Pluralistische Ignoranz, doppeltes Meinungsklima und die Abwahl eines Oberbürgermeisters

Hausaufgaben für die empirische Sozialforschung
Hausaufgaben für die empirische Sozialforschung

Thomas Knüwer beschäftigt sich in einem sehr lesenswerten Beitrag mit dem Phänomen der „pluralistischen Ignoranz“: Der Begriff ist in der sozialpsychologischen Feldforschung in den 1920er Jahren geprägt worden. In Kurzform ausgedrückt:

„Die Mehrheit täuscht sich über die Mehrheit.“

Oder:

„Jeder glaubt, dass alle anderen daran glauben, während in Wirklichkeit keiner daran glaubt“.

Die Übertragung in den kommunikationswissenschaftlichen Kontext lautet:

„Wenn eine bestimmte Einstellung in einer moralisch geladenen Streitfrage fälschlich für eine Minderheiteneinstellung gehalten wird, mit der man sich isoliert, und demoskopische Ergebnisse zeigen, dass es tatsächlich eine weitverbreitete Einstellung oder Verhaltensweise ist, dann hat das Einfluss, die Bereitschaft zum öffentlichen Bekenntnis wächst, und damit kommt eine Außenwirkung in Gang.“

Nachzulesen im Fischer-Lexikon „Publizistik Massenkommunikation“ auf Seite 442 (Auflage April 2009).

Pluralistische Ignoranz ist vor allem in bedrohlichen Lagen untersucht worden: Je mehr Zeugen einen Übergriff oder Notfall beobachten, desto weniger wird eingeschritten. Bei der Einschätzung potenziell kritischer Situationen wird man sozial beeinflusst. Passives Verhalten der Zuschauer wird als Signal gewertet, dass die Situation kein Eingreifen erfordert. Die Übernahme von Verantwortung wird durch die Verteilung der Verantwortung unter allen Beteiligten beim jeweils Einzelnen gesenkt. Besonders ausgeprägt bei Gaffern an Unfallstellen.

Diese psychologische Gesetzmäßigkeit ist empirisch recht gut abgesichert.

Trifft aber pluralistische Ignoranz auf die Beispiele zu, die Thomas erwähnt? Als Aufhänger beschäftigt er sich mit dem wohl recht unbeliebten, arroganten und selbstherrlichen Düsseldorfer Oberbürgermeister Dirk Elbers.

Die Unzufriedenen legten eine defätistische Sichtweise an den Tag:

“Aber Elbers wird ja doch wieder gewählt.”

Die Lokalmedien jedenfalls spielten das Spiel des Obs mit: Rheinische Post, Westdeutsche Zeitung, Express, Antenne Düsseldorf und Center-TV.

„Sie alle zeigten Dirk Elbers in seiner ganzen (Selbst)Herrlichkeit. Einzige Ausnahme: Die ‚NRZ‘ mit ihrer winzigen Auflage“, schreibt Thomas Knüwer.

Bei der OB-Direktwahl gab es dann bekanntlich eine Überraschung. Der recht unbekannte SPD-Kandidat Thomas Geisel erzwang mit 38 Prozent eine Stichwahl:

„Das Ergebnis der ersten Wahl sorgte für einen großen Aufschwung Thomas Geisels. Während Amtsinhaber Elbers vielleicht selbst jener pluralistischen Ignoranz erlag und glaubte, die Bürger ständen hinter ihm, füllte Geisel das Social Web (nicht immer glücklich, aber immer motiviert) mit seinen Botschaften. Am Ende musste auch die konservative ‚Rheinische Post‘ gestehen, dass diese Internetaktivitäten des SPDlers maßgeblich den Wahlausgang beeinflusst hatten. Denn bei der Stichwahl lag Geisel von Anfang an vorne – vom Zählkandidaten zum überlegenen Sieger durch den Bruch der pluralistischen Ignoranz.“

Was Thomas Knüwer in seiner Analyse mit weiteren Fallbeispielen geleistet hat, sollte die empirische Sozialforschung ein wenig beschämen. Ich habe das Anfang des Jahres in meiner The European-Kolumne „MEDIENWANDEL UND DIE DEUTUNGSHOHEIT DER ELITEN – Meinung ohne Einheitsbrei“ moniert und einige kritische Kommentare aus der Sozialwissenschaft geerntet.

