
Wenn Naturwissenschaftler und Mathematiker Ausflüge in sozial- oder geisteswissenschaftliche Disziplinen machen, als Börsengurus an die Wall Street gehen oder gar Aussagen über politische Fragen tätigen, kommt häufig mechanistischer Unfug heraus.Beim Mathematik-Genie John von Neumann sieht das anders aus. Bei der Entwicklung der Wasserstoffbombe hatten sich für ihn Berechnungsaufgaben ergeben, die sich nur mit verbesserten Rechenmaschinen für Geschütz-Tabellen bewältigen ließen.
„Der hochrangige Geheimnisträger, wissenschaftliche Berater fast aller geheimen Militärprojekte der USA im Zweiten Weltkrieg, durfte aber diesen Zusammenhang auf keinen Fall preisgeben. Schon deshalb musste er die gefundene Maschine tarnen. Dazu verhalf ihm die Metaphorik eines Diskurses, der später als Kybernetik bekannt wurde“, schreibt Wolfgang Hagen in dem Band Cybernetics – Kybernetik, The Macy-Conferences 1946 – 1953.
John von Neumann initiiert und fördert diese Camouflage umso mehr, als die wissenschaftsübergreifende Ausrichtung der Kybernetik dem Computer und den gewaltigen Investitionen zu seinem Bau eine ideale Friedenslegitimation bietet. Von Neumann konnte mit dieser Tarnung in der Nachkriegszeit sein Ziel der Super-Bombe ungestört und erfolgreich fortsetzen.Was er unterschätzte, war die Eigendynamik der kybernetischen Denker, die an einer Generalisierung der mathematischen Berechnungen für selbstkorrigierende Automaten arbeiteten. Zu ihnen zählte Norbert Wiener.
„Die Kybernetik im Wienerschen Sinne propagiert die These, dass in einem ganz konkreten Sinn alles, was Rückkopplung organisiert, als Medium begriffen werden kann. Kybernetik ist die erste Wissenschaft, die programmatisch darauf zählt, dass alles, was berechenbar ist, wie komplex es auch sei, in eine dem individuellen Menschen letztlich überlegene Hardware rückkoppelnder Maschinen gegossen werden könne“, führt Hagen aus.
Die von Norbert Wiener propagierte Generallinie der Kybernetik teilte von Neumann wissenschaftlich . In seiner Rezension zu Wieners Kybernetik-Buch in “Physics Today” heißt es 1949:
Der Autor sei einer der Protagonisten der These, dass sich sowohl die Wissenschaft als auch die Technik, in naher und ferner Zukunft zunehmend von Problemen der Intensität, Substanz und Energie zu Problemen der Struktur, Organisation, Information und Kontrolle übergehen werden. Jede Aussage dieser Art und Allgemeinheit sei riskant und lädt – nicht ganz unschuldig – zu Fehlinterpretation ein und ist außerhalb ihres technischen Kontextes von zweifelhaftem Wert.
“Von Neumanns Kritik an Wieners Kybernetik mündet in dem Vorhalt der falschen Generalisierung eines für begrenzte Bereiche der Wissenschaft adäquaten Konzepts. Dahinter steckt nicht nur von Neumanns notorische Abneigung gegen Kontinuitätsphysik und metaphysische Naturdeutungen aller Art. Hinzu kamen ja noch von Neumanns tiefe mathematische Differenzen mit Wiener in Bezug auf die Quantenmechanik, die Ergodentheorie und dieTheorie der Automaten, sowie in Bezug auf die Verklammerung der Begriffe Entropie und Information, die nicht Wiener, sondern von Neumann bereits Ende der zwanziger Jahre entwickelt hatte”, schreibt Hagen in seinem Opus “Die Camouflage der Kybernetik”.
Um weitere Mißverständnisse zu vermeiden, bittet von Neumann im September 1949 seinen Freund Norbert Wiener, in öffentlichen Interviews, alle Hinweise auf “reproductive potentialities of the machines of the future” zu unterlassen.
Die Kybernetik kann beliebig Turing-Maschinen konstruieren, die Turing-Maschinen enthalten und wechselseitig ineinander überführen. “Aber genau deren logische und epistemologische Grundlage, als Meßsystem angewandt auf die Gehirn-Physiologie, scheitert grundlegend. Von Neumann zeigt, dass die Kybernetik an der Konstruktion des Systems scheitern muß, das alle ihre Konstruktionen beobachtet. Es sei denn, man würde Beobachtung, also das menschengemäße Betätigen von Gehirnfunktionen, unsinnigerweise auf ein schlichtes Meßmodell reduzieren. Anders als es die Kybernetiken zweiter Ordnung nach wie vor behaupten, scheitert jedes Re-Entry des Beobachters in das System der Beobachtung, weil wir über die Ergodik der statistischen Gehirnfunktionen nichts wissen”, resümiert Hagen.
Als selbständiger Kalkül funktioniere diese Wiedereinkehr der Logik in sich selbst dann eben bestenfalls nur im Kontext einer universellen Spiritualität. George SpencerBrown, auf den sich alle Second-Order-Kybernetiker und Konstruktivisten so gerne beziehen, hat die Nähe seines Logik-Kalküls zum Spiritualismus der Universalität nicht nur nie verschwiegen, sondern propagiert sie unermüdlich.
“Alle konstruktivistischen Theorien, von Bateson bis Luhmann, haben diese Spiritualität ihres epistemologischen Kerns bislang verborgen. So setzt sich die Camouflage der Kybernetik bis
heute fort”, schreibt Hagen.
Egal, welche Begriffskaskaden die Kybernetik-Jünger nachliefern, etwa die Homöostase zur Aufrechterhaltung eines Gleichgewichtszustandes eines offenen sowie dynamischen Systems „durch einen regelnden Prozess“, ob sie noch eine Portion Ethos in ihre Zirkelschluss-Aussagen draufpacken oder aus Arschloch-Unternehmen vernünftige Organisationen stricken wollen, es sind Modellschreiner auf Wasserfloh-Niveau. Ihren Worthülsen fehlen schlüssige und überprüfbare Theorien und saubere Beweisführungen. Jede Annahme steht unter Voraussetzungen, die ihrerseits wieder hinterfragt werden müssen.
Auch das Geschäft der Kybernetiker, die sich in der Managementlehre austoben, Menschen und sogar Staaten regulieren wollen oder gar sozialwissenschaftliche Ausflüge unternehmen, steht unter der Bedingung der Rechtfertigung. Mit Demut kann sich eine Disputation nicht entfalten (die ist von mir mal verlangt worden nach einem Streitgespräch). Wer das verlangt, sollte häufiger den Gottesdienst besuchen. Ich nehme mir die Freiheit, Geistesgrößen wie Stafford Beer oder den Google-Chefdenker Ray Kurzweil unter die Lupe zu nehmen. So erklärt Kurzweil Eingriffe in den menschlichen Geist für wünschenswert, weil dadurch Charakterfehler behoben und Leistungssteigerungen ermöglicht werden könnten. Klingt irgendwie nach der Psychotherapie im Zukunftsroman „Clockwork Orange“ von Anthony Burgess.