Talkabout-Geeschäftsführer Mirko Lange hat sich in einem sehr deftigen Facebook-Kommentar zu Interviewaussagen des Markenexperten Dominique von Matt zu Wort gemeldet. Das Gespräch spiegele sehr schön den Stand wider, auf welchem Niveau „Social Media“ oft beschrieben wird:
„Es ist erschreckend, auf welch oberflächlichem Niveau dieses Interview ist. So oberflächlich, dass man es heute schon regelrecht als ‚falsch‘ bezeichnen kann. Das fängt schon mit dem Titel an. ‚Social Business‘ ist ursprünglich ein Konzept, in dem Unternehmen soziale, ökologische und gesellschaftliche Probleme lösen. Das hat mit dem nichts zu tun, wovon hier von Matt erzählt. Allerdings verwendet insbesondere IBM den Begriff ‚Social Business‘ heute anders, nämlich die Integration von ‚Social Media‘ in den Geschäftsbetrieb, einerseits durch Software wie Social CRM, Social Analytics, Social Intranets, Collaboration-Tools, andererseits durch eine Änderung der Unternehmenskultur und der Prozesse, vor allem eine transparentere und enger verzahnte Zusammenarbeit. Dieser von Matt blubbert aber hier nur von ‚Marketing‘ (genauer: Marketing-Kommunikation) und das auch nur auf einem extrem oberflächlichen Niveau, im Grunde gibt er nur Allgemeinplätze wider. Ich bin gespannt, wann wir öffentlich mal etwas ‚kompetenter‘ in eine breitere Diskussion einsteigen. Mein Lieblingssatz: ‚Wenn sich heute zwei Teenager verlieben, küssen sie sich nicht mehr hinter dem Gebüsch, sondern gehen nach Hause und ändern ihren Beziehungsstatus auf Facebook.‘ Was für ein Käse“, schreibt Lange.
Das Grundproblem sind wohl immer wieder die rosa-roten Marketing-Sprüchlein, die von vielen Führungskräften über den Social Media-„Kanal“ abgesondert werden. Schon beim Wort „Kanal“ bekomme ich regelmäßig heftigen Hausausschlag. Siehe dazu: Social Media nur ein neuer Kanal im Kundenservice? Es geht um den öffentlichen Netzdialog, liebe Silberlocken-Manager.
Bei einem Vortrag in Hannover hatte ich ja mal entsprechende Giftpfeile abgeschossen:
Streicht man in der ganzen Diskussion die rhetorischen Leerformeln der Kanalphilosophen des Marketings heraus (siehe auch: Die virtuellen Sturmtruppen des Heizdecken-Verkaufs) wird der Kern der Herausforderungen für die Wirtschaft deutlich. Dabei geht es nicht um eine euphorische und zu optimistische Überhöhung der Netzrealität. Vor diesem Fehler hat ja Kathrin Passig in ihrem republica-Vortrag eindringlich gewarnt.
Das ist ja auch das Thema des vor wenigen Tagen erschienenen Buches von Passig und Sascha Lobo: Internet – Segen oder Fluch (Rowohlt-Verlag). In ihrer Einleitung schreiben die beiden:
„Unbestreitbar: das Netz verändert die Welt. Die Frage aber, ob zum Guten oder zum Schlechten, ist nicht so eindeutig zu beantworten, wie die Verfechter beider Ansichten es gern hätten. Die einen bewegen sich in einem Feld zwischen fortschrittsgläubiger Naivität und selbstbewusstem Optimismus (dazu neige ich ja auch, gs), die anderen verharren zwischen gesunder Skepsis und verbittertem Pessimismus (das Manfred Spitzer-Syndrom).“
Einen ärgerlich großen Raum würden dabei reflexhafte Phrasen und kaum belegbare Behauptungen einnehmen, verbunden mit einem emotionalen Amalgam, das mehr die Gruppen-Zugehörigkeiten festigen als irgendjemanden überzeugen soll.
„Regelmäßig lassen sich Diskussionspodien, Talkshowkonfrontationen und Artikelgefechte beobachten, deren Teilnehmer weniger an der Vermittlung und Erklärung interessiert sind als an der Selbstvergewisserung, und oft genug waren diese Teilnehmer die Autoren des vorliegenden Buches“, so Passig und Lobo.
Ein Vorabdruck des Buches ist gestern in Spiegel Online erschienen: Digitale Gegensätze – Die wahre Debatte über das Web.
Der dringend notwendige Diskurs um das Internet, seine Bedeutung für unser Leben und seine Folgen für die Welt sei ritualisiert und erstarrt. Deshalb sollten man vielleicht einfach mehr seinen Alltag beobachten und die Veränderungen im privaten sowie beruflichen Leben genauer unter die Lupe nehmen.