Wie oft rauscht der einheitliche Medientenor an der Wahrheit vorbei? Wie oft lassen sich die etablierten Medien an der Nase herumführen, etwa bei der vermeintlichen Karstadt-Rettung durch den selbst ernannten weißen Ritter Nicolas Berggruen? Oder bei der Kriegspropaganda von NATO und Bundesregierung Ende der 1990er-Jahre? Es gab schon häufig ein kollektives Versagen der klassischen Medien.

Was Thomas Knüwer anspricht, wird in der Theorie der öffentlichen Meinung als doppeltes Meinungsklima bezeichnet. Also ein Abweichen von öffentlicher und veröffentlichter Meinung. In der Regel prägt die Übereinstimmung des Medientenors (soziologisch auch als Medienkonsonanz bezeichnet) die Meinungen der meisten Menschen. Nur in wenigen Ausnahmen bildet sich jeder Einzelne eine abweichende Meinung. Meine These: Die Mitmach-Möglichkeiten des Social Webs verstärken das Phänomen des doppelten Meinungsklimas. Soziale Netzwerke stehen vor allem für eine fundamentale Veränderung der öffentlichen Sphäre. Öffentliche und individuelle Kommunikation verschwimmen. Und ob ich nun mit meiner eigenen Teilöffentlichkeit wenige oder sehr viele Menschen erreiche oder nicht, vorher war es schlicht unmöglich, ohne großen Aufwand eine eigene Öffentlichkeit herzustellen, die über den Nachbarzaun reichte. Es gibt eine Inflation persönlicher Öffentlichkeiten.

Die neuen Beteiligungs- und Vernetzungsmöglichkeiten verändern die Bildung öffentlicher Meinung! Wenn also Mediennutzer autonomer durch den Nachrichtenstrom surfen, kann das für die Meinungspluralität nur nützlich sein.

„Sie werden zunehmend selbst zum ‚Gatekeeper‘ von Informationen, selektieren und empfehlen Informationen aktiv weiter und orientieren sich auch bei ihrem Medienkonsum am Verhalten und den Hinweisen befreundeter Nutzer. Damit verändert sich die Verbreitungsdynamik von Nachrichten in der Gesellschaft, Freunde und Bekannte bekommen mehr Einfluss auf die Wahrnehmung der Welt als früher und laufen klassischen Autoritäten der öffentlichen Sphäre möglicherweise den Rang ab“, erläutert die Landesanstalt für Medien NRW (LfM) in Heft 8 ihrer Schrift „Digitalkompakt“ mit dem Schwerpunkt „Die vernetzte Öffentlichkeit“.

Pluralistische Ignoranz oder die Theorie der Schweigespirale sind nur in besonders moralisch aufgeladenen und existenziell wichtigen Fragen anwendbar. Beim „Fall“ des abgewählten Düsseldorfer Oberbürgermeisters wird es Gruppendruck oder Isolationsfurcht bei der Mehrheit der Bevölkerung nicht gegeben haben. Also die Furcht, dem ehemaligen Amtsinhaber entgegen zu treten. Deshalb trifft hier eher ein normales Auseinanderklaffen von öffentlicher Meinung und Medienmeinung zu. Das Kartenhaus des vorherrschenden Medientenors ist nach dem ersten OB-Wahlgang sehr schnell zusammen gebrochen und bewirkte eine Sogwirkung für die Unentschlossenen, dem damals amtierenden OB ein Beinchen zu stellen.

Es wäre jetzt die Aufgabe der Sozialwissenschaften, solche Phänomene empirisch unter die Lupe zu nehmen und die Wirkung persönlicher Öffentlichkeiten zu untersuchen. Herrliche Zeiten für Doktoranden.

Siehe auch:

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