Sarrazin sieht die Bäume vor lauter Wald nicht

Der SPD-Finanzpolitiker und Bundesbanker Thilo Sarrazin ist Umgeben von Zahlenkolonnen. Alles schön aufbereitet in aggregierten Statistiken. Geldmengenentwicklung, Inflation, Arbeitslosigkeit, Demografie, Währungs- und Börsenkurse, Zuwanderung, Auswanderung, Steuereinnahmen und Steuerausgaben. Menschen, Ideen, Erfindungen, Schicksale, Zufall, Glück, Unglück, Kreativität, Hilfsbereitschaft, Weisheit, Lebensklugheit, Intuition, Fleiß, Zuverlässigkeit, Selbstdisziplin, Geschicklichkeit oder Talent kommen in der Makrowelt des Statistikers nicht vor.

Die Eugenik-Analysen von Sarrazin sind ein Ausfluss dieser kalten Sichtweise auf Populationen, Einwanderungsbewegungen, Intelligenzquotienten, genetische Dispositionen, Herkunft oder Konfessionen. Siehe dazu auch: Die Freude, andere Menschen verachten zu dürfen.

Es sind Scheinwelten, Scheingewissheiten, Scheinwahrheiten und Scheinkorrelationen. Die statistischen Annahmen, Prognosen und Implikationen des Zahlenfetischisten Sarrazin sind ein Ausfluss von Wissensanmaßung. Der staatlich alimentierte Bundesbanker repräsentiert die töpelhafte Variante der Makroökonomen, die glauben, mit statistischen Methoden belastbare Prognosen für die Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft zu treffen. Die Treffgenauigkeit dieser Modellrechnungen konnten wir in den vergangenen zwei Jahren hautnah miterleben. Dazu habe ich ja einige Beiträge geschrieben u.a. VWL-Mechaniker im Machbarkeitswahn.

Die Ideenwelt der Erbsenzähler pendelt auffällig zwischen physikalischen und sozialen Wissenschaften hin und her. Das Ganze fing mit der Analyse von Meßfehlern an, zum Beispiel in der Astronomie, und wandte dann die dort entwickelten Methoden auf gesellschaftliche Erscheinungen an. „Einer der Pioniere der Disziplin war Sir Francis Galton, dem nicht nur die Theorie der Regression zu verdanken ist; er erfand auch den Begriff der Eugenik und schlug vor, mit ihrer Hilfe eine ‚geistig und moralisch überlegene Rasse‘ zu züchten“, bemerkt der Publizist Hans-Magnus Enzensberger in seinem Buch „Fortuna und Kalkül – Zwei mathematische Belustigungen“ (erschienen in der edition unseld).

Aus einer kruden Mischung von Biologismus, Annahmen zur Intelligenz und Modellrechnungen bastelt Sarrazin an einer höchst fragwürdigen politischen Programmatik. Überhaupt stört mich der Begriff Intelligenz. Ist jemand mit einem hohen IQ klug? Sind die Projekt-Kinder der Macchiato-Eltern vom Prenzlauer Berg schlau? Mitnichten. „Heraus kommen Hochdruckkinder, die Mandarin lernen und Schlagzeug, und deren Mütter nur noch andere Mütter kennen und die alles dafür tun, dass das Leben ihres Kindes gelingen möge“, schreibt die taz in einem gelungenen Kommentar. Das Ergebnis sind verzärtelte und hochnäsige Hedonisten, die beim kleinsten Gegenwind aus ihren Dolce Gabbana-Pantoffeln kippen. Ob sie damit gut durchs Leben kommen, ist höchst fraglich, auch wenn sie die Principea Mathematica von Russel und Whitehead runterbeten können.

Jeder Mensch hat Talente – geistige und körperliche. Auch ohne formale Schulbildung. Unser Problem liegt an der Abschottung gegenüber dem vermeintlich Fremden. Vielleicht ist Sarrazin ja nur ein ängstlicher Hosenscheißer, der seine Komplexe an Ausländern austobt.

