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Milliardenschwere Fernsehwerbung beruhte auf Mumpitz – Altersabgrenzung war ein RTL-Vermarktungstrick

Marketingtrick steuerte Milliardendeals für Fernsehwerbung

Marketingtrick steuerte Milliardendeals für Fernsehwerbung

Die so genannte „werberelevante Kernzielgruppe” der 14- bis 49-Jährigen ist ein Marketing-Mythos des Privatsenders RTL. Das enthüllte der frühere RTL-Vermartungschef Uli Bellieno gegenüber der NDR-Sendung Zapp schon im vergangenen Jahr. Große Auswirkungen hatte das bislang nicht: „Schaut man sich die einschlägigen Fachzeitschriften an, steht bei der Veröffentlichung der Fernsehquoten immer noch die Altersabgrenzung im Vordergrund“, kritisierte Hans-Joachim Strauch, Geschäftsführer des ZDF-Werbefernsehens, auf dem Deutschen Handels-Werbekongress in Düsseldorf. Das Ganze war ein Vermarktungstrick von Helmut Thoma. Der damalige RTL-Chef habe es mit seiner Eloquenz geschafft, diese Zielgruppe im Markt zu verankern, berichtet Zapp: „Die Kukidents überlasse ich gern dem ZDF“, so der legendäre Ausspruch des Österreichers.

Dabei handelte es sich um eine völlig willkürliche Abgrenzung ohne wissenschaftliche Grundlage. Dennoch wurde die „werberelevante Zielgruppe” die zentrale Währung für die Werbewirtschaft. Seit Mitte der 1980er Jahre sind jährlich Milliarden Euro für Fernsehwerbung verprasst worden auf völlig willkürlichen Grenzziehungen eines Fernsehchefs. Thoma komme sich jetzt vor wie der Zauberlehrling, der nicht mehr beherrscht, was er entfacht hat. Hochbezahlte Mediaplaner, Kommunikationschefs und Werbeexperten im öffentlich-rechtlichen Fernsehen in Agenturen und in der Wirtschaft fielen darauf rein. Selbst ARD und ZDF rannten dieser Schimäre hinterher. „Dabei hatte unsere Argumentation von Anfang an enorme Lücken“, gab Thoma in einem Interview mit dem Spiegel zu. Er habe der Werbewirtschaft suggeriert: Ihr müsst an die Jungen ran, die „Erstverwender”; deshalb braucht ihr auch keine alten Zuschauer, denn die seien markentreu. Aber ab 29 brauche man wirklich nicht mehr von „Erstverwendern” zu sprechen. Außerdem: Wer habe denn heute das Geld? Die 50- bis 65-Jährigen.

Nach Ansicht des Personalexperten Udo Nadolski, Geschäftsführer des Beratungshauses Harvey Nash hat sich vor allen Dingen die Konsumgüterindustrie ein sehr faules Kuckucksei ins Nest legen lassen: „Der Jugendkult in der Werbung war eine Schimäre des Tutti Frutti-Senders und niemand auf der Unternehmensseite hat das in Frage gestellt. Hier bewahrheitet sich leider im nachhinein die legendäre Floskel, die Henry Ford II zugeschrieben wird: ‚Ich weiß, dass die Hälfte meiner Werbeausgaben sinnlos zum Fenster herausgeworfenes Geld ist, ich weiß nur nicht welche Hälfte’.“ Vielleicht sei dieser Selbstbetrug auch systemimmanent. „Welcher Werbechef stellt sich denn jetzt seinem Vorstand und gibt zu, dass milliardenschwere Kampagnen auf Mumpitz beruhten“, vermutet Nadolski.

Das öffentlich-rechtliche Fernsehen sei jedenfalls von Thoma am Nasenring vorgeführt worden. „Wir haben den kommerziellen Konkurrenten 1984 einfach nicht Ernst genommen“, räumt ZDF-Mann Strauch ein. Jetzt allerdings werde verstärkt über Qualität nachgedacht in der Fernsehwerbung. Auch Sonderplatzierungen und Print würden wieder eine größere Rolle spielen.

Auf der Suche nach dem Missing Link in der Zielgruppenanalyse ist man in Kooperation mit der Gesellschaft für Konsumgüterforschung (GfK) auf globale Shopper-Typologien gestoßen. Als besonders relevant gelten die Premium- und Markenkäufer, die man als Zielgruppe für die Mediaplanung bereitstellen möchte. Wenn es beispielsweise um den Kaufakt geht, dominiere bei den Premiumkäufern die ältere Generation. Diese Gruppe achte auf Ästhetik, Ambiente, Emotion, Exklusivität und Service.

