
Wolfgang Schiffer liest isländische Lyrik im Kölner Kultursalon Freiraum
Im Kölner Kultursalon Freiraum stellte Wolfgang Schiffer zwei isländische Lyriker vor, die in ihrem Stil kaum vergleichbar sind, doch in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg davon beseelt waren, die Moderne in die Dichtung einfließen zu lassen. Ihr Wirken liegt schon lange zurück, doch zwei Neuerscheinungen machen sie wieder aktuell, betont der ehemalige WDR-Hörspielchef in seiner inspirierenden Lesung.
Im ersten Teil seines Abendprogramms widmete sich Schiffer dem Werk von Stefán Hördur Grímsson, der zur geschmähten Gruppe der so genannten “Atomdichter” gerechnet wurde, die sich von der sehr traditionell ausgerichteten isländischen Lyrik abgrenzten.
Die politischen und gesellschaftlichen Veränderungen mussten auch zur einer Veränderung der Wahrnehmung und des Bewusstseins führen. Entsprechend radikal brachen die Atomdichter mit der Formstrenge von Edda und Skalden-Dichtung, die bestimmt war von Versmaßen, germanischen Stabreimen und Endreimen. Die im Münsteraner Kleinheinrich-Verlag 1992 erstmals veröffentlichte Auswahl der Gedichte von Stefán Hördur Grímsson unter dem Titel “Geahnter Flügelschlag” brachte dem so gut wie unbekannten Lyriker eine literarische Beachtung ein, “die selbst seine Übersetzer und Herausgeber so nicht erwartet hatten”, schreibt Schiffer im Nachwort der erweiterten Neuauflage, die Ende des vergangenen Jahres erschien. Zahlreiche Feuilletons und Literaturzeitschriften würdigten einhellig die poetische Kraft dieses Autors, so dass die erste Auflage des 92er-Bandes schnell vergriffen war.
“Der Verleger hat 21 Jahre gebraucht, um eine erweiterte Neuauflage zu machen”, sagte der verschmitzt lächelnde Rezitator in Köln.
Die Rezensenten sehen in Grímsson einen “Lakoniker”, der in seinen freien Versen auf alle spektakulären rhetorischen Effekte verzichtet. Er spreche bestürzende Wahrheiten und starke Gefühle auf karge und doch eindrucksvolle Weise aus. Es sei vor allem eine Logik des Herzens, die seine Verse wahrhaftig machen. Kaum Illustrierten-Phrasen, statt dessen Wörter wie Gotthimmel, Berg-Sonnenglanz, Schwarzelfen-Tanz.
“Hundertfünfzig Gedichte, geschrieben auf einer Insel im Nordmeer, davon ein Drittel jetzt auf Deutsch….Zu wenig für ein Lebenswerk. Doch genug für den Gesang”, schrieb die Zeit.
Etwas mehr sind es jetzt in der Neuauflage geworden, die Wolfgang Schiffer vorstellte. Die Schaffensperiode von Grímsson begann 1946.
“Manchmal lagen 19 Jahre zwischen den Gedichtbänden. Er galt als sehr merkwürdiger und kauziger Autor. 1920 geboren, 2002 gestorben. Am Schluss lebte er in einem Altersheim für abgedankte Seemänner, fast ein wenig paranoid. Er hatte kaum Kontakt zu Menschen. Ich hatte das große Vergnügen, einmal mit ihm ein Bier trinken zu dürfen. Wir haben eine halbe Stunde zusammen gesessen. Wir haben nichts gesagt, aber es war ein wunderschönes Gespräch”, so Schiffer.
Der Band Schwarzelfen-Tanz habe Poesie-Geschichte geschrieben und dokumentiert auch die politischen und sozialen Themen, die ihm wichtig waren, ohne ein politischer Autor gewesen zu sein. Das Gedicht “Krieg” spreche Kernwahrheiten aus, die heute noch gültig sind:
Krieg
Ihre Eisen sind grau
ihre Eisen sind scharf.
Unter vollem Mond
werden rote Wellen
an den Strand rollen.
Tränen fallen auf Blumen
und sie werden welken.
