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Liebwerteste Gichtlinge, erlauchte Zecher, es gilt die Narrenfreiheit

“Gute Leute, erlauchte Zecher und ihr, liebwerteste Gichtlinge, saht ihr jemals Diogenes, den zynischen Philosophen?” – so begann der Renaissance-Denker François Rabelais seine Rede und mit dieser schelmischen Sichtweise auf das Leben startete ich am 21. Januar 2011 meine wöchentliche Kolumne für das Debattenmagazin “The European”, die ich vor längerer Zeit wegen des rechten Kurses der neuen Macher eingestellt habe. Auf ichsagmal.com könnte ich dieses Format ja jeden Montag wieder mit Leben füllen. Das wird hiermit umgesetzt. Liebwerteste Gichtlinge der Aburteilung und moralischen Empörung: Ich verstehe Eure Verärgerung über blödsinnige Witze und Scherze – seien es zotige Altherren-Sprüche über Doppelnamen oder saarländische Altweiber-Weisheiten mit konservativer Doppelmoral.

Aber kleidet sie in der Karnevalszeit doch in derbe Gegenreden. Es gilt die Karnevalsfreiheit, die ungestüme Karnevalsrede, die Logik der Umkehrung, des Auf-den-Kopf-Stellens, die Vertauschung von Oben und Unten, von Gesicht und Hintern (Arsch, hätte Rabelais geschrieben), die Parodie und Travestie, die Degradierung und Profanisierung, die närrische Krönung und Entthronung. Es regiert der Ton des Marktschreiers und der rechtfertigt selbst die gröbsten Scherze und Schimpftiraden. Nachzulesen im Rabelais- Schelmenstück „Gargantua und Pantagruel“. Das Werk enthält freche Narrengedanken, um meckernde Hausmeister und Hausmeisterinnen, Heuchler, Verleumder, schulmeisterliche Besserwisser und bigotte Aburteilungs-Wichtel bloßzustellen. Letztere gibt es inflationär im Social Web. Wir leiden netzöffentlich nicht an einem Überschuss an Meinungen und derben Reden, sondern an einem Überschuss an moralistischen und humorlosen Aburteilungen.

Was Rabelais zu Papier brachte, ist das wirkungsvolle Gegenmittel. Es ist ein Traktat der fröhlichen Anarchie. Der Held des Romans für unkalkulierbare Scherze ist Panurge. Den Magistern steckte er Scheißkegel in die Klappenkrempe, heftete ihnen hinten kleine Fuchsschwänze oder Hasenohren an den Rücken oder tat ihnen sonst irgendeinen Schimpf an. In seinem Wams hatte Panurge mehr als sechsundzwanzig Täschchen und kleine Flicken, die waren allezeit einsatzbereit – eine unverzichtbare Ausrüstung für den Flashmob-Aktivisten. Dazu zählen Kletten, mit feinem Flaum befiedert, von Gänschen und jungen Kapaunen; die warf er den biederen Leuten auf Rück und Mützen, und oftmals setzte er ihnen so artige Hörner auf, die sie durch die Stadt trugen, manchmal ihr Leben lang. Dümmlichen Frauen setzte er zuweilen hinten solcherlei Dinger auf die Hauben, jedoch in Form eines Männergliedes. Zum Sortiment zählten auch kleine Tüten, alle gefüllt mit Flöhen und Läusen.

Das Geziefer pustete er durch kleine Röhrchen oder Federkiele auf den Halskragen von zimperlichen Zeitgenossen, die er in der Regel in der Kirche fand. In einer anderen Tasche trug er einen erklecklichen Vorrat an Hämen und Haken, mit denen er manches Mal Männer und Frauen aneinander hakte, zumal solche, die feine Taftkleider anhatten. Wenn sie dann auseinander gehen wollten, zerrissen sie ihre Gewänder. Nützlich sind für den Gottesdienst auch Brenngläser. Es bringt so manchen Gläubigen außer Rand und Band und verwischt den Unterschied zwischen einem Kirchgänger, der seine Sünden bereut im stillen Gebet und einem Kirchgänger, der seine Sünden im Stillen begeht.

Nützlich für Panurge sind auch Nadel und Zwirn. So half er einem Franziskaner-Mönch am Ausgang des Palastes beim Ankleiden. Doch während er ihm in die Kleider half, nähte er ihm das Messgewand mit seiner Kutte und dem Hemd zusammen, und als dann die Herren vom Parlamentshof kamen und ihre Plätze einnahmen, um die Messe zu hören, stahl er sich davon. Als der Mönch sein Messgewand wieder ausziehen wollte, streifte er zugleich Kutte und Hemd über den Kopf, die daran festgenäht waren, und stand bis zu den Achseln splitternackt da, zeigte auch aller Welt seinen Zippidilderich, der wahrlich nicht klein war. Und je mehr der Franziskaner zerrte und zog, umso weiter enthüllte er sich, bis einer der Herren vom Hof sagte: „Ei was? Will uns denn der ehrwürdige Pater hier die Opferung und seinen Arsch zum Kuss bieten? Soll ihn das Sankt-Antons-Feuer küssen.“

Liebwerteste Gichtlinge, denkt Euch doch mal etwas besseres aus, um karnevalistische Reden im Jägerzaun-Modus zu kontern. Schreibt und redet mal lustig oder fangt an, Rabelais zu lesen, Ihr Arsch Köttel-Twitterati. Hört auf mit Euren Hartwurst-Repliken. Alaaf.

Über den Autor

gsohn
Diplom-Volkswirt, Wirtschaftsblogger, Livestreamer, Moderator, Kolumnist und Wanderer zwischen den Welten.

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