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Enterprise 2.0 und das digital-soziale Schwellenland: Oder doch eher Entwicklungsland?

Ist Deutschland ein Kollaborations-Schwellenland, fragt sich der PR-Blogger Florian Semle und gibt eine vielschichtige Antwort:

Die Kehrseite der Enterprise2.0-Saga werde meist von den Praktikern hinter vorgehaltener Hand erzählt:

“Mitarbeiter nutzen die frischen neuen Tools nicht, sondern bleiben beim bewährten ‘Laufwerk C’. Kunden und Partner, die sonst immer und überall dringenden Gesprächsbedarf haben, verweigern den Austausch auf der nagelneuen Plattform und das WIKI wird nur von der IT mit Inhalten gefüttert, weil sich sonst keiner zuständig fühlt. Diese zweite Wahrheit dominiert meines Erachtens derzeit in Deutschland – auch wenn wenig überraschend keine aktuellen Zahlen zu gescheiterten Unternehmensanwendungen vorliegen.
In technologischer Hinsicht sind wir hierzulande sicher weit voran geschritten – vielleicht ist dieser starke Fokus auf die Technik auch der Grund dafür, dass Deutschland auf anderem Gebiet deutlich weniger entwickelt ist: Bei der Konzeption, der Motivation und der sozialen Implementierung dürften wir uns in vielen Bereichen noch auf dem Niveau eines ‘digital-sozialen Schwellenlandes’ befinden – mit der Perspektive auf mehr.”

Ähnlich verhält es sich beim gähnend langweiligen Thema Unified Communications. Auch da wird viel gelabert, aber wenig umgesetzt. Weil man die IP-Kommunikation, Videokonferenzen und sonstige vernetzte Möglichkeiten der Unternehmenskommunikation ausschließlich mit überfrachteten Funktionen diskutiert und die Anliegen der Kunden schlichtweg ignoriert. Da werden zu viele Wunderkerzen gezündet. Und die Anbieter sollten sich die jeden Tag überprüfen, ob sie auch ihr eigenes Hundefutter mampfen oder nur über tolle Feature labern.

Der zweite von Semle benannte Hemmschuh für Enterprise 2.0-Technologien ist mindestens genauso gravierend:

“Das Kulturparadigma: Wenn fanatische Schachspieler Fußball spielen sollen, entsteht Rasenschach. Wenn eine hochindividualisierte, hierarchische oder ungesteuert kompetitive Unternehmenskultur mit kollaborativen Anwendungen konfrontiert wird, entsteht meist auch nichts Gutes. Wie in jedem Mannschaftssport müssen Teamgeist, Rollenmuster und kollektive Verhaltensweisen gegebenenfalls erlernt und geübt werden. Für Enterprise 2.0-Anwendungen heißt das, dass sie nur so gut sein können, wie die Kultur, in der sie eingesetzt werden. Wenn die kulturelle Passung zwischen Social Media und Unternehmenskultur nicht hergestellt werden kann, kommt es zwangsläufig zu sozialen Abstoßungsreaktionen. Das Kulturparadigma ist meines Erachtens die häufigste Ursache für das Scheitern von Enterprise 2.0, weil diese sozialen Faktoren meist unterschätzt und selten richtig bewertet werden. Wenn die technische Plattform der ‘Motor’ im Enterprise 2.0 ist, dass sind diese sozialen Faktoren der Treibstoff, ohne den alle Räder still stehen.”

In meiner Montagskolumne für das Debattenmagazin “The European” bin ich zu ähnlichen Schlussfolgerungen gekommen. Zwei Welten prallen im Netz aufeinander: Bürokratie und hierarchisches Management gegen verspieltes Experimentieren. Unternehmen, für die ein Twitteraccount schon die Zeitenwende bedeutet, werden daran verzweifeln.

Das langsame Tempo des Maschinenzeitalters gewährleistete eine Verzögerung der Reaktionen über beträchtliche Zeiträume hinaus. „Heute erfolgen Aktion und Reaktion fast gleichzeitig. Wir leben jetzt gewissermaßen mythisch und ganzheitlich, aber wir denken weiter in den alten Kategorien der Raum- und Zeiteinheiten des vorelektrischen Zeitalters“, schrieb Marshall McLuhan in seinem legendären Opus „Die magischen Kanäle“. Entsprechend steigt die Unzufriedenheit. Echtzeit-Management kann man nicht mehr mit den Methoden des Fordismus bewältigen. Es gehe nicht mehr darum, herauszufinden, wie sich das Flüchtige besser zementieren lässt, kommentiert die Publizistin Kathrin Passig. Wir müssten kompetenter im Umgang mit veränderlichen Konstellationen werden, anstatt napfschneckengleich an immer denselben Stellen klebenzubleiben.

