Wetterfrösche im Datenschutz und in der Marketingzunft: Wenn man die Bäume vor lauter Wald nicht mehr sieht

Technokraten und Kulturpessimisten neigen scheinbar zu Pauschalisierungen. Sie sehen die Gesellschaft eher in Aggregatzuständen und Menschen als amorphe und leicht steuerbare Masse.

Das gilt für die Adepten der Online-Marketing-One-to-One-Personalisierungs-Matchmaking-Zielgruppen-Gedöns-Propaganda und auch für die Alarmisten des Datenschutzes, die vor dem Ausverkauf meiner Privatsphäre warnen und mich schützen wollen – obwohl ich ihnen dafür das Mandat gar nicht erteilt habe. Zudem sehen sie mich als dummen User, der sich mit irgendwelchen geheimen Methoden aufs Glatteis führen lässt. Datenschutz-Deichgraf Thilo Weichert meint sogar, dass ich doof sei, weil ich Dienste von Google und Facebook nutzen würde. Vielleicht bin ich ja auch doof, aber Weichert muss nicht unbedingt schlau sein. Beide Gruppen – also die Kulturpessimisten und die Technokraten – sind Opfer ihres ideologischen Weltbildes. Sie verkünden Gewissheiten, die sich in Wirklichkeit als Schimäre herausstellen.

Liebe Datenschützer, fürchtet Euch nicht vor amerikanischen Konzernen und den Verheißungen der Analysetool-Einschaltquoten-Klickraten-Personalisierungs-Neuromarketing-Psycho-Markforschungs-Wichtigtuer. Die Welt wird unkontrollierbarer und unberechenbarer. Und sie war es auch früher schon. Die Werbeindustrie sucht nun schon seit Jahrzehnten verzweifelt nach Methoden, das Verhalten von Menschen, besonders von Verbrauchern, logisch zu ergründen. In Kaufsituationen ist es schlichtweg unmöglich, eineindeutig auf das tatsächliche Verhalten einzuwirken. Seit den 20er Jahren versucht man deshalb, mit der Tiefenpsychologie des ollen Sigmund Freud und der deutschen Gestaltphilosophie Methoden der Manipulation zu entwickeln.

Nachzulesen in dem Bestseller von Vance Packard, „Die geheimen Verführer – Der Griff nach dem Unbewussten in jedermann“. Da ist natürlich auch der Wunsch Vater des Gedankens. In der Regel sind das pseudowissenschaftliche Abhandlungen auf Sesamstraßen-Niveau. Das Büchlein von Packard prägte die Vorstellung eines ohnmächtigen, von Medien und Werbung wie eine Marionette geführten Konsumenten.

„Diese Leitvorstellung hielt sich bis in die siebziger Jahre – allerdings hatte das angebliche Medienopfer da mit der Fernbedienung längst ein bedeutendes Machtinstrument in der Hand. Für Werbetreibende und Programmgestalter wurde der Mediennutzer zu einem potenziell treulosen Wesen. Mit dem Internet hat sich die Kanalvielfalt und die Bewegungsfreiheit der Nutzer ins Millionenfache erweitert. Vor allem: Wenn an irgendeiner Stelle zensiert, manipuliert oder intransparent gefiltert wird, wird darüber nicht mehr nur in herkömmlichen Massenmedien berichtet, sondern auch in den zahllosen neuen Meinungsblasen im Netz – von kleinen Kommentarfeldern bis hin zu großen Blogs und sozialen Netzen“, sagt der Publizist Peter Glaser. Nachzulesen in meinem heutigen Netzdebatten-Beitrag für die absatzwirtschaft „Die Angst der Datenschützer vor amerikanischen Konzernen“.

Schaut man sich die Methoden der Marketingindustrie etwas genauer an, kommt häufig nur heiße Luft raus. Von einer kontextsensitiven und interessensgenau ausgesteuerten Online-Werbung ist man noch weit entfernt, moniert der Deus ex Machina-Blogger der FAZ.

