen zum Dialog an und wir können sie überarbeiten, fortschreiben und diskutieren. Um die Kultur der Beteiligung noch direkter, noch sichtbarer, noch echtzeitiger zu machen, sollten Social TV-Diskurse über Dienste wie Hangout on Air zur Regel werden. Ob sich aus dem eigenen Tun im Netz bedeutungsschwere Diskurse, bahnbrechende Erkenntnisse, Zuspruch oder Ablehnung ergeben: Entscheidend ist die reine Möglichkeit der Teilnahme, die es früher nicht gab. Als Motto fürs Digitale eignet sich ein Aphorismus von Georg Christoph Lichtenberg, den Dirk von Gehlen in seinem lesenswerten und über Startnext finanzierten Opus „Eine neue Version ist verfügbar“ zitiert:

„Ich kann freilich nicht sagen, ob es besser wird, wenn es anders wird. Aber so viel kann ich sagen: Es muss anders werden, wenn es gut werden soll.“

Zufallsgemeinschaften im Netz

Im Netz etablieren sich virtuelle Zufallsgemeinschaften mit begrenzter Dauer als informeller Versammlungstyp ohne feste Strukturen. Von Gehlen bezieht sich dabei auf die Salonkultur des 18. und 19. Jahrhunderts. Mit seinem Buchprojekt hat der Autor aufgezeigt, wie das Ablösen der Daten von ihrem Träger auch ihre Form verändert.

„Sie tauen dadurch auf, verflüssigen sich”, schreibt er im ersten Kapitel „Ergebnis plus Erlebnis: Geht raus und spielt!”

Als Unterstützer des Werkes über die Crowdfunding-Plattform Startnext wurden wir über jeden Fortgang des Schreibens informiert. Gehlen ließ seine Leser nicht nur partiell entscheiden, sondern am gesamten Prozess des Buchschreibens teilhaben. Die Leser werden zu Experten für seine Sache und der Autor übernimmt die Rolle eines Salon-Betreibers, der Vorschläge macht, moderiert und der am Ende ein Werk zusammenbindet, das im Idealfall ein aus den Diskussionen entstandenes Gemeinschaftsprodukt ist. 350 Menschen, die das Gehlen-Buch finanziell unterstützten, waren live am dabei und schauten dem Autor beim Schreiben über die Schulter. wenn der Autor sein Buch schreibt, Kapitel für Kapitel. Interviews speicherte er auf Google Docs, so dass alle die Texte lesen konnten. Und immer wenn er selbst etwas verfasste, informierte er seine Unterstützer, wartete auf Kommentare, änderte Stellen und fügte Links hinzu, die ihm seine „Crowd“ sendete.

„Das Bücherschreiben nähert sich damit den Schwarm-Arbeitsprozessen von Wikipedia an – nur dass der Autor am Ende die Oberhoheit über sein Werk behält und nicht das Kollektiv alles untereinander ausficht.“

Der Autor werde zum Leiter einer Künstlervilla, stellt seine Textfragmente vor und diskutiert mit den Gästen den Schaffensprozess. Nicht das Endprodukt sei der Fixstern, auf den alles hinausläuft, der Sinn liegt im fortlaufenden Prozess. Gehlen formuliert eine sehr schöne Analogie zum Sport und erwähnt den Sportmoderator Marcel Reif, der von einem seiner ersten Spiele erzählt, die er fürs Fernsehen kommentierte. Ein EM-Eishockeyspiel von 1985, an das ich mich auch noch gut erinnern kann. Es spielten die Tschechen gegen die Russen – oder besser gesagt Sowjets. Ein Nachklang des Prager Frühlings mit den Mitteln des sportlichen Wettkampfs. Klein gegen Groß, Macht gegen Ohnmacht, Gut gegen Böse. Und die Tschechoslowakei gewann sensationell mit 2 zu 1. Aber das Ergebnis war für Reif gar nicht so entscheidend. Was von einem Spiel bleibt, sei häufig nicht das Resultat, sondern nur ein Klang, ein Bild. Und genau um diese Klänge und Bilder geht es Gehlen in seinem Buch. Er versteht den Sport als Metapher für die Art und Weise, wie Kulturprodukte entstehen: Es geht um das gemeinsame Erlebnis, das mindestens genauso wichtig ist, wie das Ergebnis.

