
Wenn es um die Führung der SPD geht, erscheinen mir die vergangenen Jahre in der Arbeiterpartei wie beim Fußball-Bundesligaverein HSV. Viele Trainerwechsel und dennoch kein durchschlagender Erfolg in der ersten oder zweiten Liga. Eher der freie Fall oder zumindest Stillstand auf einem mittelmäßigen Niveau.
“Ein gutes halbes Jahr sind Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans nun Vorsitzende der ältesten Partei Deutschlands . Mit dem euphorischen Hashtag #Eskabolation feierten ihre Unterstützer von den Jusos die beiden im parteiinternen Wahlkampf . Ein neues , goldenes Zeitalter sollte beginnen. Doch die Performance im Amt erinnert manche Genossen eher an Kapitulation”, schreibt der Spiegel in seiner aktuellen Ausgabe. Dabei wollte die Industriearbeiter-Partei mit der Doppelspitze doch etwas Neues wagen: raus aus dem Hinterzimmer , eine stärkere Beteiligung der Mitglieder, mehr Gleichberechtigung. Ihr großes Vorbild war die Doppelspitze der Grünen. Doch der Vergleich mit Annalena Baerbock und Robert Habeck fällt für Esken und Walter-Borjans ernüchternd aus. Ihr Zusammenspiel will bislang nicht gelingen , jeder kämpft für sich allein”, so der Spiegel.
So etwas funktioniert höchst selten – also das Kopieren von erfolgreichen Maßnahmen der Konkurrenz. Die Grünen haben für dieses Konzept eine andere DNA, eine andere Kultur und eine andere Tradition.
Kritisch beleuchtet wird vom Spiegel vor allem die Themenauswahl von Saskia Esken auf Twitter. Etwa in der Polizei-Debatte. Besser wäre es wohl gewesen, erst einmal die Erfolge bei der Erstellung des Konjunkturpaketes in den Vordergrund zu stellen.
Kritisch in dem Spiegelbericht wird auch das “hyperkative” Verhalten von Esken auf Twitter beleuchgtet: “Eine ‘loose cannon’ sei sie, heißt es in der Partei, eine tickende Zeitbombe. Ihre Unberechenbarkeit treibt führende Genossen zur Verzweiflung. Esken lässt sich von der Kritik aber keineswegs beeindrucken. Sie twittert ungehemmt weiter und reagiert auf alle und jeden.”
Esken verstehe nicht, dass sie in ihrem neuen Amt nicht nur sich selbst repräsentiert, sondern rund 400 000 Mitglieder. “Viele Abgeordnete ärgern sich darüber , dass Esken in Sitzungen intensiv mit ihrem Handy beschäftigt sei und kaum am Geschehen teilhabe”, schreiben die Spiegel-Redakteure Lydia Rosenfelder und Christian Teevs. Twitter sei Eskens wichtigster Resonanzraum.
“Die Internetfreundschaften, die sich gegenseitig beistünden, seien auch Heimat für sie , so formulierte sie es einmal. Tatsächlich schlagen ihre Follower auch jetzt geballt zurück, wenn Esken angegriffen wird, was ihr wiederum den Eindruck vermittelt , auf der richtigen Seite zu stehen. Ihr übermäßiger Einsatz auf Twitter passt jedenfalls nur bedingt zum Anspruch der SPD , eine Volkspartei zu sein. Der Beifall von Netzaktivisten genügt nicht , um Wahlen zu gewinnen”, berichtet der Spiegel.
Inhaltlich möchte ich die Streitigkeiten der SPD nicht bewerten. Das ist deren Problem. Aber die Rolle von Twitter als Erregungskatalysator beschäftigt mich schon.
Der Kurznachrichtendienst triggert in extremer Weise die Überhitzung von Diskussionen und Debatten. “Einer Studie am MIT ist zu entnehmen, dass sich auf Twitter falsche Informationen schneller ausbreiten als in jedem anderem Medium und falsche auch erheblich schneller als richtige”, schreibt der Soziologe Armin Nassehi in seinem Buch “Muster – Theorie der digitalen Gesellschaft”. Es sei sicher auch die Begrenztheit der Informationen auf 280 Zeichen, die die Überhitzung und die Konzentration auf geradezu exklusive Zirkel befördert.
“Wer je gesehen hat, wie sich eine Selbstbestätigungsmaschinerie auf Twitter in kurzer Zeit hochfährt und wie sich die Form einer Art Privatsprache vor Publikum hochschaukelt, kann Überhitzung geradezu am offenen Herzen beobachten. Nicht umsonst ist Twitter ein Ort, an dem sich partikulare Gruppen etablieren können, die aufgrund der Beobachtbarkeit durch Dritte so aussehen, als wären sie eine veritable Öffentlichkeit, die aber letztlich nur eine Selbstbestätigungsform ist.”
