
Idiotensysteme im Management
Von Professor Rupert Hasenzagl gibt es eine vernichtende Prophezeiung für das Management:
„Wir bedienen uns derzeit eines toxischen Systems und fahren mit 300 Stundenkilometer gegen die Wand.“
Wir könnten uns noch gar nicht vorstellen, wo wir in fünf Jahren stehen würden, weil uns die Dimensionen fehlen. Weil wir uns in einem enormen Umbruch befänden. Weil Unsicherheit und Angst zunähmen. Weil es vielen Managern an der Profession fehlt, um die Komplexität zu erfassen. Stattdessen würden wir die Dosis an Macht und Bürokratie erhöhen. In diesen bürokratischen Organisationen gedeiht eine trügerische Rationalitätsfantasie. Sie verschanzt sich hinter Controlling-Kennzahlen, Erbsenzähler-Monitoring-Systemen, ISO-Normen, Zertifikaten, Testaten und sonstigen Hilfsmitteln der Planungsgläubigkeit.
Der britische Soziologe Michael Power vertritt die These, wir lebten in Audit-Gesellschaften, in denen immer mehr beobachtet und immer weniger gehandelt wird. Sozusagen eine Evaluations- und Buchführungs-Diktatur. Nachzulesen in dem äußerst bemerkenswerten Opus „Leben im Büro“ von Christoph Bartmann – erschienen im Hanser Verlag. Der Autor erkennt im „modernen“ Management von Staat und Wirtschaft eine Tendenz zu einer neureligiösen „Fähigkeitsmystik“. Die Adepten dieser Wunder-Ideologie schwallen in endlosen Monologen von perfekter Prozessoptimierung und Maßnahmen zur Qualitätssicherung. Ganze Heerscharen von Beratern ernähren sich vom Verkauf von Inspektionen, Audits, Testaten, Analysen, Klassifikationen und Zertifikationen.
Im sogenannten New Public Management gedeiht eine Neo-Bürokratie, die den Bürokratieabbau mit neuer Bürokratie übersät.
„Der flächendeckende Einsatz von NPM lässt eine Audit-Gesellschaft entstehen, in der die Rechenschaftslegung und Evaluation von Tätigkeiten einen solchen Umfang annimmt, dass die Tätigkeiten selbst von dem Zwang zur Berichterstattung und dem Aufwand der Evaluation deformiert und überfrachtet werden und so ihren ursprünglichen Sinn und Zweck verlieren“, schreibt Richard Münch in seinem Buch „Globale Eliten, lokale Autoritäten: Bildung und Wissenschaft unter dem Regime von PISA, McKinsey & Co.“
Wo das hinführt, dokumentiert „FAZ“-Redakteur Carsten Knop in einer Story über die Kapitulation eines Bankberaters. So werden die Kunden mit einem Protokollwahnsinn überzogen, um vor unsicheren Finanzprodukten geschützt zu werden. Als Ergebnis bleiben frustrierte Angestellte und verwirrte Verbraucher zurück, die tonnenweise Papierstapel entsorgen müssen.
Das Ganze wird von einem Mehltau an Sprachregelungen, Leerformeln, Zielen, Strategien und operativen Handlungsanweisungen überzogen. Wichtigtuerei, gesteuert von einem rhetorischen Autopiloten – programmiert von Consulting-Päpsten, die sich mit Binsenweisheiten über Wasser halten.
Besonders auffällig ist das Regime der Neo-Bürokraten im Online-Marketing. Wer den LEAD-SEO-ONE-TO-ONE-Propaganda-Alchemisten etwas genauer auf die Finger schaut, entdeckt semantische Nebelschwaden und Fata Morgana-Effizienz-Messungen. Es sind seelenlose Technokraten, die uns wie weiße Mäuse im Versuchslabor betrachten und uns mit ihren dümmlichen A/B-Testverfahren dressieren wollen.
Die Heilsversprechen der Marketing-Technokraten
Am Schluss sollen dann „Leads generiert“ werden für Mailingaktionen, um den Auftraggebern und Vorständen irgendeine Conversion-Response-Statistik-Sauce zu präsentieren. Hauptsache die Zahlen klingen optimistisch: Im Bürokraten-Duktus der Software-Anbieter werden umfassende Funktionen wie E-Mail-Marketing, Landing Pages und Formulare, Kampagnen-Management, Lead-Pflege und Lead-Bewertung, Management der Lead-Lebensdauer, CRM-Integration, Social-Marketing-Funktionen sowie Marketing-Analytics als Heilsversprechen an Unternehmen verkauft, die damit effektiv und effizient ihren ROI (hat nichts mit Siegfried zu tun, sondern steht für Return on Investment) berechnen, Umsätze steigern und Gewinne in die Höhe treiben. Alles klar?
