Roger Willemsen und die Kunst der Interaktion #bloggercamp #litcologne

Lesung auf dem Literaturschiff

Wie schön wäre es gewesen, den Auftritt von Roger Willemsen, Claudia Michelsen und Christian Brückner auf dem Literaturschiff der Litcologne live ins Netz zu streamen und zu erleben, wie Willemsen in der ersten Sekunde seiner Moderation das Publikum in seinen Bann zieht:

„Wir sind beisammen, es ist eine miese Dienstagnacht in Köln und wir können heilfroh sein, dass wir das Ufer gleich hinter uns lassen und hinaus in die Welt schippern. Machen Sie sich klar, dass wir die Welt verlassen. Denn wir werden Kontinente kennenlernen, Jahrhunderte kennenlernen. Wir werden in Wirklichkeiten geführt, von denen Sie keine Ahnung hatten, dass Sie heute Abend mit ihnen in Berührung kommen würden. Sie wollen bestimmt nicht mit allen diesen Wirklichkeiten in Berührung kommen, aber Sie werden! Die Reportage ist eine Gattung, die ansteckend wirken kann….“

Es lohnt sich, meinen kurzen rund fünfminütigen Mitschnitt der Eröffnungsrede von Willemsen bis zum Ende anzuhören.

Wer keine Karte für die Schiffstour ergattern konnte, muss sich bis zum Sommer gedulden, wenn der WDR 5 den Exkurs über die Reportage als Literaturgattung am 4. August in der Sendereihe „Literatursommer“ ausstrahlt.

Um das hautnah zu erleben, muss man dabei gewesen sein – real oder virtuell. Mit einem Format wie Hangout on Air könnte man diese Atmosphäre hautnah einfangen und eine neue Gesprächsform für Abwesende etablieren. Das wollen wir mit unserem fließenden Un-Buch über die Streaming Revolution unter Beweis stellen. In der gestrigen Sendung des Bloggercamps habe ich die Sprachästhetik von Roger Willemsen in den höchsten Tönen gelobt.

Sie würde sich auch im direkten Austausch mit der Netzöffentlichkeit bewähren und die Interaktion im Social Web beflügeln.

Wir werden uns jetzt auf die Suche begeben, spannende und experimentelle Projekte für das Internet-Streaming zu finden, selbst zu kreieren und zu fördern: Auf den Spuren der TV-Autonomen :-). Do-It-Yourself-Fernsehen bildet die Realität nicht nur ab, sondern bietet echten Einblick. Was diese Entwicklung für ein Potenzial hat, zeigt eine revolutionäre Erfindung der alten Griechen.

Vielleicht sind es zwei Phänomene, die sich auch in der Videokommunikation ausdrücken werden. Sie wurden vom Medientheoretiker Douglas Rushkoff auf der Digitalkonferenz South by Southwest (SXSW) in Austin/Texas vorgestellt. Siehe den Bericht von ausführlichen Bericht von Ulrike Langer:

Narrative collapse: Dramaturgisches Erzählen weicht non-linearen, offenen Erzählmustern. Wie in einem Videospiel hat der Nutzer jederzeit eine Fülle von Optionen.

Digiphrenia: Digitale Plattformen und Werkzeuge lassen uns an vielen Orten zur gleichen Zeit sein.

Um das herauszufinden, haben wir heute eine Umfrage gestartet, die noch bis zum Sonntag der nächsten Woche läuft. Es wäre toll, wenn sich viele daran beteiligen würden.

Man hört und sieht sich.

Von der Lust am Scheitern: „Jeder Peinlichkeit wohnt eine Erleuchtung inne“

Scheitern gehört zur Disruption

Der Gaming-Kenner Christoph Deeg plädiert für eine Kultur des Scheiterns:

„Wir müssen akzeptieren, dass es nicht um die Tatsache geht, dass jemand einen Fehler gemacht hat. Es geht vielmehr darum gemeinsam aus diesen Fehlern zu lernen. Interessanterweise ist dieses Try-and-Fail-Prinzip ein elementarer Bestandteil des Gamings. Gamer sind es gewohnt, Fehler zu machen und sich in den jeweiligen Communitys darüber auszutauschen. Die Gamer sind uns also einen Schritt voraus. Natürlich weiß ich, dass es Dinge im Leben gibt, bei denen Try-and-Fail nicht funktioniert oder nicht wünschenswert ist. Natürlich möchte ich nicht, dass mein Chirurg mal Lust hat, etwas Neues auszuprobieren. Aber in der Breite fehlt uns die Bereitschaft Fehler anzuerkennen. Dass wir sie machen, ist klar – würden wir sie kommunizieren, würden wir alle und vor allem schneller lernen können“, so das sehr sympathische Bekenntnis von Christoph.