Der sachliche, differenzierte oder nüchterne Ton wird auf Twitter nicht belohnt. Eher die Zuspitzung, Ironie, Polemik, die harte Abrechnung und Aburteilung, Häme und das Verscheißern des Andersdenkenden werden mit Aufmerksamkeit belohnt.
Im eher harmlosen Modus kann man das an meinem Flugtaxi-Tweet abmessen:
Medienprofessor Roberto Simanowski spricht von einem numerischen Populismus. „Man klickt immer auf die Angebote mit der höchsten Zahl und befestigt so ihre Spitzenposition.“
Der Hunger nach Bestätigung, den die Social Web-Plattformen uns antrainieren, führt zu tragischen Entgleisungen. Konditionierung statt Denken. Auf der Strecke bleibt nach Auffassung von Simanowski das komplexe Argument zugunsten der simplen Parole, mühsame Versuche des Welt und Selbstverstehens zugunsten amüsanter Banalitäten, die Vertiefung zugunsten des schnellen Klicks.
Und der Begründer der ökonomischen Theorie der Aufmerksamkeit Professor Georg Franck sagt, dass es noch nie und nirgends so leicht war, Leidensgenossen des eigenen Ressentiments zu aktivieren wie in den sozialen Medien.
„Die Reichweite ist unbeschränkt, kein Gatekeeper kann der Niedertracht wehren.“
Nur kann man auf dieser Grundlage breite Bevölkerungskreise überzeugen und Wahlen gewinnen?
Ich bin da im Zweifel. Auf Twitter wird das nicht gelingen. Was denkt Ihr? Ich möchte das Thema vertiefen. Gerne auch mit Saskia Esken, die ich sehr schätze.
Update – Reaktionen auf Twitter:
Es ist erstaunlich, dass der Spiegel anscheinend nur auf äußerliche Merkmale bei Saskia Esken eingeht. Twitter ist, wie alles andere auch, nur ein Instrument, bei dem es auf den Kopf dahinter ankommt. Und den bringt Saskia Esken, auch als Informatikerin, auf alle Fälle mit. Wer die Twitter-Kommentare von ihr liest, wird wenig Polemik, sondern Inhalte und Gesprächsangebote finden, auf Augenhöhe. Auch hat sie beim Konjunkturpaket eine klare Haltung der SPD gegen eine Autokaufprämie für Verbrenner formuliert, das dann auch als Ergebnis Bestand hatte. Frau Esken ist nicht laut, eher leise, springt nicht immer in die Tagesaktualität und ist eher an Themen als Emotionen interessiert. Wer im Übrigen auf Twitter – einer eher schlecht als rechten Benutzeroberfläche für das Internet – genauer hinschaut, findet dort auch viele Menschen, die sachlich argumentieren, Informationen weiterreichen und inhaltliche Gemeinschaften knüpfen. Um Wahlen zu gewinnen, was die SPD seit einiger Zeit nicht mehr so recht tut, braucht es vielleicht Eigenschaften wie von Frau Esken, online und analog, um sachliche Diskussionen um Zukunftsfragen zu führen. Auch repräsentiert Frau Esken nicht die rund 400.000 Mitglieder (es waren schon erheblich mehr), sondern die Werte der SPD. Und die ist mittlerweile doch erstaunlich vielfältig, vielschichtig, weiblicher und hat weniger mit Basta zu tun, als es vielen Medien lieb ist. Das solche Eigenschaften von Wähler:innen durchaus auf Wertschätung treffen, zeigt eine bekannte Poltikerin der CDU, die ebenfalls eher leise daherkommt und von lauten Tönen nicht viel hält. Wer im Twitter-Profil ein Simpson-Zeichnung von sich hat, das in einer Social-Media-Gruppe von Jungen-Liberalen entstanden ist, zeigt, dass es auch auf Twitter möglich ist, quer durch alle bestehenden Lager und Erwartungen Gespräche zu führen. Im Hinblick auf die Herausforderungen in der Klimapolitik, dem Wandel in der Automobilwirtschaft, in Kohleregionen oder der urbanen Wärmewende sind Menschen, die bereit und fähig sind Sachfragen zu adressieren und in Gespräche zu treten, jenseits alter und bekannten Rollenmuster, kann die SPD durchaus froh sein, jemand wie Saskia Esken in ihren Reihen zu haben.
Twitter ist nicht nur ein Instrument. Der Dienst hat auch eine Logik und die scheint wohl eher eine Verschärfung des Diskurses zu belohnen. Oder eine Überhitzung. Siehe Nassehi. Es gibt viele andere Untersuchungen, die Twitter als Brandbeschleuniger in politischen Debatten sehen. Ist also die Twitter-Strategie von Saskia Esken richtig? Kann man damit Wahlen gewinnen? Oder verliert man sich in Selbstbestätigungen und Erregungskurven? Die Spiegel-Redakteure reduzieren das übrigens nicht auf äußerliche Faktoren. Sie zitieren auch parteiinterne Quellen. Das konnte ich hier nicht alles wiedergeben.