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Zufallslektüre und die Fähigkeit etwas zu finden, was man gar nicht gesucht hat: Warum man die Zettelkästen von Niklas Luhmann, Hans Blumenberg und Arno Schmidt verbinden sollte

Der Zettelkasten als Suchmaschine
Der intellektuelle Zufallsgenerator von Niklas Luhmann
Luhmann statt Google

Das 760 laufende Meter umfassende Tessiner Archiv des legendären Ausstellungsmachers Harald Szeemann, wird von einem Chaos der Ordnungen in allen Ebenen beherrscht. Zettel an Schnüren von der Decke, Karteikästen mit Registern auf Tischen, Schubladenschränke, Regale, Kisten und Tüten, Versuche des Reihens und Stapelns, der Serien- und Haufenbildungen. “Unordnung ist eine Quelle der Hoffnung” steht unter einem Regalbrett: “Das Wichtigste ist für mich, mit geschlossenen Augen durchzugehen, und meine Hand wählen zu lassen.” Szeemann baute einen Zufallsmechanismus in seine analoge Sammlung ein. Im wissenschaftlichen Kontext geht man bekanntlich anders vor.

Wenn Forscher sehr sicher sind, was genau sie wissen wollen, entsteht dabei zwischen Lesen und Schreiben keine große sachliche und zeitliche Lücke. “Man bibliografiert, welche Beiträge geleistet worden sind, und notiert sich, was ihnen entnommen werden kann”, schreibt Jürgen Kaube in seinem Beitrag “Luhmanns Zettelkasten oder Wie ist gedankliche Ordnung möglich?” im Ausstellungskatalog “Serendipity – Vor Glück des Findens”, erschienen im snoeck-Verlag. Nachdenken, Weiterlesen, Rechnen, Experimentieren, Datenausschöpfen, Fragen und Antworten formulieren. Die Lektüre und Recherche erfolgt zielgerichtet.

Was in Schubläden schlummert

Der berühmte Zettelkasten, den der Soziologe Niklas Luhmann schon im Alter von 25 Jahren anlegte und bis zwei Jahre vor seinem Tod 1998 geführt hat, um seine Gedanken und Lektüren zu dokumentieren, funktioniert anders. Eine Erkenntnis wollte er nicht in Stein meißeln, sondern auf verschiedene Wege weiterführen. Kaube erklärt das mit dem Zettel 7/59a zum Begriff des Klassikers. Dort notiert Luhmann: “Man kann es tun, aber es entspricht nicht wissenschaftlichem Stil, die Klassiker mit Dankbarkeit zu überschwemmen”und “Vielleicht sind Klassiker auch, und gerade deshalb, so beliebt, weil man sich von ihnen durch Personennamen unterscheiden kann, während bei theoretischen Positionen schwierige Überlegungen nötig sind, wirklich festzustellen, worin sie sich unterscheiden.”

Dieser Luhmann-Zettel unterstreicht die Kombinationsmöglichkeiten seines Gedankenkosmos, der in Schubläden schlummert. Er belegt nach Auffassung von Kaube die Verwendungsfähigkeit in unterschiedlichen Kontexten wie “Klassiker” oder “Adeptentum” oder “Philologie”. Anschlussmöglichkeiten ergeben sich auch über die Funktion von Personennamen oder über die verschiedenen Ausprägungen von Dankbarkeit. “Es kommt in jedem Fall nur darauf an, dass man diesen Zettel wiederfindet, wenn man an Überlegungen zu Dank, Philologie oder Epigonen sitzt. Dafür hat die Ordnung des Zettelkastens, die Anordnung der Zettel, das interne Vereisungssystem und die Schlagwörtervergabe zu sorgen”, schreibt Kaube.

Zufallslektüre

Am wichtigsten ist allerdings die Berücksichtigung des Zufalls bei der Lektüre. Es gibt Themenblöcke im Luhmannschen Archiv etwa zum Begriff des Amtes, zu Wirtschaft, zu Hochkulturen oder zur Entscheidungstheorie. Diese anfängliche Ordnung wird immer wieder verlassen. Notierte Nebengedanken zu diesen großen Linien werden einfach an der Stelle eingeschoben, an der der Zettelkasten geöffnet war. Das führt zur Steigerung des Überraschungsgehaltes beim erneuten Zugriff auf den Kasten. Durch die Anwendung dieses “Multiple-Storage-Prinzips” – also die Mehrfach-Ablage – durchbricht Luhmann auch eine historische Ordnung nach der Machart “Das waren meine ersten Gedanken zu xyz”.

“Der Kasten versucht die Vorteile von Ordnung mit den Vorteilen der Unordnung zu kombinieren”, so Kaube. Damit bewegt sich Luhmann auf der von Horace Walpole benannten Gabe der Serendipität, also der Fähigkeit, etwas zu finden, was man gar nicht gesucht hat. Eine Recherche-Methodik für überraschende Erkenntnisse.

Entscheidend ist Verzicht auf eine Zettel-Priorität. Es gibt in diesem Netz der Notizen keine privilegierten Plätze und keine Zettel von besonderer Qualität. Mit der Ablagetechnik und die Kombinatorik der Notizen gleicht der Zettelkasten den Hyperlinks des Internets.

Einen feinen Vorschlag hat der Felix Heidenreich in einem NZZ-Beitrag gemacht. Die digitale Verbindung der Zettelkästen von Niklas Luhmann, Hans Blumenberg und Arno Schmidt:

“Dann könnte man von einem Denk-Atoll ins andere übersetzen, um zu sehen, ob den Bewohnern eventuell ähnliche Dinge ins Netz gegangen sind, bei ihren Lektüren im Meer der Texte.”

Das wäre fantastisch 🙂

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Über den Autor

gsohn
Diplom-Volkswirt, Wirtschaftsblogger, Livestreamer, Moderator, Kolumnist und Wanderer zwischen den Welten.

2 Kommentare zu "Zufallslektüre und die Fähigkeit etwas zu finden, was man gar nicht gesucht hat: Warum man die Zettelkästen von Niklas Luhmann, Hans Blumenberg und Arno Schmidt verbinden sollte"

  1. Schöner Text. 👍🏻 Ich habe mich in den letzten Monaten auch mit dem Zettelkastensystem von Luhmann und ähnlichen Wissensmanagementsystemen beschäftigt.
    Ich bin dabei auf Obsidian.md gestoßen, das ich auch seit ein paar Wochen nutze, um mein eigenes System zu etablieren. Es ist auch ohne Weiteres möglich, dem Vorschlag des NZZ-Kollegen zu folgen und mehrere Systeme zu kombinieren. Anfangs ist es etwas sperrig, weil eben nahezu alles möglich ist, aber es lohnt sich.

  2. Guter Hinweis. Werde mir Obsidian anschauen.

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