Management in Zeiten des Kontrollverlustes: Wie kann das funktionieren?

Kann man Kontrollverlust organisieren?
Kann man Kontrollverlust organisieren?

Stichworte wie Enterprise 2.0, Crowdsourcing, Selbstorganisation, Kunden helfen Kunden, Netzwerk-Ökonomie, starke und schwache Beziehungen im Internet, Zugang zu nichtredundanten Informationen, Wissensmanagement über kollektive Intelligenz oder Management in Zeiten des Kontrollverlustes sind das, womit sich Führungskräfte heute beschäftigen sollten – in der Politik, in der Verwaltung und in der Wirtschaft!

Wie sich neue Technologien und das Internet auf Unternehmen auswirken werden, ist nach Ansicht von Aastra-Chef Jürgen Signer noch schwer zu beantworten:

„Die Erwartungshaltung von jungen Leuten, die ins Berufsleben starten, ist riesengroß. Was sie im privaten Umfeld an Kommunikationstechnologien nutzen, erwarten sie auch am Arbeitsplatz. Hier müssen sich die Firmen erst herantasten.“

Viele Geschäftskunden seien bei diesem Thema noch sehr zögerlich. Man müsse alle Mitarbeiter mitnehmen, nicht nur die Nachwuchskräfte.

Notwendigkeit von Social-Web-Exerzitien

Um die Social-Web-Philosophie in einem Unternehmen zu verankern, sollte man das machen, was die Jesuiten „Exerzitien“ nennen, so der Ratschlag des Netzwerkexperten Professor Peter Kruse.

„Sie machen Übungen, die dazu geeignet sind, Wertemuster in Bewegung zu versetzen. Und ich glaube, das empfindet jeder, der mit diesen Technologien arbeitet. Wenn man sich wirklich in seinem Alltag auf die neuen Möglichkeiten einlässt, ändert sich der Arbeitsstil und nach einiger Zeit ändern sich auch die Einstellungen und Bewertungen.“

Das Einführen der Technologie sei noch der leichteste Teil. Man müsse einen Erlebnisraum für nicht hierarchische Kommunikation schaffen.

„Wenn Sie ein Netzwerk haben, dann treten die Top-down-Beeinflussungen in den Hintergrund. Man arbeitet weniger über die Linie. Macht ist nicht mehr gekoppelt an den Besitz der Information. Dann muss man sich einlassen auf unkontrollierte, ja sogar unkontrollierbare Dynamik. Und da sehe ich bei Unternehmen tatsächlich noch ein Problem“, erläutert der Organisationspsychologe.

Okkupation der sozialen Medien

Als Indikator für diese These kann man die Netzaktivitäten der Firmen auf Facebook und Co. heranziehen. „Social Media wird okkupiert von den klassischen Marketingstrategen“, moniert Kruse im Interview mit „The Narrative“. Ein Anstupser hier, ein Gewinnspiel da, ein wenig Storytelling dort oder alter Wein in neuen Schläuchen unter der Überschrift „Content Marketing“. Das Ganze degeneriert zur Fortsetzung der Berieselungswerbung mit anderen Mitteln:

„Wenn man ehrlich ist, dann sind die neuen Möglichkeiten auch neue Wege, um Kunden noch mehr und noch nachhaltiger zu nerven. Wenn Retargeting-Experten ins Schwärmen kommen, dann wird den meisten Usern übel. Und wenn E-Mail-Experten empfehlen, die Newsletter am besten täglich zu verschicken, dann finden das 99 Prozent der Adressaten gar nicht lustig“, weiß Jan Steinbach vom Beratungsunternehmen Xengoo in Düsseldorf.

Der Kunde wird immer noch nicht als Souverän des Geschehens betrachtet, sondern als manipulierbares Klickvieh.

Unternehmen, die wirklich relevanten Content und Dialog bieten, werden von den Kunden gefunden und bevorzugt.

„Also kein Platz für Störwerbung! Und schon gar nicht für solche, die einen mittels Cookies oder sonstigem Tracking auf Schritt und Tritt verfolgt“, resümiert Steinbach.

Nach Ansicht von Kruse entscheidet nicht die Sendeenergie des Anbieters, sondern die Neugier des Nachfragers. So viel Kontrollverlust wollen die liebwertesten Gichtlinge in den Unternehmen immer noch nicht zulassen. Ausführlich nachzulesen in meiner heutigen The European-Kolumne.

Bürokratische Hierarchien prägen immer noch den Alltag fast aller größeren Organisationen, so die Analysen von Niels Pfläging in seinem Opus „Organisation für Komplexität“. Jeder von uns registriert diese Denke mit Unbehagen. In der Praxis ist das Chefgehabe aber nicht totzukriegen.

„Wenn wir von Management sprechen, meinen wir Techniken, Instrumente und Modelle, die auf die Verbesserung oder Optimierung von Organisationen als Systeme von Weisung und Kontrolle abzielen“, schreibt Pfläging.

