
Zur Zeit überschlagen sich ja Medien, Analysten und Ökonomen bei den Horrorszenarien, die vor allem durch die gestiegenen Energiepreise und die geopolitischen Spannungen hervorgerufen werden. Fast alle gehen von einer Rezession aus, die sich in den kommenden Monaten abzeichnen wird – oder besser gesagt eine Stagflation, wie in den 1970er Jahren. Inflation und Stagnation beim Wirtschaftswachstum. Die analytischen Fähigkeiten einiger Protagonisten der Ökonomik rangiert dabei auf dem Level von Börsen-Kommentatoren. Frei nach dem Motto: Wenn der Hahn kräht auf dem Mist, ändert sich das Wetter oder es bleibt, wie es ist. Das bewegt sich dann in der Regel auf dem Nachrichtenwert der Tagesschau von gestern. Wie war das aber noch im Herbst des vergangenen Jahres? Da schrieb ich einen Beitrag mit der Überschrift:
Ökonomie im Lieferketten-Stress – Kein Thema in digitalen Diskursen: Geschrieben im September 2021.
Text vor knapp einem Jahr:
Bekommen wir eine dauerhafte Inflation? Der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher, ist Sorgen wegen der aktuell hohen Inflation entgegengetreten. Derzeit gebe es letztlich eine Normalisierung von den gefallenen Preisen in der Corona-Krise im vergangenen Jahr, sagte Fratzscher im Deutschlandfunk. Wenn man das über zwei Jahre vergleiche, sei das völlig konsistent mit der Preisstabilität.
„Wir sehen also eine willkommene Normalisierung der Preise“, so der Ökonom. Es sei zudem relativ wahrscheinlich, dass die Preissteigerung im nächsten Jahr wieder eher unter zwei Prozent liege und damit unter der Zielmarke der Europäischen Zentralbank (EZB). Inflation werde nur dann zum Problem, wenn sie sich verstetige. Nun, die Frachtkosten pro Container sind von 1.000 Dollar auf teilweise 14.000 Dollar gestiegen. Ähnliche Preisschübe gibt es an den Rohstoffmärkten, in der Produktion, bei Papier, Holz, Autobau, Nutzfahrzeuge. Von einer Normalisierung der Preise kann man nicht sprechen. In den vergangenen Monaten haben besonders die Weltmarktpreise für Rohstoffe insbesondere für Industrierohstoffe stark zugelegt. Nach dem Einbruch im April 2020, ausgelöst durch den ersten globalen Lockdown zur Bekämpfung der Corona-Pandemie, sind die Rohstoffpreise kontinuierlich und zum Teil deutlich über das Vorkrisenniveau gestiegen.
Auch die zwischenzeitlich erneut gestiegenen Corona-Infektionszahlen und die Einführung weiterer Lockdown-Maßnahmen konnten den Aufwärtstrend der Rohstoffpreise nicht bremsen. Der HWWI Rohstoffpreisindex stieg im Vergleich vom Dezember 2019 um 32 Prozent. Besonders gravierend ist der Anstieg des Teilindex für Industrierohstoffe, der gegenüber seinem Vorkrisenniveau um mehr als 70 Prozent zulegte und im Mai 2021 sein Zehnjahreshoch überschritt. Als Lieferketten-Stress für die Netzökonomie betitelte ich die Gemengelage auf der Digitalkonferenz Digital X in Köln in einer Session mit dem Logistikprofessor Peter Holm. Den Hauptgrund für den Preisschub sieht Holm im Mangel an Halbleitern, der sich auf die gesamte Produktion von Gütern auswirkt. „Kurzfristig lässt sich dieser Engpass nicht beseitigen“, warnt Holm.
Ein Konzern wie VW konnte im ersten Quartal 100000 Autos nicht produzieren wegen der mangelhaften Verfügbarkeit von Halbleitern. Energiewende, Elektrifizierung und Digitalisierung werden den Bedarf an Halbleitern und den dafür notwendigen Rohstoffen exorbitant steigern. Hier entsprechende Produktionskapazitäten aufzubauen, wird von der EU zwar forciert, aber es geht nicht schnell genug. „Der Bau solcher Fabriken dauert lange und ist extrem kapitalintensiv“, erläutert Holm. Zu diesem Mangel gesellt sich die Störung der globalen Lieferketten.
