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Nachtrag zur Akte Marktforschung des Spiegels

Führungskräfte stehen in ihrer eigenen Organisation unter Rechtfertigungsdruck, besonders wenn es um Entscheidungen geht, die Forschung, Entwicklung, Produkte und Dienste betreffen.

„In der Hierarchie eines Unternehmens wird es geradezu als verwerflich angesehen, wenn man seiner eigenen Intuition oder seinem Bauchgefühl folgt, etwa beim Start einer Werbekampagne. Hier kommt häufig Marktforschung ins Spiel, um Entscheidungen abzusichern“, weiß Jan Steinbach, Geschäftsführer der Düsseldorfer Marketingagentur Xengoo.

Das Symptom des Misstrauens in die Entscheidungsfähigkeit der Mitarbeiter durchziehe sich durch alle Disziplinen eines Unternehmens bis zur Auswahl von Lieferanten. Es zählen nicht Erfahrungswerte, persönliche Abwägungen oder die interne Expertise der Abteilung, sondern extern erhobene Kennzahlen und die Sehnsucht nach einer eindeutigen Beziehung von Ursache und Wirkung.

Die Kausalitätsfalle

Häufig genug tappt man dabei in die Falle ungerechtfertigter kausaler Schlüsse. So gibt es in der Marktforschung Zeitgenossen, die aus der Untersuchung von erfolgreichen Firmen konkrete Handlungsanweisungen ableiten, um genauso erfolgreich wie die analysierten Organisationen zu werden.

Der Psychologe Dan Kahneman zitiert eines der bekanntesten Beispiele dieses Genres: „Immer erfolgreich“ von Jim Collins und Jerry I. Porras. Es enthält eine gründliche Beschreibung von 18 konkurrierende Unternehmenspaarungen, bei denen eines erfolgreicher war als das andere. Jeder Vorstandschef, Manager oder Unternehmer sollte nach Auffassung der beiden Autoren dieses Buch lesen, um visionäre Firmen aufzubauen. Für Kahneman ein Irrweg:

„Wenn man weiß, wie wichtig der Faktor Glück ist, sollte man besonders argwöhnisch sein, wenn aus dem Vergleich von erfolgreichen und weniger erfolgreichen Firmen hochkonsistente Muster hervorgehen. Wenn der Zufall seine Hand im Spiel hat, können regelmäßige Muster nur Illusionen sein.“

Nach dem Erscheinen des Collins-Porras-Buches schwand der Abstand in Ertragskraft und Aktienrendite zwischen den herausragenden und den weniger erfolgreichen Firmen praktisch auf null. Über einen Zeitraum von zwanzig Jahren erzielten die Unternehmen mit den schlechtesten Bewertungen im weiteren Verlauf viel höhere Aktienrenditen als die meistbewunderten Kandidaten.

Nach Widerlegungen fahnden

Es ist wie bei den frühkindlichen Erfahrungen mit dem Märchen „Schneewittchen“, „in der die furchtbar unsympathische Königin von sich behauptet, die Schönste im Land zu sein. Spätestens da kam bei jedem von uns vermutlich Zweifel am Eigenlob auf“, sagt Heino Hilbig von der Unternehmensberatung Mayflower Concept in Hamburg. Jeder kritische Einwand wird als Majestätsbeleidigung weggebügelt – man will doch sein Gesicht nicht verlieren. Gefahndet wird nach der Bestätigung der eigenen Annahmen oder nach den konstruierten Wahrheiten.

Deswegen ist die Spiegel-Recherche über gefälschte Marktforschungsergebnisse, die besonders von Subunternehmen praktiziert wird, für mich keine Überraschung. Ich habe es selbst erlebt, etwa bei der Werbewirkungsforschung. Folgendes war passiert. Eine sehr, sehr große Werbeagentur in Düsseldorf entwickelte neue TV-Spots. Der Kommunikationschef des Auftraggebers geht auf das Angebot der Werbeagentur ein, in einem Tochterunternehmen der Werbeagentur in Studiobefragungen die Wirkung der Fernsehwerbung testen zu lassen. Mein Einwand, dass man dann auch meine Oma befragen könnte, wie sie mich als Enkelsohn beurteilt, wurde als unfreundlicher Akt eines Mitarbeiters gewertet, der von Werbung keine Ahnung hat. In meiner Zeit als Demoskop lernte ich allerdings auch die Allensbacher Werbeträger Analyse (AWA) kennen, die solch eine methodische Fragwürdigkeit nie gemacht hätte. Warum wird so verfahren? Weil Kommunikationsverantwortliche irgendwelche Statistiken gegenüber dem Vorstand benötigen, um ihre Budgetentscheidungen zu rechtfertigen. Es geht nicht um objektive Erkenntnisse, sondern um interne Politik. Sind das jetzt Einzelfälle oder nur Schwarze Schafe in der Branche? Da bin ich mir nicht so sicher.

