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Die R-Zahl und der Modus der Aburteilungen: Willkommen im Mittelalter

Auf Facebook habe ich eine kleine Debatte gestartet zu den Reproduktionszahlen, die vom Robert-Koch-Institut in Pressekonferenzen für die Nation verkündet werden.

Anfang der Woche kommunizierte das RKI eine deutlich gestiegene R-Zahl von 0,9 bis 1. Zwei Tage später, also am Mittwoch, lag man bei einem deutlich geringeren Wert, nämlich 0,75. 10 infizierte Personen stecken also im Schnitt 7,5 Menschen an.

Die Veränderungen bei den Berechnungen der R-Zahl durch das RKI möchte ich jetzt nicht weiter kommentieren.

Interessant sind die schnellen Meinungen, die noch am Montag in die Welt geschossen wurden.

Auch das möchte ich gar nicht im Detail darlegen. Das habt Ihr selbst mitbekommen.

Es gibt nach meiner Einschätzung ein paar generelle Probleme. Die Frage der Datenqualität und die Frage der Kausalität. Alles gar nicht so einfach zu beurteilen (ist immer besser als aburteilen). Weder in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften noch in der Epidemiologie.

Wir befinden uns halt nicht in einer perfekten Labor-Umgebung, wo wir Experimente exakt wiederholen können. Jede empirische Untersuchung hat es auch mit einer nicht zu beobachtenden Situation zu tun. Die berühmte Was-wäre-wenn-Frage. Kontrafaktische Situationen lassen sich nur mit großem Aufwand herstellen oder sind ethisch einfach nicht zu vertreten. Wir sind ja keine Versuchskaninchen.

Eineindeutige Kausalitäten sind also eher nicht vorhanden. Auch nicht bei der R-Zahl. Dennoch werden im netzöffentlichen Diskurs sofort Aburteilungsrituale losgetreten nach dem Motto “Haltet-den-Dieb”. Es gibt eine Flut von Ermahnungen, Verbannungen und Denunziationen. Also Schand- und Ehrenstrafen, um die Reputation von Menschen zu vernichten. Ab dem 12. Jahrhundert eine beliebte Methode der Herrschenden, um die Fassade der „ehrbaren“ Bürger zu wahren.

Wenn der Delinquent nicht geköpft, erhängt oder gevierteilt wurde, sollte er zumindest der Lächerlichkeit preisgegeben werden. Die bigotte Community vertrieb den Außenseiter. Zur Zeit sind unglaublich viele bigotte Verurteiler im Netz unterwegs, die mit kruden Behauptungen und Unterstellungen ihr Mütchen kühlen. Prangermethoden sind im 21. Jahrhundert immer noch ein Thema.

Das ist bedauerlich. Besonders im Diskurs über wissenschaftliche Daten brauchen wir einen kritischen und nüchternen Geist. Es geht immer um die Falsifikation also um die Möglichkeit der Widerlegung und nicht um Religionsersatz.

Glaubensfragen sollten wir kontemplativ verarbeiten – das mache ich übrigens sehr intensiv seit dem Tod meiner Frau.

In politischen und wissenschaftlichen Debatten sollten wir den Glauben und auch Tautologien außen vor lassen. Also etwa die Methode: Wenn ich die Nichtexistenz von irgendetwas nicht beweisen kann, dann ist es der Beweis für die Existenz. Ein beliebtes Mittel bei kirchlichen Gesprächen.

Belastbar sind nur Aussagen, die sich anhand einer Auseinandersetzung mit der uns umgebenden realen Welt überprüfen lassen. Es dominieren aber häufig hypothesenlose Leerformeln, die ihre empirische Gehaltlosigkeit verschleiern. Etwa der angebliche Zusammenhang von Homeoffice und Alkoholismus. Sollte in die Unstatistik des Jahres aufgenommen werden.

Man könnte sogar von Dogmen sprechen, da uns von vielen Zeitgenossen absolute Gewissheiten verkauft werden, ohne auch nur in Ansätzen empirische Einsichten zu vermitteln. Meistens sind es eben nur Korrelationen und keine Kausalitäten. Manchmal werden überhaupt keine plausiblen Zahlen geliefert.

Man fahndet nur nach Bestätigungen der eigenen Sichtweise und schließt von Einzelphänomenen auf die Allgemeinheit. Vermeintliche Wahrheiten wurden und werden von gläubigen Anhängern ohne Überprüfung der Fehlerhaftigkeit verteidigt. Wer nicht an sie glaubt, gilt als verstockt und rückwärtsgewandt. Eine kritische Urteilsfähigkeit kann so nicht entstehen.

Selbst eine noch so oft wiederholte Beobachtung der regelmäßigen Verbindungen von Dingen oder Ereignissen rechtfertigt es nicht, daraus eine logisch zwingende Schlussfolgerung auf eine Gesetzmäßigkeit zu ziehen.

Wir sollten Wissenschaftstheorie für die Allgemeinheit vermitteln, damit wir sachlicher und nüchterner miteinander sprechen.

Das gilt übrigens auch für mich, denn es gab auch von mir einige Postings, die wohl etwas zu harsch waren. Die Gründe hatte ich in einem anderen Zusammenhang geschildert. Das ist keine Entschuldigung, sondern soll nur klarstellen, warum ich persönliche Angriffe zur Zeit nicht so gut verdauen kann. Dann geht man halt besser getrennte Wege. Das ist völlig in Ordnung.

Über den Autor

gsohn
Diplom-Volkswirt, Wirtschaftsblogger, Livestreamer, Moderator, Kolumnist und Wanderer zwischen den Welten.

2 Kommentare zu "Die R-Zahl und der Modus der Aburteilungen: Willkommen im Mittelalter"

  1. Kann dir nur zustimmen…

  2. Ich habe aus Interesse reingelesen und bereue es nicht. Das Thema ­­­­­­”R-Zahl” ist für mich derzeit aktuell und deswegen bedanke ich mich für diesen originellen Artikel über Die R-Zahl und der Modus der Aburteilungen.

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