
„Null Produktivitätsfortschritt nach zehn Jahren Industrie 4.0“ berichtete provokativ die FAZ vor ein paar Tagen. Michael Finkler, Vorstandsvorsitzender des VDMA-Fachverbands Software und Digitalisierung, formulierte dafür pointierte Thesen. Es gebe „null Produktivitätsfortschritt nach zehn Jahren Industrie 4.0“; das heutige Produktivitätsniveau der Industrie sei auf dem Stand von 2011; die Produktivität im Maschinenbau sei trotz hoher Auslastung sogar gesunken; die breite Masse der Unternehmen sei kaum vorangekommen; statt zu organisieren und zu standardisieren sei „die Verschwendung digitalisiert“ worden. Es wurde zwar oft davon gesprochen, neue, digitale Geschäftsmodelle zu entwickeln, Mehrwert durch Digitalisierung zu schaffen, womöglich Plattformen auf die Beine zu stellen. Aber vielerorts ist davon nichts zu sehen. Finkler erkennt „zehn verlorene Jahre“. Deutschland habe „den Anschluss verloren in der industriellen Plattformökonomie“, während Konzerne wie Google, Microsoft oder Amazon den Aufbau von Industrie-Plattformen forcierten.
In der Fachszene ist das Meinungsbild vielschichtig:
“Wir reden von Industrie 4.0 und vielerorts haben wir noch nicht mal eine moderne IT Infrastruktur und Breitbandausbau. Ich kann nur allen Unternehmen raten, auch aus Sicherheitsgründen autark zu werden und eigene Campus-Netzwerke mit 5G und WiFi6 aufzubauen. Damit wird eine wesentliche Grundlage für Industrie 4.0 gelegt”, kommentiert Stephan Hierl, CTO Kyndryl Germany.
Professor Wolfgang Wahlster, ehemaliger Chef des Deutschen Forschungszentrums für Künstliche Intelligenz (DFKI), sieht einen Vorsprung bei den Hidden Champions:
Der Begriff „Industrie 4.0“ habe sich viral ausgebreitet und werde heute auf der ganzen Welt wie „Kindergarten“ und „Autobahn“ mit Deutschland assoziiert. “Industrie 4.0 ist ein Exportschlager, der in Wirtschaft, Wissenschaft und Politik rund um den Globus Aufmerksamkeit und Anerkennung erfahren hat. Damit haben wir in der Hightech-Welt erstmals wieder ein innovatives Konzept aus Deutschland international etablieren können, nachdem diese über viele Jahre meist aus Amerika oder Asien kamen”, so Henning Kagermann und Wolfgang Wahlster in einem Gastbeitrag für die FAZ.
Industrie 4.0 sei die Basis für datenbasierte Wertschöpfung, innovative Geschäftsmodelle und Organisationsformen, aber auch für neue Lösungen in Bereichen wie Energie, Gesundheit und Mobilität.
“Ökonomisch ging es initial um einen Wechsel von der traditionellen Automatisierung mit vorherbestimmtem Ergebnis hin zu lernenden und sich selbst anpassenden Maschinen und Umgebungen, die in Echtzeit auf Änderungen der Kundennachfrage sowie auf unerwartete Störungen reagieren. Damit einher geht der Schritt von der Massenproduktion zur Maßanfertigung, zur preislich konkurrenzfähigen Herstellung von individuellen, maßgeschneiderten Produkten”, betonen Kagermann und Wahlster.
Wichtig war das Versprechen von einer besseren und sinnvolleren Mensch-Maschine-Kooperation ohne Angst vor Kontrollverlust, die Schaffung von Arbeitsplätzen durch „Nearshoring“ und die Inklusion von älteren und behinderten Menschen, unterstützt durch physische und kognitive Werkerassistenzsysteme.
“Ökologisch war von Anfang an die Ressourcen- und Energieeffizienz ein zentrales Ziel: Industrie 4.0 hat das Potential, eine Kreislaufwirtschaft zu etablieren, die Wirtschaftswachstum von Ressourcenverbrauch entkoppelt. Industrie 4.0 stellt den Menschen in den Mittelpunkt, und dazu gehören die gesellschaftliche und natürliche Umwelt”, so die Gastautoren der FAZ.
Der digitale Produktpass ist dafür ein gutes Beispiel:
Heute gebe es etliche „Smart Factories“, die Grundprinzipien von Industrie 4.0 umsetzen: „Plug & Produce“ und die virtuelle Inbetriebnahme neuer Anlagenteile durch den Einsatz digitaler Zwillinge, taktunabhängige Matrix-Produktionsarchitekturen mit konfigurierbaren Produktionszellen und kurzen Umrüstzeiten auch für kleinste Losgrößen mit großem Produktindividualisierungsgrad, variable Intralogistik kombiniert mit Echtzeitproduktionsplanung sowie lokationsbasierte Dienste für alle Werker, Betriebsmittel und die entstehenden Produkte. Die Positionsbestimmung in Fabrikhallen sei für mobile Systeme wie autonome Gabelstapler mit Hilfe KI-basierter visueller SLAM-Verfahren stark verbessert worden, SLAM steht dabei für „Simultaneous Localization and Mapping“. Durch GPU-Computing, die hochparallele Ausführung neuronaler Verfahren auf sehr leistungsfähigen Grafikkarten, wurde die notwendige Erkennung von Landmarken signifikant verbessert, um eine freie Navigation mobiler Roboter zu ermöglichen.
Wir wollen das live diskutieren in einem Sohn@Sohn Studiogespräch mit Marius Grathwohl vom Maschinenbau-Unternehmen Multivac am Mittwoch, 2. November 15:40 Uhr. Macht mit bei der Debatte.
Übertragung läuft im Multistream auf YouTube, Facebook, Twitter (@gsohn), LinkedIn (https://www.linkedin.com/in/gunnarsohn) und Twitch. Nutzt die Kommentar- und Chatfunktionen.
Man hört, sieht und streamt sich am Mittwochnachmittag: