
Qualität statt Quantität
Im Gefolge des Werturteilstreits Anfang des 20. Jahrhunderts hat sich die Mehrheit der Ökonomen der Ansicht angeschlossen, die Wirtschaftswissenschaften hätten nicht über die Ziele des Wirtschaftens zu befinden, sondern dienten allein einer Aufklärung über den intelligentesten Gebrauch knapper Mittel, erläutert Professor Claus Dierksmeier vom Weltethos-Institut im ichsagmal.com-Interview.
Aber schon diese Reduktion ist ein Werturteil. Etwa die Anwendung des Ökonomismus auf alle Lebensbereiche, von Schule bis Medizin. Wir werden ausschließlich als Kunden betrachtet, als Objekt der Begierden. Man merkt es an der Unternehmenskommunikation, die darauf ausgelegt ist, uns mit weltweit führenden Wortblähungen zu verscheißern. Winfried Felser hat das in einem Beitrag über Content Marketing auf LinkedIn eindrucksvoll belegt.
Wir werden mit wohlklingenden Versprechungen umworben, also mit Angeberei und haltlosen Behauptungen. Und das führt zu einer fatalen Schieflage:
„In einer Gesellschaft, in der alle öffentlichen Räume von Botschaften überflutet werden, die im Konsumieren die Antwort auf alle Lebensfragen versprechen, hat es ein an Wahrhaftigkeit ausgerichteter Diskurs um das gute Leben schwer. Dies untergräbt die kulturellen Voraussetzungen moralischer und politischer Autonomie“, kritisiert Professor Claus Dierksmeier in seinem Opus „Qualitative Freiheit“.
In der Wirtschaftswissenschaft regiert eine scheinheilige Abstinenz bei Werturteilen und Zielen. Etwa bei der „Konsumentensouveränität“, die einfach die Egozentrik von Einzelentscheidungen aggregiert und sie in der Summe als Wohl der Allgemeinheit ausspuckt. Wie von Geisterhand. Eine mathematische Schimäre, die politischen Reformen im Weg steht. Wir beschränken uns auf eine abstrakt-quantitative wirtschaftliche Freiheit eines Konsumentenstaates auf Kosten von qualitativen Freiheiten einer realen Bürgergesellschaft.
Dierksmeier plädiert für einen qualitativen Liberalismus in Konfrontation mit oligarchischen und plutokratischen Strukturen. Pseudo-Liberale, die sich unter dem Deckmantel wirtschaftlicher Freiheiten ausbreiten, demontieren die Freiheit- und Bürgerrechte. Wer anderen vorschreibt, Freiheit sei allein quantitativ zu verstehen, also als Maximierung von Erträgen, Nutzen, Profiten und Einkommen, der verstößt selber gegen jene von Liberalen hochgehaltene Freiheit zur bürgerlichen Selbstbestimmung, betont Dierksmeier.
Man braucht sich nur die Kollateralschäden der Deregulierung anschauen, um die Werturteilsfreiheit, die in VWL-Lehrbüchern fast religiös gepredigt wird, werten zu können. Etwa beim Investment-Banking, beim Buchhaltungsrecht oder im Sicherheitssektor. Stichworte wie WorldCom-Pleite, Lehman-Untergang, Savings and Loans-Debakel, Enron-Arthur-Andersen-Skandal mögen da ausreichen. Wir könnten jetzt noch VW, Deutsche Bank, Thyssen, RWE und Co. hinzufügen. Es gibt kein Naturgesetz und keinen Automatismus in der Ökonomik, um für Wohlfahrt zu sorgen. Es sind qualitative Bedingungen, die auch ganz anders gestaltet werden können, meint der Astrophysiker und Naturphilosoph Harald Lesch in der Philosophie-Sendung von Richard David Precht.
Was kann man ändern jenseits der Erbsenzählerei, die sich in Algorithmen, ceteris paribus-Formeln und sonstigen von Menschen gemachten mathematischen Rechenexempeln verstecken?
Auch in Algorithmen verstecken sich Werturteile
Der Mensch ist viel mehr als die Summe von Daten, die die Wirklichkeit gewichten und somit manipulieren. Es gibt in der Ökonomik keine störungsfreie Laborsituation.
„Die Wirklichkeit wird durch qualitative Entscheidungen bestimmt“, sagt Lesch.
Mit den Methoden der Himmelsphysik, wo im luftleeren Raum alles funktioniert, kommen wir in der Gesellschaft nicht weiter. Jeder ist gefordert, seine Entscheidungen zu begründen und sich nicht hinter Formeln, Kennzahlen, Rankings, aufgeblähten Umsätzen und Renditen zu verstecken.
„Es muss grundsätzlich eine Änderung der Ökonomik herbei geführt werden, die nicht mehr von mechanistischen Paradigmen geprägt ist“, fordert Dierksmeier.