Bei Befragungen von Testteilnehmern, Reichweiten-Messungen von PR-Kampagnen, Einschaltquoten, Werbeträger-Analysen, Monitoring oder Targeting-Aktionen im Internet sollte man eigentlich nach Widerlegungen der eigenen Positionen suchen.

„Häufig kommen bei solchen Verfahren genau jene Dinge durch, die man schon vorher erwartet hat. Valide sind diese Daten nicht“, erläutert Werbeexperte Steinbach.

So gleiche die Prüfung eines Werbespots mit ausgewählten Probanden in einer Studiosituation eher den Schimpansen im Versuchslabor. Eine unnatürliche Situation, die nach Ansicht von Steinbach kaum verwertbare Erkenntnisse bringt.

„Marktforschung ist immer dann sinnvoll, wenn man getroffene Entscheidungen überprüfen möchte“, betont der Xengoo-Chef.

INNOFACT verfolge mit seinem Online-Panel einen pragmatischen Ansatz. Hier werde plattformübergreifend das Bewegungsprofil mit Zustimmung der Panel-Mitglieder über sehr lange Zeiträume digital gemessen. Die Unnatürlichkeit der Testsituation im Studio sei somit ausgeschaltet.

Browser-Panel

„Der Browser wird komplett ausgewertet, alle Käufe, Empfehlungen, Meinungsbeiträge und das Surfverhalten vor einer Kaufentscheidung.“

Hier sieht Steinbach einen extrem wertvollen Ansatz der modernen Marktforschung. Als Beispiel nennt er den Streaming-Anbieter Netflix, der den Content fast ausschließlich über Algorithmen steuert. Das Unternehmen sammelt und analysiert jede Online-Aktion des Nutzers und leitet daraus Inhaltsangebote sowie eine personalisierte Vermarktung ab. Dennoch ist die Kreation einer neuen Serie ohne kreativen Impuls nicht machbar. Selbst Echtzeit-Systeme blicken in den Rückspiegel.

Bikini-Fehlprognose

Was Algorithmen leisten, sind Optionen, Wahrscheinlichkeiten, Vorschläge, Hinweise und Anregungen. Dahinter stecken wiederum Menschen, die mit Annahmen und Gewichtungen für ihre Prognose-Rechnungen operieren. Schon bei Textilwaren kann das in die Hose gehen:

„Eine Maschine versagt bei der Vorhersage, ob ich eine bestimmte Art von Bikini in der nächsten Sommersaison kaufen werde. In der Vorsaison galten vielleicht andere Regeln oder ein anderes Modebewusstsein. Die Maschinen müssen also immer wieder Neues in ihre Analysen einbeziehen, um das Interesse der Konsumenten zu testen“, erklärt der Internet-Experte Christoph Kappes.

Auch wenn der Blick in den Rückspiegel immer schneller gelingt und die Daten aus der Vergangenheit mehr oder weniger in Echtzeit vorliegen, können die Daten-Systeme den kreativen Schöpfungsprozess von Menschen nicht ersetzen.

Es sei der monokausale Glaube, dass das, was in der Gegenwart geschieht, seinen Grund in der Vergangenheit hat, bemerkt der Organisationswissenschaftler Gerhard Wohland.

„Auch wenn ich die Vergangenheit umfangreich und schnell auswerte, weiß ich nicht genau, was die Zukunft bringt.“

Man müsse dann schon für triviale Strukturen sorgen.

„In der Physik nennt man das Labor. Die Welt, wie sie ist, wird ausgeblendet. Mit den wenigen Wirkungszusammenhängen, die übrig bleiben, entwickelt man Gesetzmäßigkeiten. Für soziale Systeme ist das aber albern”, warnt Wohland.

Welches Ereignis eine Wirkung in der Zukunft erzeugt, könne man in der Gegenwart nicht wissen. Die kleinsten Ursachen, die von Big Data-Maschinen in Echtzeit-Analysen noch gar nicht als wichtig erachtet werden, könnten enorme Wirkungen erzeugen und die Simulationsrechner ad absurdum führen. Am Ende bliebe Frust und Enttäuschung übrig.

Kreative Impulse und Stichproben-Probleme

Wenn es um neue Ideen geht, hält Jan Steinbach qualitative Methoden aus der Psychologie für zielführender. Also so genannte Tiefeninterviews oder Befragungen von kleinen Gruppen nach einem Leitfaden. Wenn so etwas gut aufgesetzt werde, könnten Unternehmen aus dieser Vorgehensweise auch kreative Impulse gewinnen.

