Loslassen und Zwitschern: Über die Vorteile der asynchronen Kundenkommunikation

Lust am Zwitschern

Call Center – und damit die synchrone Kommunikation – seien out. So lautet die Botschaft des Call Center-Kenners und Marketingberaters Harald Henn in einem Namensbeitrag für den Fachdienst Service Insiders:

„Warteschlangen, wenig kompetente Mitarbeiter, widersprüchliche Aussagen, Rückrufe; es gibt eine lange Liste von Gründen, die die Abkehr der jüngeren Generation von Call Centern belegen. Eindeutig bevorzugt werden Posts in Communities, auf Social Media Plattformen, E-Mail oder Self-Service Anwendungen. Die asynchrone Kommunikation ist auf dem Vormarsch“, schreibt Henn.

Und das dürfte auch auf das Nutzerverhalten der Älteren zutreffen – mit steigender Tendenz. Aber damit nicht genug.

„Auch ein weiteres bislang geltendes Dogma verliert seine Bedeutung. Kunden sprechen nicht länger ausschließlich Eins zu Eins, also von Kunde zu einem Mitarbeiter; sie beziehen auch andere Kunden in die Unterhaltung, die Lösungsfindung mit ein. Social Media-Plattformen wie Twitter und Facebook werden Teil des Service-Universums“, erläutert Henn.

Dialoge, die bisher unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfanden, werden nun für alle sichtbar, ob die Anbieter das nun wollen oder nicht. Postings zu einem defekten DSL Router beim Twitter-Account der Telekom können von vielen Kunden und Interessierten wahrgenommen und weitergegeben werden. Oder die Problemlösung komme von einem anderen Kunden, ganz ohne Beteiligung eines Mitarbeiters. Vernetzte Services und die asynchrone Kommunikation bieten eine Vielzahl von Optionen, den Dienst am Kunden zu verbessern.

Siehe auch den Vortrag von Andreas Klug vom Softwarespezialisten Ityx zur Renaissance der Verschriftung, die über Tablets und Smartphones weiteren Auftrieb erhält:

Ein entscheidender Vorteil der offenen und asynchronen Kommunikationsformen des Netzes sind die Möglichkeiten für die Analyse der Kundenanliegen – also die Personalisierung von Informationen. Das kleine Zeitfenster zwischen Anfrage und Antwort kann zum Antizipieren von Wünschen genutzt werden – via App oder Web-Diensten.

Apps ermöglichen nach Ansicht von Genesys-Manager Heinrich Welter nicht nur die Identifikation des Kunden, sondern bieten sehr viele Möglichkeiten für die Datenanalyse und Vorqualifizierung, die der Anwender individuell steuern kann. So könne man den Blindflug im Service beenden. Der Kunde entscheide die Kommunikationsform und der Anbieter stelle sich genau auf das ein, was in der App abgerufen wird. Man braucht nicht mehr in der Warteschleife zu verwesen oder ständig sein Anliegen wiederholen. Zudem werde die Autarkie des Kunden gestärkt. Bislang wartet man auf diese Apps vergebens.

„Man benötigt mitdenkende Dialogsysteme und das ist nur mit den Mitteln der Informatik und Künstlichen Intelligenz möglich“, weiß Klug, Mitinitiator der i-Service-Brancheniniative.

Um das zu erreichen, müssten die Unternehmen allerdings zuerst eine neue Gesprächskultur entwickeln, empfiehlt Patrick Breitenbach von der Karlshochschule im ichsagmal-Interview:

„Das Netz bietet unheimlich viel Raum für Informationen und Wissen, die dauerhaft abrufbar sind.“

Es könnten ganz neue Instrumenten der Marktforschung zum Einsatz kommen, die ein relativ ungefiltertes Bild der Beziehungen zwischen Unternehmen und Kunden liefern – im Gegensatz zur klassischen Marktforschung.

Ein Verständnis für die neue Aufmerksamkeitslogik des Internets ist in der Wirtschaft aber kaum vorhanden. In der Kundenkommunikation will man nach wie vor Herr der Lage sein. Kontrolle und Steuerung statt Loslassen. Dabei wäre es ratsam, so Breitenbach, die Markenführung dem Kunden zu überlassen.

