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Warum mich die disruptiv-digital-transformatorischen Keynote-Sprechautomaten nerven

Disruptiver Innovator, der Innovationen durchsetzte und nicht nur redete.

Disruptiver Innovator, der Innovationen durchsetzte und nicht nur redete.

Wenn Wirkungen der Digitalisierung für Wirtschaft und Gesellschaft auf öffentlichen Bühnen erläutert werden, purzeln immer wieder die gleichen Formulierungen und Beispiele aus den Keynote-Sprechautomaten heraus: Prozess der kreativen Zerstörung, digitaler Darwinismus und natürlich die Angriffe der disruptiven Innovatoren des Silicon Valley, die zum Sterben ganzer Branchen und Unternehmen beitragen.

Was wohl Charles Darwin und Joseph Schumpeter zu dieser semantischen Brühe gesagt hätten, die jeden Tag abgesondert wird? Menschliche Entscheidungen und soziale Entwicklungen kann man mit biologischem Halbwissen auf der Stufe eines Bio-Grundkurses der 11. Klasse nicht erläutern – das wäre vielleicht die Replik von Darwin gewesen. Schumpeter würde auf seine Hauptwerke verweisen und die digitalen Dauerschwätzer höflich ermahnen, seine Forschungsarbeiten nicht fragmentarisch wiederzugeben und auf den kreativen oder schöpferischen Zerstörer zu reduzieren.

Das Neue besser organisieren

Etwa mit Blick auf sein gefeiertes Frühwerk “Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung“. Dort schreibt Schumpeter: Erfolge habe nicht in erster Linie der Innovator, der Erfinder und schöpferische Zerstörer, sondern jener, der das Neue am besten organisiert. Die Deutschen verstanden es im 19. Jahrhundert besser als die Briten, die Textilindustrie zu organisieren, selbst wenn sie wenig zu deren maschineller Technologie bei-trugen.

Ein Innovator zeichnet sich vor allen Dingen durch die Kunst der Kombinatorik aus:

„Nur dann erfüllt er (der Unternehmer) die wesentliche Funktion eines solchen, wenn er neue Kombinationen realisiert, also vor allem, wenn er die Unternehmung gründet, aber auch, wenn er ihren Produktionsprozess ändert, ihr neue Märkte erschließt, in einen direkten Kampf mit Konkurrenten eintritt.“

Schumpeter, Darwin und die digitalen Wanderprediger

Beide Geistesgrößen können sich nicht mehr wehren gegen die digitalen Wanderprediger, die mit ihrer effektheischenden Powerpoint-Rhetorik von Stadt zu Stadt ziehen und den Zuhörern nur noch die fatalistische Alternative „digital or die“ bieten. Schumpeter und Darwin sind selbst schon vor langer Zeit gestorben. Ein lebender Autor wagt jetzt in einer langen Abhandlung in der Januar-Ausgabe des Magazins „Harvard Business Manager“ den Gegenschlag: Es geht um die Theorie der disruptiven Innovation, die Professor Clayton M. Christensen vor rund 20 Jahren das erste Mal der Öffentlichkeit vorstellte. Der Autor vermutet nun wohl zurecht, dass kaum einer dieser selbst ernannten digitalen Evangelisten, die von Disruption palavern, auch nur ein einziges ernst zu nehmendes Buch oder Fachartikel zu diesem Thema gelesen haben. Das würde ihre schwatzhafte Tournee zeitlich nicht zulassen.

Uber und MyTaxi sind nicht disruptiv

„Disruptive Innovationen“ werden mittlerweile auf so ziemlich alle Situationen ins Feld geführt, in denen sich eine Branche verändert und die zuvor erfolgreichen Platzhirsche in Bedrängnis geraten. In fast jedem Vortrag zur digitalen Transformation darf das Beispiel „Uber“ nicht fehlen. Schließlich hat das Startup-Unternehmen seit seiner Gründung im Jahr 2009 ein sagenhaftes Wachstum hingelegt, ist in über 60 Ländern aktiv und wird von Investoren mit rund 50 Milliarden Dollar bewertet. Uber verändert das Taxigewerbe nicht nur in den USA. Aber ist das Unternehmen auch disruptiv?

Christensen verneint das:

„Die revolutionären Neuerungen, die unsere Theorie beschreibt, können sich deshalb durchsetzen, weil die etablierten Unternehmen zwei Arten von Märkten übersehen. Erstens das untere Preissegment, in dem Neulinge Fuß fassen können, weil die Platzhirsche typischerweise versuchen, den profitabelsten und anspruchsvollsten Kunden immer bessere Produkte und Dienste zu verkaufen; den Rest der Kundschaft vernachlässigen sie dabei.“

Für Neueinsteiger eine gute Gelegenheit, den weniger anspruchsvollen Kunden Produkte oder Dienste zu offerieren, die gerade gut genug sind, etwa beim Siegeszug von Kleinkopierern im Marktsegment von Xerox, die nur Großkunden bedienten. Dann gibt es Innovationen in neuen Märkten, die von disruptiven Unternehmen selbst erschaffen werden:

„Einfach ausgedrückt finden diese einen Weg, Nichtkonsumenten in Konsumenten zu verwandeln“, so Christensen.