Was sich auf der Mikroebene abspielt, wird wahrscheinlich irgendwann auch in einem größeren Rahmen durchschlagen – politisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich. So war ich schon seit Jahren nicht mehr bei Mr. Music am Bonner Hauptbahnhof, um mir CDs zu kaufen – diese Zeiten sind vorbei. Gleiches gilt in den vergangenen Monaten für meine Videothek, die ich in wenigen Minuten zu Fuß erreichen kann – Video on demand dominiert mittlerweile unser Kaufverhalten. Gleiches gilt für Reisebuchungen, Bestellungen von Leckereien wie Südtiroler Schinkenspeck oder Verhackertes aus Ösiland. Für Klamotten, Weihnachtseinkäufe, Überweisungen und, und, und.
Beruflich und privat nutze ich immer mehr die Videokonferenzen via Skype oder Hangout. Letzteres mausert sich zu einer neuen Plattform für Expertengespräche, die man live ins Netz übertragen und Präsenzveranstaltungen ersetzen kann – Beispiel Blogger Camp. Warum setzen sich Cloud-Dienste wie Dropbox oder iCloud kommt? Weil ich auf bescheuerte Software-Updates und Datensicherungen verzichten kann, nicht ständig beim Kauf von neuer Hardware mit dem Aufspielen meiner gekauften Programme beschäftigt bin und geräteunabhängig auf Dinge zugreife, die ich in den vergangenen Jahren käuflich erworben habe. Deshalb wird sich das auch im Kundenservice durchsetzen und in nächster Zeit so eine Art virtueller Concierge in Erscheinung treten, der mich punktgenau bedient und meine Wünsche erfüllt – über eine Smartphone-App oder sonstwas.
An dieser Stelle möchte ich nichts überhöhen. Aber mein gesunder Menschenverstand sagt mir, dass Hotline-Warteschleifen nicht das Ende der Evolution der vernetzten Ökonomie darstellen. Da bin ich kein Optimist oder Pessimist, da bin ich einfach nur Kunde, der besseren Service wünscht.
Die technologischen Trendsetter findet man jedenfalls nicht in der Wirtschaft, wie Andreas Klug von Ityx in einem Vortrag auf der Cebit betonte:
Bei der Kommunikation über Facebook und Twitter, beim Abruf mobiler Daten, bei der Nutzung von Apps oder beim Teilen von Wissen habe der private Sektor klar die Nase vorn. Die Technisierung der Kommunikation werde vom Verbraucher vorangetrieben und kenne keine Grenzen. Unternehmen, die mit den vernetzten Kunden nicht Schritt halten, werden vom Markt verschwinden, meint Klug.
Vielleicht hilft ja auch mehr innere Einkehr oder die von Professor Peter Kruse ins Spiel gebrachten Exerzitien der Jesuiten weiter, um die Unternehmen in der Digitalisierung weiterzubringen. Die Jesuiten machen Übungen, die dazu geeignet sind, Wertemuster in Bewegung zu versetzen.
„Und ich glaube, das empfindet jeder, der mit diesen Technologien arbeitet. Wenn man sich wirklich in seinem Alltag auf die neuen Möglichkeiten einlässt, ändert sich der Arbeitsstil und nach einiger Zeit ändern sich auch die Einstellungen und Bewertungen. So merkt man zum Beispiel, dass die Bereitschaft wächst, wesentlich mehr Informationen zuzulassen, als man rational beherrschen kann“, so Kruse.
Das Einführen der Technologie sei noch der leichteste Teil. Man müsse einen Erlebnisraum für nicht hierarchische Kommunikation schaffen. Allerdings werde auch die Technologie immer komplexer und schwieriger.
Wie Social Web-Technologien die Unternehmensorganisation verändern werden, ist auch Thema einer Tagung von Harvey Nash in München am 9. November. Hauptredner des Social Media Business Breakfast ist Mirko Lange. Im Panel darf ich dann die Diskussion moderieren. Die Themen des Vortrages von Mirko:
Der fruchtlose Streit: Ist Social Media nun mehr Technologie oder mehr Kommunikation?; Spielverderber oder Enabler: Welche Rolle spielt die IT bei Social Media?; Social Media als Dialogtool: Wann stirbt die E-Mail?; Social Intelligence, Social Analytics & Social CRM: Verändert Social Media die IT?; Wo Technologie unverzichtbar ist: Wie können Unternehmen „Dialog“ skalieren?; Eine Frage des Timings: Wann ist der richtige Zeitpunkt, um auf neue Technologie zu setzen?; Der IT-Manager der Zukunft.
Hoffe, das wird eine interessante Diskussionsrunde. Das Thema meines heutigen Blogbeitrages möchte ich in meiner Service Insiders-Kolumne am Freitag vertiefen. Entsprechend sind also wieder Meinungsäußerungen gefragt via E-Mail, Hangout oder Telefon-Interview.