Man könnte auch von einer Lust am Flop, Debakel oder an der Blamage sprechen, wie mein Lieblingsschriftsteller Hans-Magnus Enzensberger.

Jeder Peinlichkeit wohnt eine Erleuchtung inne, und „während der Arbeiter im Weinberg der Kultur seine Erfolge rasch zu vergessen pflegt, hält sich die Erinnerung an einen Flop jahre-, wenn nicht jahrzehntelang mit geradezu blendender Intensität. Triumphe halten keine Lehren bereit, Misserfolge dagegen befördern die Erkenntnis auf mannigfaltige Art. Sie gewähren Einblick in die Produktionsbedingungen, Manieren und Usancen der relevanten Industrien und helfen dem Ahnungslosen, die Fallstricke, Minenfelder und Selbstschussanlagen einzuschätzen, mit denen er auf diesem Terrain zu rechnen hat“, schreibt Enzensberger in seinem Opus „Meine Lieblings-Flops, gefolgt von einem Ideen-Magazin“ (Suhrkamp Verlag).

Raum für Ideen

Im letzten Teil seines Buches präsentiert er ein Ideen-Magazin ein ganzes Füllhorn an Ideen, die über das Stadium der Skizze nie hinausgekommen sind. Dafür beansprucht Enzensberger kein Copyright! Sollte jemand im Heuhaufen der liegengebliebenen und verwaisten Pläne etwas Brauchbares finden, so kann er zugreifen. Wer das Ideen-Magazin plündere, braucht nicht zu befürchten, dass ein Rechtsanwalt mit irgendwelchen Forderungen an seine Tür hämmert. Hier genüge eine Fußnote. Da könnten sich die Abmahne-Gichtlinge eine Scheibe von abschneiden.

Ein Meister des Scheiterns ist auch Léo Apotheker, der am Wochenende in der FAZ porträtiert wurde: „Und Léo war raus“. Bei SAP und HP ist er als Vorstandschef kalt abserviert worden. Er mag als Führungskraft gescheitert sein, nicht aber als Visionär und analytischer Kopf für die vernetzte Ökonomie. So wollte er für den Weltmarktführer von Unternehmenssoftware einen Strategiewechsel durchsetzen und künftig schneller als bisher Softwarelösungen auf den Markt bringen sowie enger mit den Kunden zusammenarbeiten. SAP, so Apotheker, biete häufig noch zu komplizierte Softwarepakete für Unternehmen an und müsse einfacher werden.

Apotheker, der mehr als 20 Jahre bei SAP tätig war und sich vom Vertriebsmanager zum Vorstandssprecher hocharbeitete, galt im persönlichen Umgang als schwierig, was vermutlich auch seinen Abgang beförderte. Ihm wurde zudem vorgeworfen, zu stark auf den Vertrieb fokussiert zu sein und die Produktentwicklung zu vernachlässigen. Apothekers Zukunftsprogramm firmierte unter dem Begriff „simplicity“, Einfachheit – eine Hausaufgabe, die SAP noch erledigen muss. Weit mehr als bisher sollte die wachsende Komplexität der Wirtschaft und damit auch die Software von SAP hinter intuitiven Benutzeroberflächen und leicht verständlichen Visualisierungen versteckt werden.

„Unternehmenssoftware“, so Apotheker, „muss so leicht konsumierbar werden wie Web 2.0-Dienste oder sogar Videospiele.“

Die Stärke des Walldorfer Konzerns, komplexe Lösungen für komplexe Unternehmen zu schaffen, wollte er mit dem kreativen Talent der Amerikaner verbinden, „etwas marktgerecht so darzustellen, dass es jeder haben will.