„Geht man nach der klassischen Aufteilung der 14- bis 49-Jährigen, haben ARD und ZDF in der Zeit von 17 bis 20 Uhr im Schnitt pro Werbeblock 240.000 Personen erreicht. Bei der Aufteilung nach Premium- und Markenkäufern kommen ARD und ZDF auf 1,1 Millionen Personen. Im Vergleich mit den drei größten kommerziellen Sendern RTL, Sat1 und Pro7 erreichen ARD und ZDF doppelt so viele Personen“, erklärte Strauch.

Über den Autor

gsohn
Diplom-Volkswirt, Wirtschaftsblogger, Livestreamer, Moderator, Kolumnist und Wanderer zwischen den Welten.

24 Kommentare zu "Milliardenschwere Fernsehwerbung beruhte auf Mumpitz – Altersabgrenzung war ein RTL-Vermarktungstrick"

  1. Das passiert, wenn Marketingleiter ihre Hausaufgaben nicht richtig und mit schlechtem Handwerkszeug erledigen. Hätten die Unternehmen schon frühzeitig damit begonnen direkt mit Ihren Kunden zu sprechen, deren Affinitäten, Wünsche etc zu erkunden und die Daten entsprechend in den CRM Systemen abzubilden, dann wüssten sie wer, wie alt, wann was wo liest, schaut, sich informiert. Mit social CRM sind die Chancen direkt und ungefiltert Kundenbedürfnisse analysieren zu können noch gestiegen. Das ist zwar harte Arbeit für das Marketing hat aber einen grossen Vorteil. Man muss sich nicht mehr ein X für ein U vormachen lassen.

  2. Wie kann es sein, dass das Spiel des Zauberlehrlings 25 Jahre nicht in Frage gestellt wurde? Lag es nur an mangelnder Kompetenz und gab es unter den Beteiligten auch ein Einvernehmen, Kickbacks etc.

  3. Provokante Frage: Wen interessiert in naher Zukunft noch das WerbeFERNSEHEN?

    Mein Sohn sucht sich den größten Teil seiner passiven Bildschirm-Unterhaltung on-demand bei YouTube.. .

  4. Berechtigte Frage. Müssten die Mediaplaner, Markenartikler und Werbeagenturen mal beantworten, warum immer noch über acht Milliarden Euro jährlich in die klassische Fernsehwerbung fließen.

  5. Mal unabhängig vom Schwachsinn der Fernsehwerbung, die immer belangloser wird. Warum hat bis auf Zapp bislang keiner diesen Skandal aufgegriffen???? Hier geht es ja nicht um Peanuts.

  6. @Mats: berechtigte Frage. Wäre eigentlich ein Spiegel-Titel wert.

  7. nicht nur Spiegel. Auch Monitor und so. Oder hat da die Werbewirtschaft etwas dagegen???

  8. @Mats: Zumindest die Printmedien haben keinen Grund zur Zurückhaltung – ganz im Gegenteil

  9. aber auch die Markenindustrie darf das nicht auf die leichte Schulter nehmen. Bei allem Selbstbetrug, den man sich jetzt nicht eingestehen will – ist ja auch peinlich. 25 Jahre im empirischen Tiefschlaf verbraucht zu haben.

  10. Die Jahre vergehen wie im Flug oder so ähnlich….

  11. Miliana Romic | 3. April 2009 um 9:24 Uhr |

    Natürlich ist es peinlich, Milliarden in den Wind zu pusten und eine nicht vorhandene Zielgruppe zu bewerben, interessanter ist aber die Frage, wer letztendlich von dem Nepp profitiert hat. Wohin sind eigentlich die investegative Printjournalisten unseres Landes verschwunden?

  12. Manfred Wirl | 3. April 2009 um 17:49 Uhr |

    Ein Medienguru, geleitet von der Vorstellung der eigenen Genialität sowie der Einfältigkeit der anderen, führt mit seinen saloppen Sprüchen die ganze Zunft der Mediaplaner und Werbeexperten auf den Holzweg. Da muss man sich ernsthaft die Frage stellen, ob die Mediaforschung für diese Experten tatsächlich die Grundlage für den Werbemitteleinsatz darstellt oder nur die Begründung für deren Entscheidungen liefern soll.
    Wissenschaftliche Befunde und empirische Erkenntnisse haben bei wichtigen und kostspieligen Entscheidungen wohl doch nicht die Bedeutung, die man ihnen in der Öffentlichkeit zubilligt.