Die Offenheit scheitert schon bei der Einrichtung und Pflege des Twitter-Accounts. Von WSJ-Techblogger Florian Bamberg eindrucksvoll am Beispiel der Energie-Riesen dargelegt:

„So hat der Konzern-Account von RWE 1911 Follower. Folgt man der Firma, erfährt man etwa, dass sie an Soziale Projekte spendet, oder dass der Chef Peter Terium einer der 33 erfolgreichsten niederländischen Manager ist, die im Ausland arbeiten. Das schreit nicht unbedingt nach einem Retweet (und hat auch gerade zwei bekommen). Vattenfalls Deutschland-Tochter – drittgrößter Versorger im Land – treibt das Unverständnis geradezu auf parodistische Höhen: Der Konzern hat sein Konto verschlüsselt, so dass nur die User folgen können, denen der Versorger es erlaubt. Am Ende könnte sich ja noch jemand informiert oder gar unterhalten fühlen.“

Offenheit und Partizipation scheuen die Anbieter wie der Teufel das Weihwasser, so meine Aussage in dem Blogpost: Wo ist die Service Intelligence? Über Vernetzungstrends im Kundendienst.

“Unternehmen sehen Kritik naturgemäß lieber in den dafür vorgesehenen Beschwerdekanälen, wo sie für die Außenwelt unsichtbar bleiben. Bei Twitter hingegen ist die Kritik öffentlich und lässt sich auch nicht einfach löschen wie zum Beispiel auf Facebook-Unternehmensseiten. Verbraucher haben damit einen Hebel, Unternehmen zu einer Reaktion zu bewegen”, schreibt Kathrin Passig in einem Beitrag für das Buch “Die Kunst des Zwitscherns” (erschienen im Residenz Verlag).

Mein Resümee: Mit der vorherrschenden Mentalität zur Abschottung brauchen die Unternehmen nicht länger von Big Data zu faseln. Wer sich dem Zugang zur Netzöffentlichkeit verschließt, kann auch die Früchte der Netzeffekte nicht ernten.

Siehe auch:

Aus Liebe zum Telefon verschläft man die Trends der Netzkommunikation: Die Wiederbelebung der Schriftkultur.

Nicht nur die Kundenkommunikation verschiebt sich ins Netz, auch das Sofa wird mittlerweile per Mausklick bestellt.

Update: Wie das Loslassen aussehen könnte, hat Professor Peter Kenning in einem Blogpost für Harvard Business Manager angedeutet:

„Die Idee, vom Kundenwert (Customer Equity) zum Wert des Kundennetzwerks (Customer Network Equity) weiter zu denken, ist spannend. Marketing sollte sich in einem zunehmend schwierigeren Umfeld stärker darauf besinnen, ‚Community Nudging‘ zu betreiben, also den vernetzten Kunden kleine ‚Schubser‘ zu geben, um sie in die gewünschte Richtung zu lenken. Insofern verändert sich die Rolle des Marketing weg vom ‚Management‘, das plant, ausführt und kontrolliert immer mehr zum ‚Enabling‘, das seinen Kunden die Interaktion und Co-Produktion auf bedürfnisgerechten Plattformen ermöglicht. Dabei muss es tendenziell mit Heuristiken arbeiten, da eine vollständig Planung nicht mehr möglich ist. Es könnte lohnenswert sein, diese neue ‚postheroische‘ Rolle des Marketings zu Ende zu denken, um zu erkennen, welche Einflussmöglichkeiten das Marketing in diesen neuen Strukturen haben kann.“

Das nun wiederum ergibt ja wieder eine neue Story. Interview und Anregungen wieder hoch willkommen. In diesem Kontext auch wichtig: Das von Kenning angesprochene Peer-Influencing, also der Einfluss Dritter auf den Kunden:

„Marketing muss sich davon verabschieden, alleine die Fäden in der Hand zu haben und Kundenbeziehungen bilateral zu denken.“

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