Faktum ist, dass es in Deutschland zu wenig Chancen für die „Outsider als Insider“ gibt, wie es der amerikanische Historiker Peter Gay in seinem Buch „Weimar Culture“ ausdrückt. Die von draußen nach drinnen drängen, die härter und länger arbeiten müssen, um die Handicaps ihrer Herkunft zu überwinden, die das Noch-nicht-Dagewesene oder Noch-nicht-Gedachte anbieten müssen, um trotz Abwehr und Abneigung der Alteingesessenen die vielen kleinen Festungen und Mauern sprengen und die trägen Platzhirsche herausfordern: Dazu zählt Zeit-Mitherausgeber Josef Joffe den koreanischen Händler, der in New York seinen Obstladen die ganze Nacht offen hält, den peruanischen Chauffeur aus den Vororten, dessen Sohn in Stanford landete. „Oder der kleine Handschuhverkäufer Samuel Goldwyn (geb. Gelbfizs) und der Schrotthändler Louis B. (vormals Eliezer) Mayer, die Gründer von MGM, die in Hollywood aus Zelluloid Gold machen konnten, weil Amerikas Etablierte nicht erkannt hatten, welche Zukunftsindustrie sich vor ihnen auftat“, so Joffe.

Herkunft gleich Zukunft?

In keinem Land des Westens sei der Zusammenhang „Herkunft gleich Zukunft“ so ausgeprägt wie in Deutschland, wo über vier Fünftel der Studenten den Mittel- und höheren Schichten entstammen. Der junge Deutsche aus Neukölln, der begabte Türke, Albaner oder Senegalese komme nur selten aus seinem Ghetto raus und werde in Richtung „Stanford“ bugsiert. „Denn erstens gibt es in Deutschland kein ‚Stanford’, also eine talentaufsaugende Bildungsinstitution, die den Ehrgeiz beflügelt und den Aufstieg beschleunigt. Zweitens gibt es auf dem Weg nach ‚Stanford’ keine Zwischenstationen, wie sie in Amerika die John Hopkins University bietet, wo Jugendliche aus ‚bildungsfernen Schichten’ zwei Monate lang in einem ‚bildungsnahen’ Milieu akkulturiert werden, um dort die Techniken zu lernen, die das Kind des Ministerialdirektors schon zu Hause aufnimmt“, erläutert Joffe und bemängelt die Ideologie des Gleichschritts in der Bildungspolitik. Es dürfe niemand aus der Reihe ausscheren und nach vorne gezogen werden, „auch wenn es sich um die Allerletzten handelt, die zwar die Begabung, aber nicht die Fertigkeiten haben, um die Ghettomauern zu überwinden“.

Gut vierzig Jahre nach der von dem Philosophen und Pädagogen Georg Picht diagnostizierten Bildungskatastrophe hat sich in Deutschland wenig geändert. Der „Bildungsnotstand“ an den Schulen wurde damals vor allem auf ungenügende Schulausstattung, fehlendes Lehrpersonal und schlechte Lehrerausbildung zurückgeführt. Die von der Großen Koalition Mitte der 1960er Jahre eingeleiteten Reformen wurden von der sozial-liberalen Regierung weiter vorangetrieben. Zwischen 1970 und 1975 verdoppelten sich die Bildungsausgaben von Bund, Ländern und Gemeinden. Und trotzdem diskutieren wir heute das gleiche Problem unter dem Stichwort ‚Pisa’.

In Universitäten wie Harvard oder Stanford werden 60 Prozent der Studenten mit Darlehen, subventionierten Nebenjobs und Stipendien unterstützt. Bei Doktoranden kommt die Universität sogar für die gesamten Studiengebühren und Lebenshaltungskosten auf. An der TU München kommen statistisch 44 Studierende auf einen Professor, an der ETH Zürich sind es 35, aber an der Stanford University nur acht. Die TU München gibt für jeden Studierenden jährlich 20.540 Euro aus, die ETH Zürich 57.310 Euro und die Stanford University 188.405 Dollar.

Was sagen Sie zu diesem statistischen Befund, Herr Sarrazin?

Nach dem Buch folgt nun der Rausschmiss aus der Deutschen Bundesbank – wahrscheinlich mit einer hochdotierten Abfindung. Das war wohl der Masterplan von Thilo S.

Siehe auch:
Junge Hühner, alte Gockel und der Untergang des Abendlands.