Über die Unmöglichkeit, in der Netzöffentlichkeit authentisch zu sein


In meiner Kolumne für „The European“ beschäftige ich mich mit der Kunst der Verstellung, die in der Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts eine große Rolle spielte. Dabei geht es nicht um eine unehrenhafte Maskerade oder Betrug, sondern um eine pragmatische Sichtweise über die Spielregeln des öffentlichen Diskurses. Wer sich in sozialen Netzwerken bewegt, sollte sich auch damit beschäftigen, wie viel er von seiner Persönlichkeit preisgibt – ohne Entblößung und Seelenstriptease.

Man kann das Ganze sehr schön abgrenzen von der vermeintlichen Authentizität, im Internet inflationär in Anspruch genommen wird. Egal ob es sich um Firmen, Marken oder Menschen handelt. Alle meinen, authentisch rüber zu kommen. Wer das von sich selbst behauptet, ist es wohl eher nicht. Wie könnte ich so anmaßend sein, um zu meinen, ich würde authentisch wirken. Da liegt Sascha Lobo wohl goldrichtig: „Wie kann etwas authentisch sein in der Netzöffentlichkeit, wenn jedes Medium Inszenierung sein muss. Ich halte Authentizität für eine dramatisch überschätzte Eigenschaft. Im medialen Kontext kann man sie gar nicht darstellen.“

Entsprechend wichtig in dieser Authentizitätsdebatte sind die barocken Werke der Klugheitslehre. In Deutschland ist in erster Linie das von Schopenhauer ins Deutsche übersetzte „Handorakel“ des Jesuiten Balthasar Gracián bekannt. Wer sich in kurzer Zeit einen Überblick verschaffen will, sollte das grandiose Opus „Die schonende Abwehr verliebter Frauen“ von Adam Soboczynski lesen: Das Inhaltsverzeichnis wirkt schon programmatisch. „Niemals perfekt scheinen“, „Auszuteilen verstehen“, „Einzustecken wissen“, „Witz zeigen“, „Vertrauen erzeugen“, „Mit Bildung glänzen“, „Einen Kompromiss vortäuschen“, „Höflichkeiten austauschen“, „Peinlichkeiten verkraften“, „Sich selbst belügen“, „Dünn sein“, „Über Bande spielen“, „Seine Meinung ändern“. Soboczynski wandelt auf den Spuren von Gracián.

Weit weniger bekannt sind die Abhandlungen von Karl Heinricht Seibt – der erste Universitätsprofessor der deutschen Sprache in Prag. Seine Bemühungen um ein sauberes Deutsch führte dazu, dass man die Hochsprache im 18. Jahrhundert als „Seibtisch reden“ bezeichnete.

1799 veröffentlichte er ein zweibändiges Werk mit dem Titel „Klugheitslehre, praktisch abgehandelt in akademischen Vorlesungen – zu haben im Eisenwangerschen Verlagsgewölbe in der Eisengasse, Nro. 31“. Seibt richtete die Lebensweisheiten an seine Studenten: „Gegenwärtige Vorlesungen war gar nicht zum Druck bestimmt, vielleicht auch nicht geeignet. Meine Absicht dabey gieng lediglich dahin, meine Schüler für den Uebergang aus dem akademischen kontemplativen Leben in das praktische, geschäftige, überhaupt für den Eintrit in die Welt mit etwas Menschenkenntniß und Klugheit auszustatten.“ Seinen Empfehlungen zur Verstellung und Anstellung setzte er eine Ermahnung voran: „Wahre Klugheit – wie wir so eben angemerkt haben – bedient sich keiner unerlaubten Mittel zu erlaubten Endzwecken. In der 5. Regel empfiehlt er: „Alle Verstellung und Anstellung, die keinen andern Endzweck hat, als die eingeführten Gesetze der Wohlanständigkeit und guten Lebensart zu verfolgen, ist erlaubt“.

Die 3. Regel sollte man auch in sozialen Netzwerken befolgen: „Seine Glücks- und häuslichen Umstände darf man, wo es unser Vortheil erheischt, und wo es nicht auf unerlaubten Betrug abgesehen ist, allen Denen verbergen, die kein Recht haben, davon unterrichtet zu seyn.“

Die Klugheitslehrer, von denen ich nur zwei Meister erwähnt habe, vermitteln nicht ein Vademekum für Manipulation, Lug und Trug, sondern bieten einen reichen Erfahrungsschatz, um Manipulation, Betrug, Macht, Tricksereien, eitles Geschwätz und wichtigtuerisches Gehabe zu erkennen, zu entlarven und zu kontern.