
Für meine eigene Arbeit, meine Recherchen und Ansichten ist ein Leitgedanke des Wissenschaftstheoretikers Hans Albert prägend:
Nichts gilt als unbezweifelbar. Rationale Kritik unterwirft sich weder dem Mainstream, Kampagnen oder dem politischen Konformismus. Sie überprüft ständig Glaubenssysteme, Aussagen, Thesen, Überzeugungen und Ansichten. Empirie, Experimente, Korrelationen und die Untersuchung von Kausalitäten sind wichtig im wissenschaftlichen und auch im politischen Diskurs.
Nur ist es höchst fragwürdig, seiner Geisteshaltung mit dem Slogan “evidenzbasiert” eine Teflonschicht anzulegen, um unangreifbar zu werden. Ich kann mich noch gut an einen Disput mit einem Marketingprofessor aus Münster erinnern, der krampfhaft nach Bestätigungen seiner Annahmen während der Pandemiezeit suchte. „Die Leute schreien. Und widersetzen sich den Regeln (Bevölkerungsumfragen belegten genaus das Gegenteil, gs). Manchmal muss man halt ein wenig hinschauen.“
Er meinte damit eine Äußerung von Cornelia Betsch gegenüber dem Spiegel. Angeblich würde es einen Zusammenhang zwischen steigender Mobilität der Bevölkerung und den sinkenden Zustimmungswerten zu den Corona-Maßnahmen der Politik geben. Meine Antwort: Korrelation gleich Kausalität? Wir könnten jetzt noch eine dritte Kurve anfügen. Das wäre die Wetterkarte. Daraufhin sagte der Kollege von Frau Betsch auf Twitter: „Klar ist das schöne Wetter auch ein möglicher Grund für gestiegene Mobilität. Die Korrelation zwischen Mobilität und Risikowahrnehmung ist dennoch beträchtlich, und ein kausaler Zusammenhang plausibel. Schließt sich sich nicht gegenseitig aus“, schreibt Frank Schlosser (Twittername @franksh_).
Den genauen Prozentwert konnte er mir dann nicht nennen, zumindest nicht bis zum Abgabetermin meiner Kolumne. Auf der Infografik kann man nur eine kleine Veränderung der Zustimmungswerte erkennen. Die publizierten Thesen wurden wohl gewaltig aufgeblasen. Die präzisen GPS-Daten der Netzbetreiber mit einer Panel-Online-Umfrage zu korrelieren, ist ein gewagtes Unterfangen – höflich ausgedrückt. Es gibt auch Zufälle oder Kontingenz. Dennoch war der Ton von Betsch und Co. höchst apodiktisch.
“Von der Fundierung politischer Entscheidungen in wissenschaftlich generierten und von Experten interpretierten Daten verspricht man sich eine Steigerung ihrer Rationalität, ihres Reflexionsniveaus, ihrer Effizienz und Effektivität. Es gibt aber auch entschiedene Gegner dieser Entwicklung, die in ihr eine gefährliche Tendenz zur Einschränkung von Demokratie und Rechtsstaat erkennen, weil evidenzbasiertes Regieren kollektiv verbindliche Entscheidungen als ‘alternativlos’ der demokratischen Willensbildung entzieht und damit das Grundrecht der politischen Partizipation empfindlich einschränkt und darüber hinaus im Interesse des Gemeinwohls auch in weitere Grundrechte eingreifen kann”, schreibt Richard Münch in dem Opus “Die Herschaft der Inzidenzen und Evidenzen”, erschienen im Campus Verlag.
Dazu komme noch, dass das “ideologiefreie” evidenzbasierte Regieren in seinem Steuerungswillen auf eine mehrfach tief gespaltene Gesellschaft trifft, in der die intendierte Sachlichkeit der Politik, die von allen Bürgern als die bestmögliche anerkannt werden soll, Gräben aufreißt und vorhandene gesellschaftliche Polarisierungen noch weiter verschärft.
Die Wissenschaft werde einseitig für politische Legitimationszwecke instrumentalisiert, wenn Maßnahmen auf “Evidenzen” gestützt werden, die es gar nicht gibt, oder auf einseitig ausgewählte Evidenzen, wobei Gegenevidenzen ignoriert oder heruntergespielt werden.
“Das ist umso mehr der Fall, je mehr die Wahrheitsproduktion im Überschneidungsbereich von Wissenschaft und Politik stattfindet und dadurch Akteure daran beteiligt sind, die keine rein wissenschaftliche Agenda der offenen Erkenntnisgewinnung, sondern andere Interessen, speziell ökonomische und politische Interessen, verfolgen. Sie sind nicht an Erkenntnis per se interessiert, sondern an Erkenntnis, die ihre Interessen unterstützt. Eine Entscheidung ist technologisch rational, wenn das effektivste und effizienteste Mittel zur Erreichung eines spezifischen, genau definierten Zieles eingesetzt wird. Das heißt aber mitnichten, dass sie dann auch politische Rationalität besitzt. Sie verfehlt diese Rationalität, wenn sie die real immer gegebenen Konflikte zwischen unterschiedlichen Interessen und Zielen nicht so zum Ausgleich bringt, dass auch unterlegene Akteure die Entscheidung als legitim anerkennen, Widerstand innerhalb der als legitim definierten Grenzen verbleibt und die Entscheidung so auch de facto Geltung erlangt und befolgt wird.”
Werden Tatbestände empirisch sauber dargelegt, wie der menschengemachte Klimawandel, heißt es noch nicht, dass die politischen Maßnahmen von Preislösungen bis zu ordnungsrechtlichen Vorgaben zu guten Ergebnissen führen. Beim Heizungsgesetz können wir das gerade live erleben. Da ist wenig evidenzbasiert. Wir bewegen uns im Terrain von Werturteilen und normativen Zielsetzungen. Und die muss man kontrovers, transparent und sachlich aushandeln. Es darf da keine Tabus oder alternativlose Basta-Reden geben.