„Wie schon vor Jahresfrist berichtet, bekommt der Verfasser dieses Beitrags bisweilen immer noch Werbung für Singeportale und Dating-Seiten eingeblendet – und das auch dort, wo er seit Jahren die Information ‚verheiratet‘ im Mitgliederprofil stehen hat. Das Versprechen der nur noch auf echte Interessen des Users zielenden Werbung harrt also nach wie vor seiner Einlösung. Und selbst eine Datenkrake wie Facebook, der ja nachgerade ein Füllhorn an kommerziell vielversprechenden Eigenangaben von Mitgliedern zur Verfügung steht, landet (wenn überhaupt) oft eher Zufallstreffer.“

Thorsten Kleinz hat für das ZDF-Blog Hyperland aufgelistet, was Facebook ihm als „Werbeanzeigen, die Ihnen vielleicht gefallen könnten“ präsentierte. Sein ernüchtertes Fazit:

„Der Deal war eigentlich: ich gebe Facebook meine Daten und dafür liefert mir das Ach-so-sozial-Netz die passende Werbung, punktgenau auf meine Bedürfnisse abgestimmt. Doch auf meinem Bildschirm geht der Deal nicht auf. Statt interessanter Werbung bekomme ich Einheitsbrei vorgesetzt. Und der ist von sagenhaft schlechter Qualität.“

Das bestätigt auch Kathrin Passig:

„Zum einen sind viele dieser Algorithmen – und es sind gerade die, mit denen Teilzeitinternetnutzer in Berührung kommen – nicht besonders ausgefeilt. Amazon empfiehlt mir regelmäßig den Kauf meiner eigenen Bücher, Google+ schlägt seinen Nutzern vor, sich mit ihren eigenen Zweit-Accounts zu befreunden. Aus diesen schlechten Erfahrungen lässt sich aber noch nichts Allgemeingültiges über maschinell erzeugte Filter und Empfehlungen ableiten.“

Dabei wäre es doch ein Schritt nach vorn, wenn individuell zugeschnittene Empfehlungsalgorithmen die Käufer schon jetzt vom Mainstream weg und in Nischen hineinsteuern. Dann müsste ich viel öfter Bücher von Kadmos, Matthes & Seitz oder transcript eingeblendet bekommen. Das passiert aber nie.

„Die Flut zur Verfügung stehender Daten in Echtzeit zu managen ist die Königsdisziplin in der Arbeit mit Algorithmen – und der Punkt, an dem bereits die meisten Vorhaben scheitern“, sagt Robert Lang von der Agentur Criteo.

Die Hybris der Hightech-Kaffeesatzleser

Er muss sich nicht grämen. Den Konjunkturforschern ergeht es nicht besser. Die sind auch nur wirtschaftswissenschaftliche Wetterfrösche, so Wolfgang Streeck. Die Konjunkturforschung, die uns pro Jahr zweistellige Millionen-Beträge kostet, bezeichnet Streeck als falschen, aber wirkmächtigen Zauber. Konjunkturforscher erscheinen als Hightech-Kaffeesatzleser, die Politiker und Wirtschaftskapitäne in die Zukunft träumen lassen und für ihre Fehlprognosen so viel öffentliche Aufmerksamkeit erhalten, dass sie den ökonomischen Gang der Dinge tatsächlich beeinflussen. Ein Hintergrundverständnis der Gesellschaft geht den Ökonomen ab. Die setzen sich in ihren theoretischen Modellen zu wenig mit der Lebenswirklichkeit der Menschen auseinander. Das gilt übrigens für alle Denkrichtungen der VWL – von Hayek bis Keynes.

Sozialwissenschaften – besonders die Politikberater in den Wirtschaftsforschungsinstituten – vertreten eine mechanistische Weltsicht, kritisiert Streeck, Direktor am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln. Sie blenden den Faktor Ungewissheit aus.

„Jede Betrachtung gesellschaftlicher Prozesse hat es mit Fallzahlen zu tun, die niedriger sind als die Zahl der Faktoren, die als Erklärung in Frage kommen. Damit aber gibt es für jeden gegenwärtigen Zustand unvermeidlich mehr als eine gültige Erklärung, und jeder zukünftige Zustand erscheint als einmaliges Resultat eines einmaligen Zusammenwirkens einer Vielzahl von Faktoren, als Unikat, für das es keine Normalverteilung gibt und dessen Besonderheiten deshalb nicht auf allgemeine Gesetzmäßigkeiten reduziert werden können“, schreibt Streeck in dem Sammelband „Wissenschaftliche Politikberatung“, erschienen im Wallstein Verlag).