Neue Formen der Kommunikation

Nun könnte man sich die Frage stellen, ob neben dem gemeinschaftlichen Schreiben eines Buches auch die Gesprächskultur des literarischen Salons im Netz wieder aufleben könnte. Die Definition des traditionellen Salons lässt die die Rede von einem virtuellen Salon eigentlich nicht zu:

„Jeder Versuch eines Vergleichs scheitert bereits an der Präsenz oder Absenz der Salondame. Und wenn man darauf noch entgegnen könnte, dass auch der virtuelle Salon so etwas wie eine Salondame oder einen Salonherrn aufweist, so fehlt diesem doch der körperliche Raum des Salons mit seinem nicht unwesentlichen Ambiente, es fehlt die Sichtbarkeit der Salongäste, es fehlt das Klavier, ganz zu schweigen vom Tee, der im virtuellen Salon nicht getrunken wird“, schreibt Roberto Simanowski in dem Sammelband „Europa – ein Salon?“.

Anschlussfähig an den Salonbegriff ist jedoch der informelle Charakter von virtuellen Gemeinschaften ohne feste Strukturen. Die Dialogutopie der Gelehrten des 18. Jahrhunderts war der Grundstein für Lesegesellschaften, literarische Salons und Debattierclubs. Allerdings mit den Restriktionen der örtlichen Verfügbarkeit. Die Konvergenz der Technologien bewirkt neue Formen der Kommunikation. Was wir jetzt erleben, ist eine Abweichung von geschlossenen Medienformaten. Schon in den 1980er Jahren experimentierten Kurd Alsleben und Antje Eske vernetzten Dialogen über HyperCards. Essentiell sei dabei die kulturelle Tiefe der Konversationen. Alsleben und Eske wollen die künstlerischen Qualitäten und die politische Dimension des Social Web abtesten. Basta-Entscheidungen und das reine Manifestieren von politischen Positionen würden nicht mehr funktionieren. Es geht immer mehr um das mühsame Aushandeln von Positionen. Es geht um die Überwindung von verfestigten und verkrusteten Strukturen. Als Vorbild für die Netz-Diskurse in virtuellen Salons könnte das dadaistische Cabaret Voltaire in Zürich dienen. Hier ging es vor allen Dingen um den spielerischen Umgang mit den Fragen des Lebens. Ein Dadaist war zugleich Anti-Dadaist.

„Sein liebster Zeitvertreib ist es, Rationalisten in Verwirrung zu stürzen, indem er zwingende Gründe für unvernünftige Theorien erfindet und diese Theorien dann zum Triumph führt“, erläutert der Philosoph Paul Feyerabend in seinem Buch „Wider den Methodenzwang“.

Das einzige, wogegen sich der Dadaist eindeutig und bedingungslos wendet, sind allgemeine Grundsätze, allgemeine Gesetze, allgemeine Ideen wie „die Wahrheit“, „die Vernunft“, „die Gerechtigkeit“, „die Liebe“ und das von ihnen hervorgerufene Verhalten, wenn er auch nicht bestreitet, dass es oft taktisch richtig ist, so zu handeln, als gäbe es derartige Gesetze und als glaube er an sie. Der Dadaist vereint Vernunft und Unvernunft, Sinn und Unsinn, Plan und Zufall – sie gehören als notwendige Teile eines Ganzen zusammen. Denn letztlich ist alles ein Produkt unserer schöpferischen Einbildungskraft und nicht das Ergebnis eines Universums von Tatsachen. Dafür stehen auch die Regellosigkeit des Netzes und der Kontrollverlust. Beides erträgt die politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Elite nicht und übt sich deshalb in der Meisterschaft des Verdrängens. Es gibt keine Gewissheiten im Netz:

„Manchmal lassen sich verkrustete Probleme nur durch Neugründung einer Alternative lösen, und nirgends ist das Weiterziehen und Neugründen leichter als im Internet, wo die unbesiedelten Kontinente nie zu Ende gehen. Die Konvektionsbewegung zwischen agilen Neugründungen, erstarrten Imperien, Zerfall und Erneuerung gibt es online wie offline, im Internet sind ihre Zyklen nur kürzer als draußen“, stellt Kathrin Passig fest.

Revolution für die Unternehmenskommunikation

Der ehemalige Google-Sprecher Stefan Keuchel wertet die Live-Hangouts nach einem t3n-Beitrag von Daniel Fiene als klassischen User-Generated-Content:

„Die Nutzer entscheiden selbst, was sie streamen und was sie zeigen wollen.”

Thomas Knüwer vom „Digitalen Quartett” sieht in den Hangouts On Air sogar eine kleine Revolution für die Unternehmenskommunikation:

“Nun können ohne größeren Aufwand Vorstandsstatements übertragen werden, gesponsertes Stars können vor Publikum mit Fans reden, Online-Schulungen werden möglich, Produktvorführungen, Krisenkommunikation, Talkshows…”

Für Fiene liegt die Revolution vor allem darin, dass jetzt jeder in Deutschland live auf Youtube senden kann. Bernd Stahl von Nash Technologies erkennt Potentiale für die Kommunikation von Firmen mit Kunden. Die enge Verbindung von Livestreaming mit den sozialen Netzwerken zählt zu den Stärken von Diensten wie Hangout on Air, betont Norbert Bolewski in einem Blogbeitrag für die Fernseh- und Kinotechnische Gesellschaft.