Es geht immer um Wertentscheidungen. Auch jeder ökonomische Formelkonstrukteur ist gefordert, seine Weltsicht zu erklären. Das gilt auch für jene, die auf Bühnen über die Notwendigkeit der Digitalisierung schwätzen, aber sich in Wirklichkeit hinter Begriffskaskaden verstecken. Die Keynote-Dauerredner sprechen von Digitaler Transformation, Digitalem Darwinismus (sozusagen die Donald Trump-Variante des Business-Darwinismus), Disruption oder Innovation, erläutern aber nicht, welche Programmatik dahinter steckt.
“Wenn wir wirklich eine inklusive, nachhaltige und verantwortliche Gesellschaft und Ökonomie wollen, müssen wir unsere Bilanzen und Logiken ändern. Ich halte das für fundamental. Was sind die grundlegenden Paradigmen und Theorien der Ökonomie. Die sind implizit normativ. Am Ende ist Digitalisierung kein Selbstzweck. Es gibt auch keinen Determinismus (Anschauung, dass alle Ereignisse im Voraus festgelegt sind und es keinen freien Willen gibt, gs). Wir haben gestalterische Freiheiten. Wohin führen unsere Denkansätze”, fragt sich Winfried Felser in der netzökonomischen Ideenrunde vor gut einer Woche.
Wenn wir dazu keine Antworten geben, wird sich das digitale Geschwätz und der technokratische Diskurs in der Ökonomik nicht ändern. Ein Thema, das wir in diesem Jahr beim Netzökonomie-Campus aus unterschiedlichen Blickwinkeln untersuchen werden.
Wo der Trump-Darwinismus (das hat Charles Darwin übrigens nicht verdient) im Digitalen hinführt, belegt diese Personalentscheidung: Neuer FCC-Chef will Netzneutralität wieder abschaffen
Welche Ideen habt Ihr für die Netzökonomie-Diskurse in diesem Jahr?
Man muss einfach sehen, dass die Ökonomik allein es nicht bringt. Sie hat sich quantitativ aufgebläht, ist aber nur eine Hilfswissenschaft der Politologie bzw der Politik.
Wir müssen die Frage nach dem Sinn des wirtschaftens stellen, warum machen wir das – oder besser: warum lassen wir das mit uns machen. Wenn wir die heutige Gesellschaft betrachten, also demokratische Systeme mit marktwirtschaftlich verfasster Ökonomie, dann sind Politik und Ökonomie zusammen nichts weiter als die Art und Weise, wie wir unsere Angelegenheiten regeln.
Leider funktioniert das nicht so direkt einfach und unmittelbar. Bevor ich etwas anfasse, treten alle möglichen Deutungen und Interpretationen dazwischen, scheinbare Sinngebung, die jedoch genauso gut und häufig fremden Interessen dienen oder ihnen geschuldet sind. Was weckt im einen den Wunsch nach einem Porsche und in der anderen die Bereitschaft, auf 12cm Absätzen durch die Gegend zu laufen? Es ist natürlich nicht das Geschäft der Ökonomik, diese Fragen zu beantworten, aber sie sollte sich dessen bewußt sein, dass solche Fragen existieren und beeinflussbar sind.
Nimm die qualitative Freiheit, frei bin ich erst, wenn alle frei sind, wenn der Gebrauch der vorhandenen Ressourcen so gestaltet wird, dass alle ihren Nutzen davon haben. Wirklich frei bin ich auch erst, wenn ich meine Fähigkeiten entwickelt habe, selbstbestimmt. Was spricht dagegen, es so zu tun? Die Knappheit der Ressourcen und die ungleiche Verteilung ökonomischer Macht sind natürlich ein faktisches Gegenargument. Wo aber Manipulation möglich und existent ist, beteiligt sich die Ökonomik daran, wenn sie genau das leugnet.
Wir steuern auf eine andere Gesellschaft zu, eine Gesellschaft, die nicht mehr von der Knappheit beherrscht werden wird sondern vom Überfluss. Entfällt damit der Anreiz zu ungleicher Verteilung und Manipulation? Heute scheint mir in dieser Frage eher die nicht ausreichend entwickelte Fähigkeit vieler Menschen zur kritischen Durchdringung der gesellschaftlichen und ökonomischen Verhältnisse im Vordergrund zu stehen.
Das Ganze darf sich natürlich nicht auf die Ökonomik beschränken. Aber hier könnte beim Vordenken neuer Leitbilder ein wichtiger Anstoß geleistet werden. In der Politikberatung spielen Wirtschaftswissenschaftler und die Forschungsinstitute wie DIW eine große Rolle. Aber alle ticken nach der Uhr der Neoklassik. Es gibt aber interessante Gegenbewegungen – etwa bei den pluralen Ökonomen – und da sollte man ansetzen.
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Schließlich strömen ja aus den VWL- und BWL-Fakultäten die “Führungskräfte” von morgen. In den netzökonomischen Käsekuchen-Runden sollten wir das vertiefen.