
Ein Charakteristikum der Digitalökonomie ist es, dass sich Plattformen mit Informations- und Matchingfunktionen immer breitflächiger in Wertschöpfungs- und Vertriebsketten in verschiedenen Branchen hineinschieben, dadurch eine zentrale Stellung in im Übrigen dezentralen Märkten erlangen und etablierte Vertriebsmodelle herausfordern. Das beleuchten Heike Schweitzer, Justus Haucap, Wolfgang Kerber und Robert Welker in ihrer Studie “Modernisierung der Missbrauchsaufsicht für marktmächtige Unternehmen” – ein Projekt im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie (BMWi)
“In verschiedenen Variationen stellen diese Informationsintermediäre Informationen über die Qualität von Angeboten und über die Zuverlässigkeit von Transaktionspartnern zur Verfügung und selektieren und priorisieren auf der Grundlage der Auswertung von Nutzerdaten attraktive Matching-Optionen. Viele Nachfrager nach unterschiedlichen Gütern und Dienstleistungen nutzen die Dienste solcher Informationsintermediäre. Sie haben allerdings zum Teil nur eingeschränkte Möglichkeiten, die Qualität der Informationsdienstleistungen zu überprüfen. Ökonomisch gesehen handelt es sich bei den Intermediationsleistungen oftmals um Leistungen mit der Eigenschaft sogenannter Vertrauensgüter, bei denen Nachfrager die Qualität der Leistung selbst ex post, wenn überhaupt, nur unter Inkaufnahme weiterer Kosten überprüfen können. Systematische, für Nutzer nicht erkennbare Verfälschungen in der Informationsaufbereitung
und -anzeige im wirtschaftlichen Eigeninteresse der Informationsintermediäre können zu Nutzerentscheidungen und in der Folge zu Marktentwicklungen führen, die von denen abweichen, wie sie bei unverfälschtem Leistungswettbewerb zu erwarten wären. Wenn die Partei mit Informationsvorsprung (hier: der Informationsintermediär) diesen Vorsprung gegenüber der Partei mit dem Informationsdefizit systematisch zu deren Nachteil ausnutzt und zugleich über einen gewissen Grad an Marktmacht verfügt, droht prima facie ein Marktversagen.”
Vermittlungsplattformen haben in einer ganzen Reihe von Kontexten die Stellung so genannter „Gatekeeper“ erlangt. “Damit einher geht die Macht, die Regeln der Plattform zu definieren. Mithilfe dieser Regeln werden separate Ökosysteme geschaffen, die auf die Optimierung der Nutzerzahl auf den verschiedenen Marktseiten abzielen. Die Entwicklung von
Online-Plattformen zu zentralen Marktplätzen und Vermittlern im Internet erscheint in vielerlei Hinsicht als ein effizientes Marktergebnis: Die Plattformen schaffen einen relevanten Mehrwert für alle beteiligten Marktseiten. Diese Entwicklung kann aber zugleich zur Entstehung neuer Machtpositionen führen”, schreiben die Studienautoren.
Von mehrseitigen Plattformen werde gesprochen, wenn (1) zwei verschiedene Nutzergruppen (z.B. Käufer und Verkäufer) über eine Plattform vermittelt interagieren, und (2) die Handlungen der einen Gruppe den Nutzen der anderen Gruppe durch indirekte Netzwerkeffekte positiv oder negativ beeinflussen. Ein illustratives Beispiel sei eBay:
“Als Marktplatz ist eBay, ceteris paribus, umso attraktiver für einen Verkäufer je mehr potenzielle Käufer eBay aufsuchen. Die Wahrscheinlichkeit, etwas zu verkaufen, steigt, je mehr Käufer sich bei eBay tummeln. Für einen Käufer wiederum ist es umso attraktiver, bei eBay nach einem Angebot zu suchen, je mehr Angebote es gibt. Somit werden umso mehr Käufer eBay nutzen, je mehr Verkäufer dort anbieten, und umgekehrt werden umso mehr Verkäufer sich dort tummeln, je mehr potenzielle Käufer dort sind. Die Käufer profitieren somit nur indirekt davon, dass es mehr andere Käufer gibt – eben weil dadurch mehr Verkäufer angelockt werden. Und auch Verkäufer profitieren nur indirekt von der Existenz anderer Verkäufer – weil dies eben die Attraktivität des Marktplatzes für Käufer erhöht. Diese indirekten Netzwerkeffekte sind das zentrale Merkmal für OnlinePlattformen. Der Nutzen der potenziellen Käufer bei Online-Plattformen wie eBay, Amazon Marketplace, myHammer oder immobilienscout.de steigt, je mehr Anbieter es gibt, und der Nutzen der Anbieter steigt, je mehr potenzielle Kunden es gibt.”
