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Esoterik-Geschwurbel mit Taschentuch-Zipfelchen

Ich verstehe überhaupt nicht, warum sich liebwerteste Gichtlinge über das Esoterik-Geschwurbel der Berliner Piraten-Fraktionsgeschäftsführerin Daniela Scherler so aufregen. Sie befindet sich in bester Gesellschaft. Hier der Auszug meiner morgigen Kolumne für das Debattenmagazin “The European” (erscheint wieder so gegen 9 Uhr).

Auszug:
….auch der aufgeklärte Großschriftsteller Thomas Mann stand im Bann okkultistischer Lehren und war beeindruckt von der „teleplastischen Morphogenese“.
Er besuchte in den 20er Jahren über einen Zeitraum von vier Jahren regelmäßig die Séancen des Geisterbarons Schrenck-Notzing in München und hat sich bis zu seinem Lebensende nie von diesem Spiritismus-Zirkus distanziert, so Germanistik-Professor Manfred Dierks auf einer Veranstaltung der Thomas Mann-Gesellschaft in Bonn.

„Im Rotlicht des Sitzungssalons schwebte ein Leuchtring auf und ab. Immerhin ohne jede Menschenhilfe. Eine Tischglocke einsam und allein auf einem Tischchen läutete sich selbst. Und eine frisch erschaffene Materie, ein Plasma, stieg vom Körper des Mediums auf und erreichte als Nebel die Zimmerdecke. Dann gab es eine Verzögerung. Medium Willi hatte sich jetzt eine anspruchsvollere Leistung vorgenommen und nahm dazu einen längeren Anlauf. Es war eher eine Geburt. Etwas wollte heraus. Willi stieß seinen Körper hin und her, presste und stöhnte. Lustvoll erlitt er den Gebär- und Geschlechtsakt in einem. Thomas Mann hatte sogar von Samenergüssen Willis gehört. Aber was dabei herauskam, als es schließlich geschah, war es denn die Qualen wert“, fragt sich Dierks, Autor des Buches „Thomas Manns Geisterbaron: Leben und Werk des Freiherrn Albert von Schrenck-Notzing“, das im nächsten Jahr erscheint.

In der Regel entsprang der Materialisation schlicht weg ein Taschentuch. Mehr passierte nicht. Den Höhepunkt erreichten die spiritistischen Sitzungen, wenn das Objekt mit Zipfelchen in der Luft schwebte und das Auditorium von der wissenschaftlichen Beweisführung der teleplastischen Morphogenese überzeugt wurde. An der okkulten Echtheit der Phänomene wollte Thomas Mann 1923 nicht zweifeln, obwohl fast alle Star-Medien, die im Münchner Salon auftraten, als Betrüger entlarvt und juristisch belangt wurden: „Ich bin überzeugt, dass eine spätere Wissenschaft es denjenigen Dank wissen wird, die in unseren Tagen den Mut oder die Unbefangenheit hatten, ihren Sinnen zu trauen.” Insofern sollte die Esoterik-Leere von Daniela Scherler etwas ernster genommen werden.

Denn: „Der Dumme glaubt neue Wahrheiten hervorzubringen, indem er wirre Ideen vereinigt“ (Dávila). Beste Voraussetzungen, um mit den Scherler-Vertiefungsseminaren „Lebe Deine Macht!” auch parteipolitisch zu punkten.

Wie man die esoterischen Verirrungen rechtfertigen kann, ist in diesem Beitrag nachzulesen: Zur Versachlichung der Diskussion um Daniela Scherler und die „Esoterik“

Köstlich hingegen: Flauschstorm.

Ganz unesoterisch ist das Opus des Sohnes vom Sohn: Der Frühvollendete: Hofmannsthal und die Sprachkrise Lesenswert!

Über den Autor

gsohn
Diplom-Volkswirt, Wirtschaftsblogger, Livestreamer, Moderator, Kolumnist und Wanderer zwischen den Welten.

3 Kommentare zu "Esoterik-Geschwurbel mit Taschentuch-Zipfelchen"

  1. So weit ich weiß, gibt es nicht ein okkultes Kunststück, dass ein halbwegs professioneller Magier nicht auch hinbekäme. Nur sagt der Bühnenkünstler nicht, dass er dazu Geisterhilfe nötig hätte und verlangt keinen “spirituellen” Glauben, sondern nur Bewunderung und ein bisschen Applaus für seine Geschicklichkeit.

  2. Richtig. Und mit höherer Perfektion. Schnöde Taschentücher würden heute noch nicht einmal bei Straßenkünstlern ausreichen.

  3. 2 Drittel der Menschen sind abergläubisch, bildungsunabhängig.
    Esoterik ist wahrscheinlich der größte gemeinsame Nenner heute.
    http://www.kollmann.cx/wordpress/2011/11/09/manager-und-die-esoterik-%e2%80%93-okonomie-mit-aberglauben/

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