  13. @Manfred: Häufig werden diese Daten wohl nur taktisch eingesetzt. Aber was für ein Wirbel wurde mit den Einschaltquoten in der “werberelevanten” Zielgruppe der 14 bis 49-Jährigen getrieben. Eigentlich ist ja schon durch die Altersspanne klar, dass das für Mediaplanungen völlig ungeeignet ist.

  14. Vielleicht hat Thoma das Büchlein von Krämer “So lügt man mit Statistik” zu wörtlich genommen. An den Erfolg hat er wahrscheinlich gar nicht geglaubt, am Anfang.

  15. @Mats: Kann schon sein. Es liegt vielleicht auch an der Bildungsreformen der vergangenen Jahrzehnte: in den 70er Jahren, wo man Mengenlehre eingeführt hat.
    Matheunterricht gestern, heute und morgen

    Hauptschule 1960:
    Ein Bauer verkauft einen Sack Kartoffeln für 50,- DM. Die Erzeugerkosten betragen 40,- DM. Berechne den Gewinn!

    Realschule 1970:
    Ein Bauer verkauft einen Sack Kartoffeln für 50,-DM. Die Erzeugerkosten betragen 4/5 des Erlöses.Wie hoch ist der Gewinn?

    Gymnasium 1980:
    Ein Agrarökonom verkauft eine Menge subterraner Feldfrüchte für eine Menge Geld (G). G hat die Mächtigkeit 50. Für die Elemente aus G gilt: G ist 1. Die Menge hat die Herstellungskosten (H). H ist um 10 Elemente weniger mächtig als die Menge G. Zeichnen Sie das Bild der Menge H als die Tilgungsmenge der Menge G und geben sie die Lösung (L) für die Frage an: Wie mächtig ist die Gewinnsumme ?

    Gesamtschule 1990:
    Ein Bauer verkauft einen Sack Kartoffeln für 50,- DM. Die Erzeugerkosten betragen 40,- DM und der Gewinn 10,-DM. Aufgabe: Unterstreiche das Wort “Kartoffeln” und diskutiere mit Deinem Nachbarn darüber.

    Schule 2000 (nach Bildungsreform):
    ein kapitalistick-prewiligiertes bauer bereichert sich nach rechtfertigunk an einem sack kartoffeln um 10,- euro. untersuche das tekst auf inhaltliche feler, korigire das aufgabengestaltunk unt demonstrire gegen das loesunk.

  16. Thoma konnte zwishen 1980 und 1990 seinen Zaubertrick einsetzen – da hat man zuviel über Kartoffeln diskutiert

  17. Es gibt zu viele Esoteriker in der Werbebranche. Die Controller sitzen in den falschen Abteilungen.

  18. In vielen Unternehmen sitzen noch nicht mal Mediaplaner. Das machen dann spezielle Agenturen – und wie die ticken, na ja….

  19. nennt sich das nicht Kickback oder so ähnlich?

  20. Klüngel, unter einer Decke stecken, Interessengleichheit, Synergien, nette Partys feiern, Amigos, Männerfreundschaften, Frau-Mann-Happenings, Saufgelage, Rotlichtsponsoring, eine Hand wäscht die andere, Kölner Krankheit, ich verrate nichts – Du darfst nichts verraten, wir halten den Mund – bis der Tod uns scheidet, Bussi-Bussi-Connection, wir sind schlau und die anderen verstehen nichts von Statistik, Geldvrrschwenundung ist nur eine Sache des Blickwinkels, Kritik an Fernsehwerbung ist spießig, der Mensch ist schlecht – warum soll ich dann besser sein? usw. usw. Meinst Du das???

  21. Ein Bund fürs Leben, Halt beim Abschied Deine Schnauze…ja also Mats, Du hast da wirklich fast alles dabei… 😉

  22. Mir war eigentlich noch nie so richtig klar, warum es eine Werbezielgruppe geben sollte, die sich tatsächlich von 14 bis 49 spreizen ließe. Es sei denn, jemand hat pädophile Neigungen.
    Kann ich mir den Blog-Beitrag, selbstverständlich mit Urheber und Verlinkung, auf den Circle ziehen?

  23. @Heiko Selbst zwischen 14- und 20-Jährigen liegen ja schon Welten. Und zwischen mir (als 48-Jährigen alten Sack) und meinen Kindern liegt ein ganzer Kosmos…..

  24. Ein Statistikprofessor mailte mir dazu folgende Botschaft: “Dass eine ganze Industrie so blöd ist, auf eine solch flapsige Bemerkung hereinzufallen, zeigt ja nur, wie dumm diese ganzen Werbefuzzies in Wahrheit sind. Aber das weiß doch eigentlich jeder, oder?”

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