
Wer ist monströser in der Digitalisierungsdebatte?
“Wir müssen gegen die Vorstellung der Traditionalisten argumentieren, die meinen, dass es sich bei den Folgen der Digitalisierung allein um eine Skalierung oder lineare Fortschreibung vorhandener Prozesse handeln würde.Es herrscht im Einklang damit ein relativ großes Unverständnis über die Bedeutung der digital ermöglichten Disruption und ihre Bedeutung für angestammte Tätigkeitsfelder eines Unternehmens oder auch einer Institution. Die Gesellschaft der zwei Geschwindigkeiten findet sich zunehmend auch innerhalb von Unternehmen. Die von Zuckerman beschriebene Systemkrise infolge von steigendem Misstrauen dürfte als Nächstes die Unternehmen treffen. Arbeiten 4.0 widerspricht systematisch (da dezentral, kreativ, flach, netzwerkbasiert, multikausal) dem in der deutschen Industrie sehr stark verankerten Ingenieurs-Denken. Dieser Widerspruch dürfte für Deutschland bald zum Problem werden. So wie der Wechsel auf digitale Plattformen die Macht der Kunden (Renzensionen, Transparenz, öffentlicher Druck) gegenüber den Konzernen gestärkt hat, wird Arbeiten 4.0 die Position der Arbeitnehmer gegenüber dem Arbeitgeber verändern.”
Sind deutsche Unternehmen auf diesen Wandel vorbereitet, fragt sich Wintermann. Ist die Netzszene darauf vorbereitet? Wer ist eigentlich das Monster in diesem Zustand des gegenseitigen Nichtverstehens? Diesen Aspekt behandelte Marco Petracca in einem bemerkenswerten re:publica-Vortrag mit einem Lagebericht aus den Chefbüros mittelständischer Industrieunternehmens. Die Hidden Champions des produzierenden Gewerbes blicken auf ihre Erfolgsgeschichten und können mit den Themen der Blogosphäre wenig anfangen.
“Sind wir in der Netzszene nicht viel monströser? Wir treiben mit hoher Geschwindigkeit die digitalen Themen voran und vergessen schlichtweg, diese Leute in der Provinz abzuholen”, kritisiert Petracca.
Die Lebenswelten von Mittelstand und Netzaktivisten klaffen weit auseinander. Firmeninhaber, Techniker und Ingenieure haben eine eher verschlossene Mentalität und sehnen sich nach Stabilität, die man in der Provinz noch vorfindet. Die Kommunikation endet häufig am Ortsausgangsschild. Das steht nach Auffassung von Petracca im krassen Widerspruch zu dem, was wir im Netz machen.
“Wir reden über Dialog und den Austausch von Wissen. Viele Unternehmen tun sich hingegen schwer, das zu kommunizieren, was sie aus ausmacht. Das ist kulturell tief verankert. Mittelständler sind sehr stark von ihrer Leistung geprägt, von Innovationen und Patenten. Das soll aber keiner wissen. Wir sind angetrieben von Denkansätzen wie Sharing, Share Knowledge, Big Data und einer Kultur der Beteiligung. Da ist der Kollisionskurs vorprogrammiert.”
Betriebsgeheimnis soll Betriebsgeheimnis bleiben.
“Bei uns ist jede Information auch eine Transaktion”, erklärt Petracca.
Was auf Konferenzen wie der re:publica abläuft, sei hochgradig spannend, hat aber nur wenig mit dem Erfahrungshorizont der Hidden Champions zu tun. Was wir offerieren, passe nicht zu den Anforderungen der Unternehmen. Der Austausch wäre jedoch wichtig. Spätestens wenn die Betriebe auf Wettbewerbsprobleme stoßen, die die digitale Sphäre auslöst. Wenn etwa Kunden der Hidden Champions Anlagen direkt über chinesische Absatzmärkte oder indirekt über eine Plattform wie Alibaba ordern und das deutsche Unternehmen mit dem dreifachen Preis auf der Strecke bleibt.
Der blinde Fleck in der Digitalisierung liegt also nicht nur in der Wirtschaft, sondern auch an der Mangelhaftigkeit der netzökonomischen Kompetenz von digitalen Konferenzformaten. Wir sollten also weniger über die digitalen Vorzeigeprojekte von Red Bull, Coca Cola & Co. sprechen, sondern über digitale Strategien für Firmen wie EDAG Engineering in Fulda nachdenken.
Schöner Denkanstoß von Marco Petracca, den wir beim nächsten Netzökonomie-Campus mit Käsekuchen am Sonntag, den 7. Juni aufgreifen und auch bei unserem Kölner Barcamp für Netzökonomie im November vertiefen werden.
Siehe auch:
Schaut Euch doch mal regelmäßig die “ökonomischen” Themen auf Rivva an, die den Sprung in den News-Aggregator schaffen. Eher ärmlich.
Hat dies auf Netzökonomie-Campus mit Käsekuchen rebloggt.