Der Einsatzbereich digitaler Plattformen beschränke sich allerdings nicht auf die Informationsintermediation oder das Matchmaking. Für eine andere Art von Plattform stehen etwa Zahlungssysteme, Spielekonsolen oder auch Betriebssysteme.
“Die Funktion dieser Plattformen ist nicht das ‘Matchmaking’, sondern die Bereitstellung einer technischen Schnittstelle, welche die möglichst reibungslose Interaktion zwischen mehreren Marktseiten ermöglicht. Für den Erfolg von mehrseitigen Plattformen entscheidend ist ganz generell das Ausschöpfen positiver direkter und/oder indirekter Netzwerkeffekte. Folgt der Nutzen einer Plattform gerade aus der Interaktion zwischen den Marktseiten, so ist entscheidend, dass alle relevanten Marktseiten in hinreichender Zahl partizipieren, um die Plattform für die jeweils anderen Marktseiten attraktiv zu machen. Vielfach beschrieben ist in diesem Zusammenhang das „Henne und Ei“-Problem, das neu gegründete Plattformen überwinden müssen. Dementsprechend greifen viele digitale Plattformen frühzeitig zu aggressiven Wachstumsstrategien (‘Scaling’).”
Märkte, in denen digitale Plattformen zu wichtigen Akteuren geworden seien, weisen häufig eine Konzentrationstendenz auf. Starke positive Netzwerkeffekte zwischen Nutzern oder Nutzergruppen können ein „Tipping“ begünstigen, also eine Transformation von einem Markt mit mehreren Anbietern zu einem monopolistischen oder hochkonzentrierten Markt. “Die mit positiven Netzwerkeffekten zwischen Nutzergruppen verbundene Konzentrationstendenz kann dadurch verstärkt werden, dass positive Netzwerkeffekte zwischen Nutzergruppen in der neuen Datenökonomie häufig positive Daten-Netzwerkeffekte nach sich ziehen. So führen hohe Nutzerzahlen dazu, dass Plattformen mit besonders vielen Nutzern auch auf einen besonders großen Datenpool zugreifen können. Dieser kann einerseits dazu eingesetzt werden, die Dienste zu verbessern
und/oder auf besondere Nutzerbedürfnisse zuzuschneiden (Personalisierung von Diensten). Die positiven Netzwerkeffekte können sich außerdem mit Größenvorteilen verbinden: Eine Plattform mit
vielen Nutzern kann etwa Werbetreibenden ein deutlich attraktiveres Umfeld bieten und höhere Werbeeinnahmen erzielen. Insbesondere bei Google und Facebook scheint sich die Marktstärke auf Nutzermärkten zugleich in eine starke Marktstellung auf Werbemärkten übersetzt zu haben. Entsprechende Gewinne können wiederum dazu eingesetzt werden, die Dienste auf der Nutzerseite zu optimieren. Umgangssprachlich – und zu pauschal – werden Plattformmärkte daher häufig als ‘winner takes all’-Märkte bezeichnet.”
Märkte mit starken positiven Netzwerkeffekten können zu einem „Tipping“, nämlich zu einem Umkippen ins Monopol neigen. Ein solches Umkippen ist allerdings häufig nicht „naturgegeben“, sondern kann durch bestimmte Praktiken einzelner Akteure begünstigt oder sogar induziert werden. Zu diesen Praktiken zählen auch Verhaltensweisen wie ein gezieltes Behindern von Multihoming.
