Der Religionshistoriker Gershom Scholem charakterisierte Gustav Meyrink als Schriftsteller,
„der eine außerordentliche Begabung für antibürgerliche Satire mit einer nicht weniger ausgeprägten für mystische Marktschreierei verband, die sich vor allem in haarsträubenden, teilweise sehr eindrucksvollen, aber nicht ganz ernsten Kurzgeschichten niederschlug, deren literarische Qualität erst in unserer Zeit von Jorge Luis Borges übertroffen worden ist“.
Den antibürgerlichen Habitus kann man vor allem in den Novellen des Bandes „Des deutschen Spießers Wunderhorn“ in fast jeder Textzeile nachempfinden. Er rechnet in seinen phantastischen Geschichten mit Polizei, Militarismus, Spießbürgertum, Kulturbarbaren und Philister ab. Das Werk ist ein Füllhorn an satirischen Formulierungen und klugen Zukunftsprognosen. Etwa in dem Stück „Petroleum, Petroleum“. 1903 geschrieben, aber erschreckend aktuell, wenn man den Textinhalt mit der Ölkatastrophe auf der Bohrplattform Deepwater Horizon im Golf von Mexiko vergleicht.
Thomas Franke, Schauspieler, Grafiker und Kenner der phantastischen Literatur, stellte in der Bonner Literaturbuchhandlung Böttger einen kleinen Ausschnitt aus dem Band vor. Den Anfang macht „Petroleum, Petroleum“. Hier der Audio-Mitschnitt:
Pétur Gunnarsson, der im Oktober 2011 mit dem ersten Teil seiner Tetralogie um Andri Haraldsson, „punkt, punkt, komma, strich“ in der Bonner Literaturbuchhandlung Böttger zu Gast war, stellte gestern gemeinsam mit dem Island-Experten Wolfgang Schiffer den soeben zur Leipziger Messe erschienenen zweiten Teil „ich, meiner, mir, mich“ vor. Beide Bücher sind im Weidle-Verlag erschienen.
Im Mittelpunkt des Romans steht wieder der junge Andri, der von einem Aufenthalt auf dem Land nach Reykjavík zurück kommt und sich neu einleben muss; Mutter und Schwester sind in einen modernen Wohnblock gezogen, er geht in eine andere Schule und findet sich in einem unbekannten Umfeld wieder. Und dazu beginnt auch noch seine Pubertät, er leidet unter Erröten, bekommt Pickel, und sein Interesse am anderen Geschlecht nimmt ungeahnte Ausmaße an. Wilde Jahre zwischen Zigaretten- und Alkoholdunst, Schule und Straße, Stadt und Land – zum Soundtrack der Beatles. Man wird zwar in die 1960er zurückgeworfen. Aber viele Passagen erinnern mich doch stark an meine vier Kinder – eines steht noch in der Blüte des Erwachsenwerdens und erfreut uns täglich mit Szenen, die Pétur Gunnarson so trefflich beschreibt. Etwa auf Seite 14:
„Scham war sein täglich Brot. Er schämte sich für sich selbst, für seine Eltern (oh ja, wir sind schon peinlich, gs), vor allem dafür, dass seine Mutter in einem Milchladen arbeitete. Sein Selbstvertrauen war in alle Himmelsrichtungen verflogen, er unterstand der Öffentlichen Meinung. Kaum war er unter Leute gekommen, schon wurde er rot, errötete aus Angst zu erröten, errötete aus Scham darüber, dass er errötete, errötete, wenn man ihn ansah, errötete, wenn man ihn überging, errötete einfach nur so. Ohne Vorwarnung fing er an rot zu werden, und selbst wenn er all seine Kraft zusammennahm, konnte er den Kopf nicht heben…(heute erröten die Jungs und Mädels aber nicht mehr so schnell, sondern reagieren eher gelangweilt, angeödet oder auch aggressiv bis zur Pöbelei, gs)…Die Unsicherheit hatte zur Folge, dass es ausgeschlossen war, irgendein Risiko einzugehen: Alle versuchten so auszusehen, wie es die Aussehkontrolle vorgegeben hatte. Wenn die Minderwertigkeit aller zusammengekommen war, verwandelte sie sich in Gruppendynamik. Im Schutze der Gruppe konnten sie sich wie Affen benehmen (das hat sich nun überhaupt nicht gewandelt, gs).“
„Weniger was Gunnarsson erzählt, macht diesen Roman so faszinierend, inspirierend und hochamüsant, sondern viel mehr wie er es erzählt: Voller treffender Bilder und Vergleiche, und in kurzen, wahren Sätzen, die man sich übers Bett hängen möchte: ‚Eines schönen Tages erwachst du in einer völlig unbekannten Frau zum Leben. Zuerst scheint es, als wolltest du eine Briefmarke werden, dann ein Fisch, als nächstes eine Echse, am Ende ein Lamm. Schließlich erscheinst du in der Gestalt eines alten Mannes, unbekannte Hände schneiden die Nabelschnur durch, Verkäufer und Immobilienspekulanten haben dich lebenslang im Griff.’Einziger Kritikpunkt an diesem ziemlich lustigen und erhellenden Kurztrip nach Island: Er ist zu kurz!“
In aller Ausführlichkeit kann man sich aber die gestrige Lesung anschauen 🙂
Demnächst werden wir die Fortsetzung der Andri-Erlebnisse lesen können. Weidle wird sie wieder herausbringen.