Das „individuelle“ Gespräch mit Kunden übernehmen lernende Algorithmen, die das Zielsubjekt automatisiert bewerten und mit Kampagnen bespielen, weil ja alles so schön im System vorhersagbar sei. Entsprechend ändert sich die Marketingdisziplin immer mehr zu einem technischen Beruf, „der den souveränen Umgang mit technologischen Lösungen erfordert“, heißt es in einer Hochglanzbroschüre.
Steuerungslehre statt gute Gespräche
Die Kunst des guten und offenen Gesprächs, die man im Internet ohne Barrieren führen kann, wird durch eine Rückkehr zur alten Denke der kybernetischen Steuerungslehre von Sender-Empfänger-Modellen ersetzt. Während sich draußen alles vernetzt, vertrödeln drinnen in den Unternehmen die Manager mit verbrauchten Ritualen aus dem vergangenen Jahrhundert wertvolle Zeit, kritisiert Anne M. Schüller, Autorin des Buches „Das Touchpoint-Unternehmen“. Auch wenn nun Software und digitale Technologien zum Einsatz kommen, stecken hinter den Marketing-Mauern immer noch Topdown-Formationen, Insellösungen, Hierarchiegehabe, Budgetierungsmarathons, Anweisungskultur, Kontrollitis und Kennzahlen-Manie. Eine fossile Gesinnung mit einem etwas moderneren Anstrich. Mitarbeiter kommen in solchen Abbildungen nicht vor – sie sind Fußvolk und werden in den Schubladen der verschiedenen Abteilungen verwaltet. Und die Kommunikation zu den Kunden läuft über so genannte „Kanäle“ – also was man so früher darunter verstanden hat mit klar identifizierbaren Sendern und Empfängern.
„Mit stolzer Brust wird zwar über Multichannels geredet und mit Crosschannel-Expertise geprotzt, doch aus Sicht der Kunden betrachtet crosst gar nichts”, kritisiert Schüller.
Formalismen, Kommandostrukturen, Kontroll- und kundenfeindlicher Standardisierungswahn seien die größten Bremsklötze. Die Zahlenhörigkeit vieler Führungsgremien ist geradezu abstrus:
„Oft genug wird ganz fanatisch das Falsche getan, Hauptsache, es kann gemessen werden. Und Manipulationen zum eigenen Vorteil sind Normalität. Dem Kennziffernjoch kann niemand entkommen. Selbst die Mitarbeiterperformance wird nun über Dashboards und Cockpits gesteuert, so, als ob Menschen Maschinen wären, bei denen man die Anzahl der Umdrehungen misst.”
Die Dominanz der Sozialanalphabeten
Reportings und Budgetierungsverfahren, durch die ab September die halbe Firma in Lähmung verfällt, fressen noch mehr Ressourcen.
„Bisweilen kommt mir das vor wie ein Beschäftigungsprogramm für Sozialanalphabeten. Denn solange man mit Zahlenklauberei zugange ist, muss man sich nicht mit den Menschen befassen”, führt Schüller weiter aus.
Aber was passiert auf der Kundenseite, die die Sozialingenieure über Maschinen dirigieren wollen? Werden wir als Empfänger dieser technokratischen Botschaften und hoch manipulativen Selektionsverfahren, die Facebook und Co. an uns ausprobieren, zu willenlosen Opfern von Nasenring-Systemen? So blöd sind die Nutzer vielleicht gar nicht, um die Psychotricks der Online-Werber und Marketing-Maschinisten zu durchschauen. Es reicht eine negative Erfahrung und die Lernkurve geht steil nach oben. Irgendwann kommt hinter jeder Kampagne, hinter jeder dümmlichen Lead-Generierung via A/B-Testverfahren die Stunde der Wahrheit, wo man als Konsument die Dienstleistung oder das Produkt beurteilen sowie die technokratischen Kampagnen, Algorithmen und Verfahren zur Suchmaschinen-Optimierung als heiße Luft entlarven kann. Spätestens dann erkennt man die verstümmelten Arme der Datenkraken, die uns im Netz bis zum virtuellen Exitus verfolgen. Heute versandet die Penetranz der Stalking-Systeme schneller als zu Zeiten der heiligen Inquisition, wo Ungläubige, die nicht parierten, gefoltert, gevierteilt oder verbrannt wurden.
Die Steuerung der digitalen Inquisition scheitert schon in dem Moment, wo man ihre Instrumente durchschaut. Das Bekanntwerden von Psycho-Methoden und Automaten-Systemen reicht aus, um ihre Geltung sowie Wirksamkeit außer Kraft zu setzen. Hühner haben es da schon schwerer, den Fangapparaten zu entkommen.
Letztlich prägen Meinungen und die Bereitschaft zur Weiterempfehlung das Image von Organisationen, egal mit welchen neobürokratischen Instrumenten Manager agieren. Damit beschäftige ich mich in meiner The European-Mittwochskolumne zum Thema: Shitstorms zwischen kollaborativer Wiedergutmachung und Ignoranz.
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