“Kartellrechtlich lässt sich ein solches Verhalten gegenwärtig erst dann erfassen, wenn der jeweilige Akteur über kartellrechtlich relevante Marktmacht verfügt (d.h. über eine marktbeherrschende Stellung, Art. 102 AEUV / §§ 18, 19 GWB, oder über relative bzw. überlegene Marktmacht gem. § 20 Abs. 1 oder Abs. 3 GWB). Da sich das ‘Tipping’ ins Monopol – ist es erst einmal geschehen – kaum noch rückgängig machen lässt, ist zu empfehlen, ein Einschreiten des Bundeskartellamts bzw. der Gerichte gegen ein
unilaterales Verhalten, das ‘Tipping’ begünstigt, ohne als legitime Form des Leistungswettbewerbs gerechtfertigt zu sein, bereits unterhalb dieser Schwelle zu ermöglichen. Es wird daher die Einfügung eines neuen § 20a oder § 20 Abs. 6 GWB empfohlen, der Plattformanbietern mit im Verhältnis zu anderen (nicht notwendig kleinen oder mittleren) Plattformen
überlegener Marktmacht und Plattformanbietern in engen Oligopolen eine missbräuchliche Behinderung von Wettbewerbern verbietet, soweit diese geeignet ist, ein ‘Tipping’ des Marktes zu begünstigen. Die Behinderung von Multihoming oder eines Plattformwechsels wären als Regelbeispiel zu nennen.”
Was ist nun im Referentenentwurf zur GWB-Novelle eingeflossen?
Einführung des Konzepts der „Intermediationsmacht“ als ein Kriterium zur Ermittlung einer marktbeherrschenden Stellung, um die Rolle von Plattformen als Vermittler auf mehrseitigen Märkten besser erfassen zu können. Überfällig.
Neufassung der „essential facilities doctrine“ besonders mit Blick auf Daten, um den Zugang zu „Gatekeepern“ im digitalen und nicht-digitalen Bereich zu verbessern. Wenn ein marktbeherrschendes Unternehmen sich weigert, einem anderen Unternehmen Zugang zu Daten zu gewähren, kann dieses Verhalten künftig unter bestimmten Umständen wettbewerbsrechtlich missbräuchlich sein. Kommt dem Vorschlag zur Pflicht der Datenteilung nahe, der von Thomas Ramge und Viktor Mayer-Schönberger in die netzökonomische Debatte eingebracht wurde.
Etablierung eines Eingriffstatbestandes mit besonderen Verhaltenspflichten für große Plattformen, deren überragende marktübergreifende Bedeutung das Bundeskartellamt festgestellt hat. Das Bundeskartellamt kann ihnen künftig insbesondere folgendes untersagen: Beim Vermitteln des Zugangs zu Beschaffungs- und Absatzmärkten die Angebote von Wettbewerbern und eigene Angebote ungleich zu behandeln (self-preferencing). Wettbewerbern auf einem Markt, auf dem sie ihre Stellung schnell ausbauen können, zu behindern. Durch die Nutzung der von ihnen gesammelten wettbewerbsrelevanten Daten ein anderes Unternehmen zu behindern. Die Portabilität von Nutzerdaten zu erschweren und damit den Wettbewerb zu behindern.
Schaffung einer Verbotsnorm zur Verhinderung bestimmter Maßnahmen, die ein „Tipping“ oder „Kippen“ von Märkten ins Monopol herbeiführen können. Das Bundeskartellamt kann künftig unter erleichterten Voraussetzungen einstweilige Maßnahmen erlassen, um den Wettbewerb zu sichern. Der Referentenentwurf setzt ordnungspolitisch die richtigen Akzente und wird dennoch von Justizministerin Christine Lambrecht blockiert. Lambrecht steht Medienberichten zufolge zwar hinter den Verschärfungen, sie wolle ihnen aber nur dann zustimmen, wenn Peter Altmaier im Gegenzug seine Bedenken gegen eine Vorlage ihres Hauses aufgebe. Dabei handelt es sich um den Gesetzentwurf für faire Verbraucherverträge. Was für ein kurzsichtiger Kuhhandel. Frau Lambrecht sollte jetzt sofort die Blockadehaltung zur Änderung des GWB aufgeben, denn schließlich werden gerade kleine- und mittelständische Akteure in der Netzökonomie in der Corona-Krise von den großen Plattformen wegrasiert. Im Live-Talk mit Haucap werden wir das vertiefen.
Einschalten um Mittwoch, um 11 Uhr und mitdiskutieren über die Chat- und Kommentarfunktionen: Wir übertragen das Ganze nicht nur auf Youtube, sondern auch auf LinkedIn, Twitter/Periscope und Facebook. Schaut dort auf meinen Accounts vorbei.
Was haltet ihr von dem Gesetzesentwurf für faire Verbraucherverträge?