Dabei reiche es aber nicht aus, sich das Etikett Enterprise 2.0 ans Firmenschild zu heften, warnt der Berater Alexander Greisle. Es gehe um nichts weniger als „einen Kulturshift“. Vorgesetzte müssten Offenheit lernen, Kontrolle abgeben, Ergebnisse auch aushalten: „Hat ein Unternehmen eine ausgeprägte Präsenz- und Meetingkultur, nützt es nichts, einfach Technik reinzupacken und zu behaupten: Wir sind offen für Digital Natives.“

Wer vernetztes Arbeiten erwartet, das Verschwimmen räumlicher und zeitlicher Grenzen, den Einsatz kollaborativer Werkzeuge, der tut sich mit nine to five, Hierarchien und der klassischen Kaminkarriere schwer: Man spüre fast körperlich den Praxisschock junger Menschen, die mit der klassischen Welt des Managements konfrontiert werden. Organisationen, die das nicht verhindern können, verlieren hoffnungsvolle Talente und verspielen über kurz oder lang ihre Zukunftschancen. Deshalb brauchen Unternehmen ein „neues Betriebssystem, um besser zusammenzuarbeiten und Wert zu schöpfen – ohne altes Denken in starren Kommandostrukturen“, so das Plädoyer von Don Tapscott. Seine Forderung versteht der kanadische Unternehmer und Management-Professor als elementare Voraussetzung dafür, dass Unternehmen erfolgreich bleiben. Denn in Zeiten, in denen Twitter und Facebook Börsenkurse und Markenimage unmittelbar beeinflussen, müssen Unternehmen vor allem das Wechselspiel mit den sozialen Netzwerken beherrschen.

Kontrollierter Kontrollverlust

Wer sich als Unternehmen auf die Social-Media-Welt einlässt, sollte sich in allen Geschäftseinheiten vom Mythos der absoluten Kontrolle, Rationalität und Planbarkeit verabschieden, empfiehlt der Kölner Softwareexperte Andreas Klug.

„Es reicht nicht aus, für die Kulisse ein kleines Twitter-Team im Kundenservice zu bilden und alles andere beim Alten zu belassen. Damit wird man kläglich scheitern. Der amerikanische Organisationspsychologe James G. March plädiert für eine ‚Technologie der Torheit‘. Er meint damit aber nicht Albernheit, sondern Verspieltheit, um Raum für Experimente zu schaffen. Organisationen kommen nicht ohne Wege aus, Dinge zu tun, für die sie keine guten Gründe haben. Es existiert in allen Entscheidungssituationen eine Menge Unsicherheit und Konfusion, die von den traditionellen Managementkonzepten und verstaubten BWL-Theorien ignoriert werden”, so Klug, Mitglied der Geschäftsführung von Ityx.

Klugheit im Durcheinander der Vernetzung speist sich nicht aus dem kümmerlichen Geist der liebwertesten Gichtlinge des Controllings. Wie man damit fertigwerden kann, beantwortete Marshall McLuhan mit Verweis auf eine Kurzgeschichte von Edgar Allen Poe. Dem Matrosen in Poes Abhandlung über den „Sturz in den Malstrom“ bleibt nichts anderes übrig: Er nutzt die Strömung des Wirbels gegen ihre eigene Gewalt. Man muss mit der Geschwindigkeit gehen können, um danach erst an jenen Stellen langsam zu werden, wo es sich lohnt. Das Internet ist nur eine Zumutung, wenn man versucht, es im Griff zu haben, so das Credo des Organisationspsychologen Peter Kruse.

Wer das Social Web oder Enterprise 2.0 nur in technologischen Dimensionen sieht, verkennt die Relevanz sozialer Prozesse: “Das neue Netz ist Metapher, Ergebnis und Voraussetzung von vernetzter Individualität und vernetzten Öffentlichkeiten zugleich, weil es einerseits Informationen, andererseits Menschen untereinander und miteinander verknüpft und füreinander auffindbar macht”, so Jan Schmidt in seinem Buch “Das neue Netz” (UVK-Verlag). Erst die Art und Weise, wie Menschen mit dem Internet umgehen und es in ihren persönlichen, schulischen und beruflichen Alltag einbinden, schaffe das neue Netz. Und hier hapert es kräftig an der Alltagstauglichkeit. Es dominiert immer noch die Arbeitsweise des Industriezeitalters.

Interessant auch:

Und mit den Anforderungen an eine neue Arbeitskultur tun sich auch die CIOs in den Unternehmen schwer:

Einfache industrielle Arbeiten werden in Deutschland kaum noch nachgefragt. Entsprechend hoch müsste die Bedeutung der IT-Chefs in den Unternehmen sein, da die postindustrielle Gesellschaft ihre Innovationen und ihren Fortschritt zunehmend aus der Informationstechnologie bezieht. Das Gegenteil ist jedoch der Fall, wie eine weltweite CIO-Umfrage des Beratungshauses Harvey Nash belegt:

„67 Prozent der befragten CIOs geben zu Protokoll, dass das Innovationspotenzial der IT nicht abgerufen wird. Die Relevanz der CIOs hat in den vergangenen Jahren gelitten. Die IT-Chefs werden zu Dienstleistern in der eigenen Organisation degradiert. Besonders während der Rezession ist die Zahl der CIOs, die direkt an den Vorstandschef berichten, drastisch zurückgegangen. So langsam kehrt sich dieser Trend um. Auch von den CIOs werden in den nächsten Jahren verstärkt wieder Innovationen für das Kerngeschäft gefordert. Das wandelt sich allerdings nur sehr langsamt“, so Udo Nadolski, Geschäftsführer von Harvey Nash in Düsseldorf.

Über den Autor

gsohn
Diplom-Volkswirt, Wirtschaftsblogger, Livestreamer, Moderator, Kolumnist und Wanderer zwischen den Welten.

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