Das Spätwerk des Dichters sei geprägt von der Reduzierung auf das Wesentliche, vom Suchen und Finden des einen Wortes, das alles sagt. Auch seine politischen Aussagen werden immer konkreter. So ist das Gedicht “Nachmittag” als Reaktion auf den Vietnamkrieg entstanden.
Nachmittag
Nachmittag im Osten.
Blumen aus Fleisch und Blut gehen den Dorfweg entlang.
Auf dem Luftweg kommen Bratgesellen.
Das Flötenspiel des Geliebten
am Waldrand nehmen sie nicht wahr:
Gebratene Brüste. Gebrannte Brustwarzen. Versengte Schöße….
Aber nun schlägt man das Kreuz im Westen
zu Beginn der Paarungszeit.
Draußen zündet der August eine bleiche Sichel.
Man könne sich kaum dezidiert poetischer über die Hybris des Westens in diesem Weltgeschehen auslassen, meint Schiffer. Er sei besorgt, dass wir dieses Szenario in der Krim-Krise wieder erleben. “Wir sollten etwas sorgfältiger und analytischer mit dieser Situation umgehen.” Das gelte für Politiker und Medien.

Die Schiffer-Lesung
Sprachmächtig ist auch der zweite Autor der Wolfgang Schiffer-Lesung: Jón úr Vör, der mit dem Band “Das Dorf” einen der bekanntesten poetischen Zyklen in Island geschrieben hat. Sozialreportagen in freier Versform. 1946 erschienen und seither immer wieder neu aufgelegt worden. Die soziale Wahrnehmung und das karge Leben dominieren in seinen Gedichten. Aber auch Beobachtungen von Absurditäten des Alltags, wie etwa in dem Gedicht “Sitzungsprotokoll”.
Auf den harten Bänken des Guttemplerhauses
sitzt an einem Sonntag jeden Monats
das gemeine Volk wie in der Kirche
und diskutiert über Wohl und Wehe des Landes.
Herr Vorsitzender! Darf ich ums Wort bitten?
Dieser Verein ist gegründet worden, um die Bedingungen der Arbeiter zu verbessern.
Wie käme der Kaufmann zurecht, der gnädige Herr, wenn keiner
arbeiten wollte? – Seine Laufburschen und Klatschtanten
dürfen ihm diese meine Worte gerne überbringen, wenn sie mögen.
Sage vorläufig nichts mehr.
Der Schlaumeier des Dorfes ergreift das Wort:
Die Ungerechtigkeit der Welt wird nie beseitigt sein, ehe nicht Gott
der Allmächtige allen Menschen Glück beschert – auch den
Reichen. Wozu sonst kam Jesus Christus auf diese Welt?
Diskussion beendet,
keine weiteren Wortmeldungen,
Ende der Sitzung.
Im Bundestag kann man in den Plenarwochen wohl ähnliches erleben.
Der Kultursalon Freiraum war bis auf den letzen Platz gefüllt, die anschließenden Plaudereien in der nahegelegenen Trattoria waren höchst amüsant und der nächtliche Spaziergang mit Wolfgang Schiffer beförderte gar eine philosophische Lebensweisheit zutage. Wolfgang sagte mir, wie froh er doch sei, dass er sich nicht mit den technokratischen Dingen des Lebens herumschlagen müsse, sondern schöngeistige Literatur sein Dasein präge. Was sollte ich jetzt antworten?
Auch ich sei froh, ein Themen-Kolibri zu sein, sonst bekäme ich noch eine Meise.
Wolfgang lachte. Das mit dem Sperlingsvogel und dem Kolibri habe ja eine sinnige und doppelte Bedeutung. Stimmt. So doof war mein Satz gar nicht 🙂
Und den Technokraten kann man übrigens auch mit Lyrik begegnen.
Hier ein bescheidener Versuch aus meiner Feder:
Siehe auch:
Lieber Gunnar – ganz fetten Dank! Das ist wunderbar! Und wenn´s jetzt der Verbreitung der isländischen Poesie auch noch ein wenig nutzt (wovon ich überzeugt bin…) tant mieux!