Menschen jenseits der Normalverteilung

Trotzdem versuchen natürlich Politiker und auch Marketing-Gurus, unser Handeln zu beeinflussen oder sogar zu steuern. Wenn Menschen das durchschauen, passiert sogar das Gegenteil. Solche Dinge bleiben eben nicht geheim. Instrumente zur Verhaltenskontrolle oder Verhaltensmanipulation werden über kurz oder lang bemerkt. Man erkennt die Absichten und verhält sich absichtsvoll anders. Streeck verweist auf die Hawthorne-Experimente (1924 bis 1932). Forscher wollten herausgefunden haben, dass Arbeiterinnen auch ohne Lohnerhöhung schneller und besser arbeiten, wenn man freundlich zu ihnen ist (wie großzügig, gs) und die Wände gelb anstreicht.

„Aber nachdem sich unter den Beschäftigten herumgesprochen hatte, dass das Management mit seinen guten Worten und der gelben Farbe nur Geld sparen sollte, kam es zu Lohnforderungen und einem Streik“, führt Streeck aus.

Die Geltung derartiger Modell und Theorien könne durch ihr Bekanntwerden schnell wieder außer Kraft gesetzt werden!

Ein probates Gegenmittel zur Entlarvung von einfachen Wahrheiten, Modellen und Theorien hat Dr. Gerhard Wohland ins Spiel gebracht.

In jeder Organisation sollte man nach Übertreibungen suchen. Wer sie findet, besitzt wertvolle Potenziale, um sich zu verbessern.

„Vom Controlling wird verlangt, eindeutige Prognosen für die Zukunft zu liefern. Mit einem Plan, einem Budget und allem, was damit zusammenhängt. Dann tun die Controller das, was man von ihnen erhofft. Aber die Controller sind natürlich die ersten, die sehen, dass das alles nicht zusammenpasst. Kein Plan tritt tatsächlich ein. Die Zeiten sind längst vorbei, die komplexen Vorgänge in Wirtschaft und Gesellschaft prognostizieren zu können. Wir nennen das oft Basar- oder Theaterkommunikation. Jeder spielt eine Rolle. Jeder weiß, dass er eigentlich Unsinn redet. Und der Gesprächspartner weiß es auch. Also passiert nichts Besonderes. Es ist wie bei des Kaisers neuen Kleidern. Es darf keiner kommen und das Ganze tatsächlich so beschreiben, wie es ist – der fliegt in der Regel raus. Der stört das System“, weiß Wohland.

Datenschützer sollten dadaistischer agieren

Oder man greift zum Buch „Wider den Methodenzwang“ meines Lieblingsphilosophen Paul Feyerabend. Erfrischend sein Bekenntnis zum Dadaismus. Das einzige, wogegen sich der Dadaist eindeutig und bedingungslos wendet, sind allgemeine Grundsätze, allgemeine Gesetze, allgemeine Ideen wie „die Wahrheit“, „die Vernunft“, „die Gerechtigkeit“, „die Liebe“ und das von ihnen hervorgerufene Verhalten, wenn er auch nicht bestreitet, dass es oft taktisch richtig ist, so zu handeln, als gäbe es derartige Gesetze und als glaube er an sie. Der Dadaist vereint Vernunft und Unvernunft, Sinn und Unsinn, Plan und Zufall – sie gehören als notwendige Teile eines Ganzen zusammen. Denn letztlich ist alles ein Produkt unserer schöpferischen Einbildungskraft und nicht das Ergebnis eines Universums von Tatsachen.

Besonders Datenschützer sollten dadaistischer agieren und sich von ihrer volkspädagogischen Emphase verabschieden. Mit den Verheißungen der Marketing-Gurus werde ich schon alleine fertig. Ich bestrafe sie mit Spott und Häme. Das gefällt mir :-)!