Wie kann man nun diese Hierarchien brechen? Pfläging bringt dezentralisierte Netzwerkstrukturen ins Spiel, bei denen es keine Positionen, sondern Rollen gibt. Und die können ständig wechseln – Status verliert an Bedeutung. Vielleicht hilft es ja auch, die „stehenden Heere“ in der Bürowelt aufzulösen, um mehr Spielraum für Selbstorganisation zu bekommen. Wo und wie jemand arbeitet, ist egal. Entscheidend sind die Projektziele und nicht das Chefregime über Vorzimmer, Schleimer, Befehlsempfänger und Meeting-Schauläufer. Mit Thomas Dehler von Value5 habe ich das in puncto vernetzte Services diskutiert – Bericht folgt dazu noch.

Wie seht ihr das? Wie lässt kann man das Management in Zeiten des Kontrollverlustes organisieren? Das würde ich gerne über Interviews vertiefen.

Mit dem Anwesenheitswahn will die neue Arbeitsministerin Nahles ja schon mal Schluss machen. Bin gespannt, was da herauskommt…

Heute um 16 Uhr werden wir das bei Bloggercamp.tv mit Michael Seemann sicherlich ansprechen, schließlich geht es um sein erfolgreich via Startnext finanziertes Buch „Das Neue Spiel – Nach dem Kontrollverlust“.

Man hört und sieht sich nachher 🙂 Hashtag für Twitter-Zwischenrufe #bloggercamp

Eine neue Ära der Berechenbarkeit versprechen ja die Big Data-Hohepriester. Das sind auch nur Placebo-Effekte.

7 Gedanken zu “Management in Zeiten des Kontrollverlustes: Wie kann das funktionieren?

  1. Passt ja mal wieder: In meinem Jahresrückblick 2013 habe ich über meine Zunft gerade gelästert: „Gerade jetzt missbrauchen die Marketiers Social Media als neue SPAM-Schleuder und ballern hirnlos ebenso hirnlose Marketingnachrichten und Event Promos über Firmen- und persönliche Kanäle raus. Setzen: Note 6, Marketing im sozialen Zeitalter nicht verstanden. Dieser Tage stand in einem Bericht, dass maximal 20 % der verteilten Tweets und Social Media-Nachrichten ‘Brand Messages’ sein sollten. 80 % sollten den Empfängern Mehrwert, Nutzen liefern. Das sollten sich die sogenannten Social Media-Experten mal hinter die Ohren schreiben.“

  2. Ich kann „Kontrollverlust“ bald nicht mehr hören 😉
    Gerade wenn man von den Unternehmen her denkt, so steht den kleineren Verlusten an Kontrolle über „word of mouth“ ein erheblicher Zuwachs an technologischen Kontrollmöglichkeiten auf vielen anderen Ebenen gegenüber – und das betrifft nicht nur diese Prozess-Nische namens Social Media Management, sondern sämtliche Unternehmensprozesse. Enterprise Intelligence Systeme analysieren ja heute alles tages- bis zu minutengenau. Die Entscheider kriegen aus ihren Reporting-Systemen eine Flut an Zahlen auf den Tisch, jede Zahl, die sie wollen, anhand derer sie dann steuern und auspegeln können, was das Prozessdesign hergibt. Zum Beispiel wird der Modesektor immer enger auf Basis der täglichen Absatzzahlen gesteuert – da braucht man gar nicht viel mit den Frauen auf Facebook schwätzen, der Geschmack des Puddings erweist sich anhand realer Absatzdaten. Zudem haben die Manager auch immer mehr Zahlen von Konkurrenten auf dem Tisch, teilweise – wie bei Airlines – gehen die weltweiten aktuellen und gebuchten Reiseströme direkt in die Preissysteme rein. Lufthansa jongliert zum Beispiel täglich mit über 80.000 unterschiedlichen Preisen herum, ein Sitzplatz für den Flug nach New York von Frankfurt aus kann da als „ausgebucht“ angezeigt sein, während es ihn z.B. ab Dubai noch gibt. Revenue-Management nennt sich das und das findet sich überall. Z.B. weiß ich von einem Mitarbeiter einer gewissen Möbelhandelskette (nein, nicht IKEA), dass einer der Hauptaufgaben des Hilfspersonals jeden Morgen darin besteht, die aktuellen Preisänderungen anzubringen – die einen Waren werden hochgesetzt, andere herunter und morgen vllt schon wieder andersherum. Wenn man sich anschaut, was heute in halbwegs modern aufgestellten, mit SAP motorisierten Unternehmen an ausgefeiltem Controlling von allem und jedem läuft, kann man nicht wirklich sagen, dass da ein Kontrollverlust stattfinden würde. Im Kern gibt es einen enormen Kontrollzuwachs und warum sollte ein Unternehmen auf Social Media Controlling verzichten, wenn die Kunden einem via Cookies, Feedback und Kaufverhalten so schöne Daten liefern?

  3. Mitarbeiter und Kunden lassen sich mit diesen Methoden besser kontrollieren? Das stelle doch mal live bei Bloggercamp.tv unter Beweis, Fritz.