„Da braucht man allerdings Forscher, die wirklich brillant sind. Leider tummeln sich in der qualitativen Marktforschung auch sehr viele Scharlatane“, kritisiert Steinbach.

Bei der quantitativen Marktforschung – also klassische Umfragen – bekommt man zunehmend Probleme mit repräsentativen Stichproben.

„In den 1990er Jahren war es relativ einfach, über Telefonumfragen mit zufällige generierten Festnetznummern repräsentative Stichproben zu ziehen für die Grundgesamtheit, die man untersuchen wollte“, erläutert Johannes Mirus von Bonn.digital.

Immer mehr Haushalte seien nur noch mobil erreichbar:

„Das Smartphone ist zwar personalisiert und beseitigt die Herausforderung, die richtige Zielperson ans Telefon zu bekommen. Die Mobilfunk-Nummern sind aber schwerer zu erfassen. Zudem ist eine örtliche Eingrenzung für die Stichprobe nicht möglich.“

Darüber hinaus sei die Bereitschaft dramatisch eingebrochen, an solchen Umfragen teilzunehmen.

„Es gibt zu viele telefonische Befragungen. Die Menschen sind überfragt. Dazu kommen noch Straßenumfragen und auch Online wird man auf jeder zweiten Website gebeten, ein Voting abzugeben“, moniert Mirus.

Viele Umfragen seien zudem handwerklich schlecht gemacht. Damit meint er vor allem das Fragebogen-Design und den Zweck der Umfrage, die häufig für die Teilnehmer im Dunkeln bleibt.

Ford Mustang statt Schema F

Überraschende Erkenntnisse gewinnt man mit den quantitativen Methoden nicht, so der Einwand von Jan Steinbach. Da werde der Wiedererkennungswert einer Anzeige abgefragt oder die Kaufabsicht und Weiterempfehlung eines Produktes. „Mit solchen Aussagen kann ich nichts anfangen. Großartige Kampagnen werden durch solche Marktforschungsansätze nicht erzeugt. Da kommt eher Mittelmaß heraus. Man braucht sich nur die früheren Werbespots von Procter & Gamble anschauen. Das war Schema F. Und wenn gefragt wird, wie ein Produkt gestaltet werden sollte, erzeugt man Ungetüme wie den legendären PKW Edsel von Ford, der Ende der 1950er Jahre auf den Markt kam.“

Für den amerikanischen Konzern wurde der Wagen zum größten Flop der Firmengeschichte. Nach zwei Jahren beendete Vorstandschef Henry Ford II das Projekt. Das ohnehin angeschlagene Unternehmen musste die damals gigantische Summe von 400 Millionen Dollar abschreiben. Der Markenname Edsel wurde zum Synonym für Katastrophen. Im Gegensatz zum Ford Mustang, der die Emotionen ansprach und ohne Marktforschung zum Verkaufsrenner wurde.

Quantitative Ansätze sollten nur zur Unterfütterung herangezogen werden, empfiehlt Mirus. Generell sollte auf Objektivität geachtet werden.

„Man überhört gerne die Ratschläge der Marktforschungs-Institute. Beispielsweise wenn ein Panel empfohlen wird, um Werbespots in realer Situation zu testen und nicht in einer Studio-Befragung mit zehn Probanden. Hört auf die Empfehlungen der Marktforscher und bucht nicht ständig das billigste Paket.“

Siehe auch:

Zur “Akte Marktforschung”: Das Prinzip Quick and Dirty

Johannes Mirus wertet den Spiegel-Beitrag als tendenziöse Berichterstattung.
Das ist ein viel zu hartes Urteil.

https://www.wuv.de/marketing/hochwertige_marktforschung_zum_nulltarif_gibt_es_nicht

https://www.marktforschung.de/hintergruende/meinung/marktforschung/spiegel-reflex-die-uebersehenen-seiten-in-der-akte-marktforschung/

https://www.marktforschung.de/hintergruende/meinung/marktforschung/branchenschelte-durch-spiegel-online-uebertrieben-oder-ueberfaellig/

https://www.marktforschung.de/hintergruende/interviews/marktforschung/die-institute-koennen-sich-hier-nicht-hinter-dem-verband-verstecken/

Über den Autor

gsohn
Diplom-Volkswirt, Wirtschaftsblogger, Livestreamer, Moderator, Kolumnist und Wanderer zwischen den Welten.

1 Kommentar zu "Nachtrag zur Akte Marktforschung des Spiegels"

  1. Hat dies auf http://www.ne-na.me rebloggt.

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