„So etwas hat man in den vergangenen zwanzig Jahren noch nie gesehen. Das fing mit dem blockierten Suez-Kanal an und ging weiter mit dem Herunterfahren der größten Häfen wie beispielsweise in Shenzhen Gut 90 Prozent aller Waren werden mit Containern verfrachtet. Alle Elektronikteile, die verschifft werden sollten, stecken im Stau. Als Folge dieser Warteschleifen steigen die Preise. Sie schaukeln sich zur Zeit hoch und werden uns als Konsumenten erheblich belasten“, so Holm. Alles nur eine vorübergehende Krise? Im Wahlkampf waren die Lieferengpässe, die die Konjunktur belasten, kein Thema. Antworten von der Wirtschaftspolitik erhält
man auch nicht. In der Netzszene stehen solche Probleme selten auf der Agenda.
Das wird sich rächen.
Soweit mein Artikel aus dem Jahr 2021 – aus dem Herbst 2021.
Nun wird man schnell ein “Aber” formulieren und auf den Ukraine-Krieg sowie die Gaspreise verweisen. So einfach kann man aber nicht zur Tagesordnung übergehen. Den Preisschub hatten wir schon im vergangenen Jahr. Der Überfall auf die Ukraine durch Russland wirkt als Verstärker dieser Entwicklungen. Wie sich das konjunkturell dann wirklich auswirken wird, ist dann eine Sache der cleveren Wirtschaftspolitik, die ich zur Zeit aber nicht erkennen kann. Hier verweise ich auf eine Schrift von Wilhelm Röpke:

Zu den Ursachen für die Verschärfung der Weltwirtschaftskrise von 1929 zählt Röpke psychologische Faktoren, die ich in einigen Blog-Beträgen schon dargelegt habe: „In einem Wirtschaftssystem, das auf den freien Entschließungen und Wirtschaftsakten von Millionen von Individuen beruht, müssen die seelischen Schwankungen, denen diese Entschließungen unterliegen, für das Gleichgewicht des Wirtschaftsprozesses von entscheidender Bedeutung sein, und es entsteht die Frage, ob nicht die wirtschaftlichen Bewegungsentscheidungen im letzten Grunde auf solchen Schwankungen der Massenstimmungen und Massenurteile beruhen. Diese Frage wird von der psychologischen Schule der Konjunkturtheorie bejaht (Pigou, Lavington, Schumpeter)“, so Röpke.
Mit ermüdender Regelmäßigkeit wiederhole sich in jedem Konjunkturzyklus die Erfahrung, dass sich die Menschen während des Aufschwungs dem Glauben an die ewige Dauer der Prosperität hinzugeben scheinen, während sie in der Depression, von einer düsteren Melancholie ergriffen, das fast an Weltuntergangsstimmung grenzt, von einem “Ende des Kapitalismus” reden und vergessen, dass bisher noch jede Depression ihr Ende gefunden hat. Es handelt sich hier um geistige Massenepidemien, denen nur ganz wenige zu widerstehen vermögen, während die große Mehrzahl sich von der Suggestivgewalt der Massenstimmung fortreißen lässt.
“Für alle diese seelischen Vorgänge gilt, dass sie sich nicht zu solchen Ausmaßen entwickeln könnten, wenn nicht die Ungewissheit über wichtige wirtschaftlich erhebliche Tatsachen, die Mangelhaftigkeit der wirtschaftlichen Informationen und die Unsicherheit der Zukunft einen breiten Spielraum für bloße Vermutungen und unbestimmte, stark gefühlsmäßig gefärbte Prognosen und damit für Irrtümer aller Art schaffen würden.“
Aber selbst von den einigermaßen feststehenden Tatsachen würde das Wort eines griechischen Philosophen gelten, dass nicht die Tatsachen die Handlungen der Menschen bestimmen, sondern die Meinungen über die Tatsachen.
„Das Seelische“, so Röpke, spiele eine aktive Rolle bei der „Überwindung des toten Punktes in der Depression“, wenn es um die Vervielfältigung der Aufschwungkräfte geht. Dazu fehlen mir zur Zeit die Anregungen der wirtschaftspolitischen Berater.
Wir wollen das ändern. Am Freitag, um 15 Uhr in einem Livetalk mit Professor Holm:
Professor Holm wird dieses Thema auf der Digital X in Köln am 14. September im Brandhouse Schubraft vertiefen. Thema: Welchen Digitalisierungsschub die Logistikbranche jetzt braucht – Angespannte Lieferketten, globale Spannungen und die möglichen Hilfen des Staates.
