Mein Gott, fast jeden Tag lässt der FAZ-Neuro-Feuilletonist Frank Schirrmacher irgendeinen so genannten Experten zu Wort kommen lässt, der seine manischen Web-Ängste, Multitasking-Phobien und Hirntheorien bestätigt. Diesmal ist es ein Professor für Medizinische Psychologie mit dem Namen Ernst Pöppel. Facebook, Twitter, SMS und E-Mails würden uns in eine extreme Form der Überforderung stürzen – Schirrmacher-Theorem Nummer eins. Multitasking sei streng genommen grober Unfug und unmöglich – Schirrmacher-Theorem Nummer zwo. Man müsse lernen, davon Abstand zu nehmen. Diese Fähigkeit sei in den letzten Jahren leider sehr verlorengegangen. Viele Studenten seien in 45-Minuten-Vorlesungen schon nach zehn Minuten nicht mehr aufnahmefähig und schalten ab – Schirrmacher-Theorem Nummer drei.
Es würde helfen, wenn in Deutschland eine Stunde am Tag gar nicht telefoniert würde – schwachsinniger Vorschlag, der ein wenig an eine Forderung von Helmut Schmidt erinnert. Wie wäre es denn mal mit einem Tag ohne FAZ? Könnte man wesentlich schneller in die Tat umsetzen.
Es gebe die Angst, die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe von Personen zu verlieren, ausgeschlossen zu sein. Allerdings spiele die Selbstinszenierung in solchen Netzwerken oft eine größere Rolle als die Kommunikation – ist das ein neues Phänomen, Herr Pöppel? Auch die Selbstinszenierung ist eine Form der Kommunikation. Studieren Sie mal die höfische Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts. Jeder setzt sich mit bestimmten Methoden in Szene. Das sind schlichtweg Maßnahmen der Selbsterhaltung und können überaus amüsant sein: Vox, vultus und gestus galten im Barockzeitalter als essentiell, um in der Öffentlichkeit Wirkung zu erzielen und zu überzeugen. Gleiches praktizieren Sie doch auch, Herr Pöppel, mit folgender nett formulierten Polemik: “Facebook beispielsweise ist eine Art Selbstprostitution, eine Offenlegung von Intimität ohne Verpflichtungen. Man öffnet sich nicht wirklich, will sich aber zeigen. Es ist gewissermaßen Selbstkommunikation – ein öffentliches Tagebuch, das nur so tut, als wäre es Kommunikation.”
Gut gebrüllt, Pöppel. Wie viele Facebook-Profile oder Fan-Seiten haben Sie denn gesichtet? Wie lange haben Sie die Kommunikation auf Facebook beobachtet? Sie finden höchst eloquente Konversationen und zugleich dussligen Tratsch. Ein Querschnitt des Lebens. Sie finden zudem eine neue Öffentlichkeit, die es im 18. Jahrhundert in englischen Kaffeehäusern, in französischen Salons und deutschen Tischgesellschaften gab. Allerdings ohne snobistisch-elitären Anstrich und ohne hierarchische, räumliche, zeitliche oder finanzielle Barrieren. Da wird über Kunst, Literatur, Geschichte, Politik, Wirtschaft oder Musik diskutiert. Da gibt es Initiativen, um Persönlichkeiten wie Diane Budisavljević, die in der Nazi-Zeit vielen jüdischen Kindern das Leben rettete, wieder ins Gedächtnis zu bringen (in Serbien laufen Vorbereitungen auf Hochtouren, um das Leben dieser tapferen Frau zu verfilmen, kleiner Exkurs. Habe in Belgrad mit dem Filmproduzenten über dieses Projekt gesprochen – werde demnächst darüber berichten).
Bevor Sie die Schirrmacher-Thesen bestätigen, sollten Sie sich etwas genauer mit der Thematik beschäftigen, Herr Pöppel!
Hallo, Gunnar, ich hatte früher eine ältere Dame in meiner Bekanntschaft, die mit Herrn Pöppel befreundet war. Du kennst die Dame. Damals in den frühen 90er Jahren war ich schon eine Weile dazu übergegangen, meine Texte am Computer zu schreiben. Die Freundin von Pöppel wollte mir das dringend ausreden. Prof. Pöppel habe ihr erklärt, dass das Schreiben am Computer das Gehirn unter ständige Stromstöße versetze. Das würde die Kreativität zerstören. Das Gehirn brauche die sanfte Wellenbewegung des handschriftlichen Schreibens, um einen guten Text zu erzeugen. Ich habe damals auf Bach und Beethoven hingewiesen, die ihr Gehirn am Cembalo und am Klavier mit Stromstößen wohl ziemlich malträtiert haben. Ihre Kreativität scheint darunter nicht besonders gelitten zu haben. Und ob Glenn Gould wegen seiner lebenslangen Arbeit an einer Tastatur ein bisschen verrückt war, kann nicht geklärt werden. Andere Pianisten sind uralt und wunderbar geblieben.
Wow, Edgar, das macht das Bild ja noch klarer. Klar, ich kenne die Dame, die höchst kritische mit dem Thema Digitalisierung umgegangen ist…..
Ich weiß natürlich nicht, was Pöppel der Dame wirklich gesagt hat. Aber auch das, was er jetzt schriftlich in der FAZ niedergelegt hat, ist gewiss nicht die Frucht der empirischen Forschung. Wenn man, wie Du gut gezeigt hast, ein bisschen historisch zurückschaut, sieht man, dass das Prinzipielle am Neuen (Selbstinszenierung, Selbstvermarktung usw) das Alte ist unter neuen Bedingungen.
Wenn man unter Google nachschaut, wird man schnell fündig. Der hat einiges zu diesem abgesondert. Vielleicht liegt er mittlerweile mehr als 15 Minuten täglich in seiner Büro-Hängematte – das macht schlecht Laune, wie Pöppel selber gesagt hat.