Disruptive Unternehmen fangen immer damit an, das untere Kundensegment oder unversorgte Konsumenten anzusprechen, danach nehmen sie den Mainstream-Markt ins Visier. Uber habe genau den gegenteiligen Ansatz gewählt:

„Zunächst hat das Unternehmen eine starke Position im Massenmarkt aufgebaut, dann erst hat es bislang unbeachtete Segmente angepeilt.“

Noch weniger disruptiv ist MyTaxi, die sich mit ihrem Angebot im monopolistischen Taximarkt tummeln und mit ihrer App die etablierten Platzhirsche abgrasen.

Bei beiden Unternehmen handelt es sich um erhaltende Innovationen – also ähnlich wie die fünfte Klinge eines Rasierers, die uns in der Fernsehwerbung als bahnbrechende technologische Neuerung verkauft wird. Was typisch ist für erhaltende Innovationen, sind die Gegenreaktionen der etablierten Unternehmen. So setzen Taxiunternehmen neue Technologien ein, um es den Kunden leichter zu machen, ein Taxi zu bestellen und den Service zu bewerten. Oder sie fechten schlichtweg die Rechtmäßigkeit von Uber-Angeboten an.

Nicht wie aufgeregte Hühner reagieren

Der Begriff „disruptive Innovation“ führe in die Irre, wenn damit ein Produkt oder ein Dienst zu einem bestimmten Zeitpunkt gemeint ist und nicht seine Entwicklungskurve über einen gewissen Zeitraum. Deshalb muss man auf disruptive Startups nicht wie ein aufgeregte Huhn reagieren nach dem Mantra der Keynote-Sprechautomaten „DISRUPT OR BE DISRUPTED“.

Wenn das Bestandsgeschäft noch Gewinne abwirft, wäre es ziemlich dämlich, die Notbremse zu ziehen. Christensen rät, die Bindungen zu den Stammkunden zu stärken und in erhaltende Innovationen zu investieren. Zudem könnte fernab des Kerngeschäfts ein neues Geschäftsfeld erschlossen werden als mögliche Abwehrmaßnahme gegen disruptive Angreifer.
Ein Patentrezept kann Christensen nicht aus dem Ärmel zaubern im Gegensatz zu den digital-transformatorischen Bühnen-Dichtern.

Unternehmen sollten unabhängige Einheiten unter dem Schutz des Top-Managments aufbauen, um disruptive Modelle zu erkunden und zu entwickeln.

Grenzen der Disruptionstheorie

Christensen wird es wohl nicht gelingen, eine Disruptionstheorie zu entwickeln, die vorhersagen kann, welche jungen Unternehmen Erfolg haben werden. Das hat er der liebwerteste Gichtling aber vor. Das Opus „Immer erfolgreich“ von Jim Collins und Jerry I. Porras sollte Christensen bescheidener machen in seinem Forschungsziel. Es enthält eine gründliche Analyse von 18 konkurrierenden Unternehmenspaarungen, bei denen eines erfolgreicher war als das andere. Jeder Vorstandschef, Manager oder Unternehmer sollte nach Auffassung der beiden Autoren dieses Buch lesen, um visionäre Firmen aufzubauen.

„Wenn man weiß, wie wichtig der Faktor Glück ist, sollte man besonders argwöhnisch sein, wenn aus dem Vergleich von erfolgreichen und weniger erfolgreichen Firmen hochkonsistente Muster hervorgehen. Wenn der Zufall seine Hand im Spiel hat, können regelmäßige Muster nur Illusionen sein“, warnt der Psychologe Dan Kahneman.

Nach dem Erscheinen des Collins-Porras-Buches schwand der Abstand in Ertragskraft und Aktienrendite zwischen den herausragenden und den weniger erfolgreichen Firmen praktisch auf null. Über einen Zeitraum von zwanzig Jahren erzielten die Unternehmen mit den schlechtesten Bewertungen im weiteren Verlauf viel höhere Aktienrenditen als die meistbewunderten Kandidaten. So kann man sich irren. Schickt doch die Keynote-Sprechautomaten nicht mehr auf die Konferenzbühnen, sondern in Bibliotheken. Da machen sie weniger Lärm.

Siehe auch:

Anti-Schumpeter: Über die Telekomisierung der (Netz) Ökonomie #Cebit16 #NEO16

Der Mythos Disruption

Was ist wirklich disruptiv? #NEO16 #Cebit16

Über den Autor

gsohn
Diplom-Volkswirt, Wirtschaftsblogger, Livestreamer, Moderator, Kolumnist und Wanderer zwischen den Welten.