  4. Mal sehen. Eigentlich lehne ich ja für mich TV-Auftritte ab 😉
    Im Prinzip geht es ja nur um den logischen Zusammenhang, dass jemand „Kontrollinformationen“ gewinnt, je mehr jemand anders sie hergibt oder sich abknöpfen lässt. Das siehst du typisch an Facebook: Mit den Daten, die die Nutzer an Facebook geben, kann Facebook seine Werbekunden ein Mehr an Kontrolldaten für ihr Marketing an die Hand geben. So ist es immer: Der eine gibt Daten preis („Kontrollverlust“), jemand anderes nimmt sie („Kontrollgewinn“).
    Dass in diesem Machtspiel auch die Macht der Konsumenten verstärkt wurde, ist genauso wahr. Da findet man genug „Beweise“, nehmen wir als bestes Beispiel die Preisvergleichsportale. Die konstituieren eine Kontrollfunktion der Verbraucher und einen Kontrollverlust der Händler/Produzenten. Für Edelmarken ein Steuerungsproblem, die müssen ihre Sales-Channels im Netz anders steuern als Anbieter von Massenware. Amazon hat die Kontrolle dagegen über die Knebel-AGBs geregelt (Amazon kontrolliert damit die Preisfestsetzungsmacht für ganze Märkte, die Nachfrage der Kunden steuert so gar nichts mehr). Andererseits sind Preissuchmaschinen nicht immer auf der Höhe der Preissysteme der Anbieter und unterliegen teilweise Eigeninteressen, die kein Kunde von außen durchschauen kann.
    Wie auch immer, die Konsumenten sind an einigen Punkten stärker geworden, werden aber gleichzeitig immer geschickter und effizienter mit Cross-Media CRM, Real Time Bidding und weiß der Kuckuck was alles gelenkt.
    Wobei die Unternehmen ja nicht wirklich „Menschen kontrollieren“ wollen, sie wollen ihr Geschäft kontrollieren. Unter den Startup-Kandidaten 2013, die mit Aufbereitung von Kundendaten zur Steuerung von Geschäftsprozessen zu tun haben, sind gleich 2, die damit zu tun haben (ich glaube es gibt Unzählige).
    42reports.com: „Man will die gleichen Tools, die im E-Commerce längst selbstverständlich sind und als erfolgreich wahrgenommen werden, auch dem Offline-Handel zur Verfügung stellen. … Mittels eines im Ladengeschäft installierten Sensors werden die WiFi-Signale der Smartphones der Besucher erkannt, für verschiedene Reports aufbereitet … Für jeden Ladenbesitzer im physischen Handel – vom Eck-Café bis zur Supermarktkette – wird sekündlich genau gemessen, wie viele Passanten (mit Smartphone) dort vorbeigehen und wie viele Besucher in den Laden hineingehen. Außerdem wird festgestellt, wie lange Besucher bleiben und ob diese Stamm- oder Neukunden sind. Alle Metriken werden über Zeit, im Detail und von allen Seiten analysiert.“
    Das andere ist reputami.com („Einfach zufriedene Kunden“): „Ärgern Sie sich auch über schlechte Online-Bewertungen? Einfacher Überblick über alle Ihre Bewertungen im Internet. Benachrichtigung über einflussreiche Kunden – Eingreifen vor Ort möglich. Kinderleichte Bedienung… Jetzt Bewertungen verbessern! 14 Tage kostenlos & unverbindlich“.
    Jeden Kontrollverlust kann jemand anders in einen Kontrollgewinn umwandeln.
    Das gilt auch für Unternehmen, die allerdings teilweise dazu verpflichtet sind, ihre Mitarbeiter genauestens zu kontrollieren. Z.B. haben einige Banken jetzt ihren Händlern Chat-Funktionen verboten, weil dabei sozusagen „kontrollfreie“ Kommunikation stattfinden könnte, die es aber nicht mehr geben darf, sonst besteht eine Kontrolllücke. Ähnliche Kontrollpflichten dürfte es in anderen Branchen geben, insbesondere in Pharmaproduktion, im Gesundheitssektor, LKW-Fahrer sind seit jeher kontrolliert fast bis zur Versklavung, Amazon-Mitarbeiter werden ständig vermessen, bei performance orientierten Unternehmen (Goldman Sachs, Mc Kinsey and such alikes) ist es oft Usus, dass am Ende jeden Jahres einfach die 10 oder 15% „schlechtesten“ Mitarbeiter gegangen werden, etc. Da in den USA die Gewerkschaften fast nichts mehr zu sagen haben, möchte ich nicht wissen, was dort längst an zahlenbasierter Mitarbeitersteuerung längst gang und gäbe ist …

  5. Wir senden ja immer am Mittwoch, um 11 und 16 Uhr. Schlag doch für Januar mal einen Termin vor und bereite etwas vor zur Live-Präsentation – dann spielen wir das durch.

Kommentar verfassen

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.