„So hatten beinahe alle größeren Firmen auf der CeBIT in Hannover ihren eigenen Livestream und man konnte deren Präsentationen bequem vom Büro oder von zuhause aus verfolgen und auch speichern. Es lässt sich also heute vom hochwertigen Event bis zur Community alles abdecken. Livestream ist somit auch Community.“

Mehr Transparenz mit Live-Hangouts

Jede öffentliche Veranstaltung würde sich für Live-Hangouts eignen. Das schaffe auch Transparenz in der Gesellschaft.

„Es bietet die Möglichkeit, alles öffentlich zu machen. Man kann über alles berichten was man möchte, um auch gesellschaftliche Prozesse auszulösen oder darzustellen. Bürgerinitiativen sind ein Beispiel. Die Bürgerveranstaltungen mit Infos über die havarierte Atommüllkippe Asse bei Wolfsburg ist eines davon. Man hat auch die Möglichkeit der Archivierung, und kann sich die Diskussionen erneut später in Ruhe anschauen. Es gibt keine rechtlichen Regelungen, wie beispielsweise bei öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten, was die Dauer der Verfügbarkeit anbelangt“, schreibt Bolewski und meint damit den Zwang zur Depublizierung, den wir in mehreren Bloggercamp.tv-Sendungen über die Greenscreening-Technik ausgetrickst haben.

Ein weiteres Transparenz-Beispiel sei die Übertragung der Sitzungen des Wiener Landtags und des Gemeinderats, die sich jeder Bürger über das Internet live und und als Aufzeichnung anschauen kann. All das trägt dazu bei, gesellschaftliche Prozesse darzustellen.

„Das Ganze hat sicherlich oft nicht die hohe Professionalität und technische Sauberkeit. Aber um entsprechende Informationen sogar recht lebendig zu vermitteln ist es sehr gut geeignet“, meint der TV-Experte.

In den vergangenen Jahren gebe es aber auch bei der technischen Qualität enorme Fortschritte. Das erkenne man deutlich bei Livestreams im so genannten Content Marketing.

Bolewski erwähnt das durchgängige TV-Angebot zur Kieler Woche, das von Audi gesponsert wurde – mit Beiträgen, Zusammenfassungen, Berichten und Ausblicken und täglich live. Ein weiteres Beispiel ist die Staatsoper in München. Als Sponsor konnte die Linde-Gruppe gewonnen werden. Die Livestreams werden bevorzugt gerne im amerikanischen und asiatischen Raum gesehen.

„Es handelt sich hier bereits mehr um eine professionelle Übertragung mit sechs Kameras und zig Mikrofonen.“

Livestreaming biete die Möglichkeit, sich sozial zu vernetzen und durch das Social Web Kommunikationsprozesse neu zu steuern.

„So wurde vor drei Jahren schon ein ganzes Fußballspiel live in Facebook übertragen. Man musste dazu den Like-Button auf der Fanpage eines Bierherstellers anklicken. Die technische Qualität war eher als schlecht zu bezeichnen. Trotzdem hatte der Bierhersteller von einem Tag zum anderen 10.000 mehr Fans auf seiner Webpage. Die Werbewirkung war größer als es je ein deutscher Fernsehsender zu bieten vermag. Das hat übrigens viele Nachahmer gefunden. So überträgt der DFB Livestreams zum Frauenfußball“, weiß der Autor.

Weltweite Angebote gibt es für Cricket-Enthusiasten und selbst die Floorball-Weltmeisterschaft in Hamburg wurde live übertragen – so eine Art Hallen-Hockey mit Eishockeyschlägern. Auszug aus dem Kapitel „Social TV und die Kultur der Beteiligung“ des Livestreaming-Buches von Schleeh und Sohn, das am 4. September im Hanser-Verlag erscheint.

Siehe auch:

„Niemand bereitet sich mehr auf die Dozenten vor, um sie zu widerlegen“, schreibt etwa Jürgen Kaube. Dann sollte man mehr Live-Diskurse durchführen.

Über den Autor

gsohn
Diplom-Volkswirt, Wirtschaftsblogger, Livestreamer, Moderator, Kolumnist und Wanderer zwischen den Welten.

1 Kommentar zu "Virtuelle Salons ohne Tee und Klavier – Wie Livestreaming die Kommunikation verändert"

  1. Das kann man übrigens alles ausprobieren am 18. und 19. Oktober beim StreamCamp in München: http://streamcamp.de

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