Eine Aufgabe, die sich die IT-Industrie hinter die Ohren schreiben sollte – übrigens auch HP, die Apotheker aus der PC-Ecke rausführen wollte.

„HP hatte seit den neunziger Jahren keine maßgeblichen technischen Entwicklungen mehr geprägt, hatte mit der umstrittenen Übernahme des PC-Herstellers Compaq ins falsche Geschäft investiert, masshaft zugekauft und Riesentalente verloren“, so Apotheker gegenüber der FAZ.

Das einstige Vorzeigeunternehmen des Silicon Valley entwickelte sich zum Pflegefall.

Auch die Software-Anbieter können sich das Diktum von Apotheker hinter die Ohren schreiben, da sie ihre Kunden immer noch zu „digitalen Aktenknechte“ ihrer Anwendungen degradieren, wie es David Gelernter formuliert hat.

Als Impulsgeber bleibt der Kosmopolit Apotheker aktiv. Er hat den Plan, IT-Unternehmen zu verbinden, die gute Geschäftsideen auf der Basis der digitalen Vernetzung ganzer Industrien haben. Beispielsweise unter dem Stichwort Smart Grids.

Hier könnten europäische Unternehmen im IT-Wettbewerb mit den USA Boden gutmachen. Davon ist auch der Netzwerk-Spezialist Bernd Stahl von Nash Technologies überzeugt, der zu den Geburtshelfern des Blogger Camps zählt.

Man müsse darüber nachdenken, Energie genauso zu routen wie es im Internet mit Datenpaketen geschieht, skizziert Stahl ein wichtiges technologisches Trendthema für 2013. Hier geht es um digitale Grid-Router, um den Strom von Netz zu Netz weiterzuleiten. Für den Erfolg der Energiewende seien Speichertechnologien im Verbund mit intelligenten Routing-Systemen unabdingbar.

„Die Einführung erneuerbarer Energien führt zu Fluktuationen, die man nicht mehr zentral verwalten kann. Man muss also dezentrale Strukturen einführen. Die Grundarchitektur wird dem Internet ähneln. Es wird autonome Stromnetze geben, die untereinander asynchron aber dennoch verbunden sind. Alle Erzeuger werden so etwas wie eine IP-Adresse bekommen“, prognostiziert Stahl.

Hannes Schleeh und Bernd Stahl schwärmen zudem von den Möglichkeiten der Google-Brille. Google Glas ist als Developer Edition schon für 1500 Dollar zu haben – ein überschaubare Investitionsrisiko. Das könnte man sich als Entwickler leisten, um an einer Art Post-Smartphone zu arbeiten.

„Der Einstieg ist preiswert und man lernt eine Menge über zukünftige Technologien. Wer hier unterwegs ist, der arbeitet an der nächsten Generation von Smartphones, Medical Sensory Devices und einer völlig neuen Verknüpfung von digitalen Diensten“, meint Stahl.

Und wenn sich nicht alles durchsetzt, bereitet man trotzdem den Weg zu völlig neuen Szenarien in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik. So wie es der Weltraum-Pionier und „sächsische Ikarus“ Karl Hans Janke vorgelebt hat – in der Psychiatrie. Der Fantast und Flugvisionär war kein Idiot. Er kannte nur ein Ziel, nämlich die Menschheit aus ihrem Gefängnis zu befreien und sie in eine bessere Welt zu führen. Seine Konzeptionen für Raketen und Raumfähren, seine Konstruktionszeichnungen und Beschreibungen sind so genial wie die Arbeiten von Leonardo Da Vinci. Siehe auch: Der Leonardo da Vinci der Heilanstalt – Matthias Brand trifft Karl Hans Janke. Die Veranstaltung der LitCologne ist leider schon ausverkauft. Habe keine Karten mehr bekommen, schnief. Wie wäre es mit einer Live-Übertragung via Hangout On Air?

Man braucht vielleicht auch eine Portion Größenwahn, um auch Großes zu vollbringen, wie es auf der DLD-Konferenz in München ausgedrückt wurde. Man braucht wohl noch mehr den Mut, gnadenlos mit seinen zu scheitern, um aus dem Trümmerhaufen der Ideen das Beste herauszuholen.