6 Kommentare zu "Warum mich die disruptiv-digital-transformatorischen Keynote-Sprechautomaten nerven"

  1. Hat dies auf http://www.ne-na.de rebloggt.

  2. dieter haller | 20. März 2016 um 11:38 Uhr |

    Wenn man davon ausgeht, dass die disruptiven Sprechautomaten auch das meinen was sie verbreiten, und das gesagte auf formale Definition überprüft, geht das am Wesentlichen vorbei. Es geht nicht um Recht haben, es geht auch nicht darum, den Sachverhalt formal intellektuell zu verstehen. Was ist echte Disruption und was nicht, ist am Ende völlig egal. Wenn das möglich wäre, mit Definiton und Erkenntnis von Schumpeter & Co. Rezepten zu arbeiten, wären alle mit Allem erfolgreich.
    Die Sprechautomaten verwechseln nicht Schein und Sein sondern wollen scheinen und machen etwas sehr banales: Dampfplaudern, Marketinggeschrei, Trittbrettfahren, Wichtig scheinen ist ein Geschäftsmodell… das funktioniert, mal mehr und manchmal weniger. Und oft ist der Erfolg von Zufall und persönlicher Performance abhängig (vorausgesetzt es bleibt im Trendbereich- und Zeitgeistspektrum) und nicht unbedingt von fundierten Inhalt. Verkäufermentalität.

  3. Das ist ein sehr lesenswerter Beitrag, dem ich größtenteils zustimmen kann.

    Dass wir es immer öfter mit „Dampfplaudern, Marketinggeschrei, Trittbrettfahren“ und Ähnlichem zu tun haben, hat für mich einen einfachen Grund: Richtige Produktinnovationen sind selten geworden. Deshalb verlagert sich der Wettbewerb um die Käufer zunehmend in Richtung Marketing.

    Das macht auch Sinn, denn wenn ein Produkt schon vergleichbar mit Wettbewerbsprodukten ist, dann soll zumindest der ideelle Wert des eigenen Produktes von Kunden und auch Aktionären höher bewertet werden.

    Stand bei der Digitalisierung bisher der Kundennutzen im Mittelpunkt, so denken nun auch immer mehr Unternehmen an ihren eigenen Nutzen – und was ihnen die Kundendaten an Umsatz bescheren können. Dazu möchte ich auf einen Kongress zum Neuromarketing Mitte April in Berlin verweisen.
    Siehe:http://neuromarketing-wissen.de/neuromarketing-kongress/

    Ja, so etwas gibt es tatsächlich.

    Ich frage mich, ab wann die Stimmung bei den Menschen kippt. Wann ist für die Kunden der Bogen überspannt? Merken sie überhaupt, wenn es nicht mehr vorrangig um ihren Nutzen, sondern um einen Geschäftszweck ihres „Dienstleisters“ geht?
    Wird hier am Ende eine kognitive Dissonanz erzeugt, bei der der Kunde am Ende das Gefühl hat, das die Realität nicht mehr mit seinem Wunschbild zusammenpasst?

    Das könnte das Konsumverhalten schlagartig ausbremsen. Deshalb finde ich es wichtig, dass sich die Treiber der Digitalisierung auch mit diesen Konsequenzen auseinander setzten. Hier ist verantwortungsbewusstes Handeln gefordert.

  4. Thunig, Christian | 23. März 2016 um 19:46 Uhr |

    Hallo Gunnar,

    wie besprochen: Ein Beitrag zu diesem Thema für uns wäre perfekt. Schwerpunkt wäre dann das Konzept der Disruption mal der Leserschaft richtig zu erklären 😉 Rund 9000-10000 Zeichen für die 7/8 2016. Abgabe wäre am 25.5.

    Liebe Grüße Christian ________________________________

  5. Mache ich mit Begeisterung.

  6. Es ist doch wie immer: Wenn sich so etwas wie ein Trend abzeichnet, springen auf den Zug der Prediger auch immer die schwarzen Schafe auf. Sie verfolgen in aller Regel eher die eigenen Interessen, als je der adressierten Zielgruppe.

    Bei aller berechtigten Kritik an der fehlerhaften Vereinnahmung von Begriffen ist doch aber nicht von der Hand zu weisen, dass die Digitalisierung in sehr vielen Bereichen der Wirtschaft ein “Weiter so” nicht zulässt. Kunden agieren anders, viele Anbieter reagieren nur, wenn überhaupt. Branchenfremde Anbieter dringen in angestammte Märkte und sorgen für vielerorts Verwerfungen, mindestens aber für gehörige Unruhe.

    Mir ist bewusst, dass wir uns in einer Phase des Übergangs befinden und somit noch vieles offen und unentschieden ist. Da fällt es einem Unternehmer zweifelsohne schwer, in digitale Projekte zu investieren, ohne zu wissen, ob sich das, was man da anpackt, jemals durchsetzt.

    Momentan sind mir ein paar Prediger mehr lieber, als zu wenige. Unserer Wirtschaft würde es gut tun, sich stärker mit der Thematik auseinanderzusetzen und sich zu engagieren. Wenn das passiert, dauert es nicht lange, bis sich die Spreu vom Weizen auch bei den omnipräsenten Verbalakrobaten trennt.

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