Zum Marktplatz der Ideen entwickeln sich mittlerweile Crowdfunding-Plattformen. Hier kann man ebenfalls ohne großes Risiko experimentieren. Siehe: Erfolgreiches Crowdfunding für Jedermann: Ein Zwischenfazit.

Feuilleton-Beherrscher Martin Amis auf der lit.COLOGNE: „Eros als Lebensantrieb“

„Martin Amis, Sohn des mittlerweile verstorbenen erfolgreichen Romanciers Kingsley Amis, startete als Wunderkind in den Literaturbetrieb hinein – und sein erster, vor vielen Jahren erschienener Roman, ‚The Rachel Papers‘, war grandios; und er hat sich zum bestbezahlten „ernsten“ Romancier Englands entwickelt. Seine Vorschüsse bereiten dem englischen Geistesleben Wechselbäder aus Neid und Begeisterung. Er hat es geschafft“, so beschreibt Walter Klier in der FAZ den Autor, der gestern auf der lit.COLOGNE sein neuestes Werk „Die schwangere Witwe“ im 28. Stockwerk des Hochhauses mit dem sinnigen Namen „Sky“ vorstellte.

Moderiert von der Spiegel-Autorin Susanne Weingarten. Der Schauspieler Nikolaus Benda übernahm die Lesung der deutschen Übersetzung.

Ein Grund für den Erfolg von Amis sieht Walter Klier in der Art, wie er das Feuilleton beherrscht. Er wisse genau, was man wie schreiben muss, um am „cutting edge“ zu sein oder „absolument moderne“, wie es im neunzehnten Jahrhundert als Muss für den Künstler formuliert wurde.

„Die schwangere Witwe berichtet von der Zeit, als sich die Liebe vom Sex trennte. Eine urkomische Abrechnung mit den Errungenschaften der sexuellen Revolution vom Bad Boy der englischen Literatur“, so lautet die Ankündigung der Lesung auf der Website des Veranstalters.

Amis hat schon vor 40 Jahren über die 1970er Jahren geschrieben – sehr zeitnah und dringlich. Es sei aber eine andere Situation, jetzt noch einmal zurückzublicken. Für ihn war die sexuelle Revolution ein beherrschendes Thema – im Gegensatz zur Generation der Väter und Großväter. Wenn man älter werde und irgendwann an die Schallmauer des 50. Lebensjahres heranrückt, merkt man, dass das Leben auf sonderbare Weise dünner wird und verflixt schnell vorbeigeht.

„Und mit Anfang 50 findet man einen bis dahin unbekannten Kontinent, wie eine Art Flügel im eigenen Lebenshaus, den man bis dahin gar nicht gekannt hat. Und das ist die eigene Vergangenheit, die man als solche gar nicht so wahrgenommen hat. Die es im eigenen Kopf gar nicht gegeben hat. Man fängt an, diesen Kontinent zu entdecken und zu erobern“, so Amis.

Vor allem den erotische Teil: Eros als Lebensantrieb. Dann komme das 60. Lebensjahr, eine Zahl, die auf dem Papier schon schrecklich aussieht, und man merkt, dass sich wieder etwas verändert. Kleine Dinge werden wichtiger und bedeutungsvoller.

„Wenn man als Schriftsteller anfängt, sagt man, ‚Hallo Welt, hallo Leser. Hier bin ich. Hier ist meine originelle Stimme. Ich hoffe, ich habe Euch was zu sagen.‘ Nach mehreren Jahrzehnten ist es dann soweit, dass man anfängt, sich zu verabschieden“, erläutert Amis.

Ob das mit seinem jüngsten Werk schon ein Abschied sei, darauf wollte Amis keine konkrete Antwort geben: „Der Schriftsteller entscheidet nie, was er schreiben werde. Das Thema sucht ihn selbst.“ Er hoffe auf den Moment des Aha-Erlebnisses, wo man eine Ahnung bekommt, was das nächste Buch sein könnte. Das sei ein sehr rätselhafter Vorgang. Amis verweist auf die Ideenfindung von Nabokov für den Lolita-Roman. Das hatte mit einem dressierten Affen zu tun der in der Lage war, zu zeichnen. Mehr dazu in meinem Audio-Zusammenschnitt der gestrigen Veranstaltung: