In Nikos Wohnung in Bonn ist der Flur zu schmal für das, was er an diesem Abend aufnehmen muss: Mäntel, Umarmungen, Stimmen, Sprachen, Lachen – und diese eigenartige Elektrizität, die entsteht, wenn ein Datum mehr ist als ein Datum. Der 22. Dezember ist hier nicht bloß der Vorabend eines Geburtstags. Er ist eine Schleuse. Man geht hinein, man wartet, man hebt ab – und irgendwann, mitten im Geräusch der Gläser, kippt die Zeit ins Morgen. Dann ist der 23. Dezember da. Und Niko wird dreißig.
Die Wohnung wirkt in solchen Nächten wie ein Gegenentwurf zu allem, was draußen gern „zerfasert“ heißt. Drinnen fügt sich alles: ein Meltingpot von fast allen Kontinenten – mit Ausnahme des Südpols, den man in dieser Runde höchstens als Witz vermisst. Freunde, die seit Jahren bleiben. Manche sind neu, aber auch sie werden sofort eingesponnen in das, was diese Abende ausmacht: eine Treue, die keine großen Worte braucht. Man kommt nicht, um eine Zahl zu feiern. Man kommt, um einen Menschen zu halten – im besten Sinn: ihn sichtbar zu machen, ihn zu umkreisen, ihn zu tragen, wenn es nötig ist.
Niko ist Milianas Sohn. Und damit auch meiner. Dieser Satz ist zugleich schlicht und schwer. Er ist keine Formel, die etwas endgültig ordnet, sondern ein Band, das sich im Laufe der Jahre immer wieder bewähren musste – in guten Nächten wie in den anderen.
Die Musik beginnt früh, als müsste sie eine Grundierung legen. So eine Art Modern-Talking-Karaoke gehört zum Inventar dieser Tradition.
Irgendwann tauchen Michael-Jackson-Moves auf, diese Versuche, den Körper zu einem Ausrufezeichen zu machen. Niemand erwartet Perfektion. Im Gegenteil: Die kleinen Unsauberkeiten sind der Beweis, dass es echt ist. Ein Schritt zu weit, ein Dreh zu schnell, ein Lachen danach – und schon ist die Szene gerettet, ja: besser als gerettet. Sie ist menschlich.
Auf dem Tisch stehen Whiskey und Cola, später mehr Cola als Whiskey und am Ende beides in einem Zustand, den man nur als „unentschieden“ beschreiben kann. Und dann: Zirbenschnaps oder so eine Art Zirbenschnaps. Mein Beitrag. Mein Fingerabdruck. „Du bist schuld“, sagt irgendjemand, und ich nehme die Schuld an wie einen Orden, der nach Wald riecht.
Die Tradition des Hineinfeierns
Das Hineinfeiern ist eine merkwürdige, fast altmodische Kunst. Man macht aus einem Kalenderwechsel einen Übergang, aus einer Minute eine Schwelle. Vielleicht, weil man dem Leben damit eine Form gibt, die es sonst nicht anbietet. Ein Geburtstag kommt ohnehin; aber hineinzufeiern heißt, ihm entgegenzugehen. Man stellt sich dem Datum, statt es nur zu passieren.
Gegen Mitternacht wird die Wohnung dichter. Gespräche bilden Inseln: hier die alten Bonn-Geschichten, da drüben eine Diskussion über Musik, die im nächsten Satz schon wieder in Gelächter kippt. Die Freunde sind ein Netz, das schon lange trägt. Diese Gruppe hat etwas, das man nicht planen kann. Man kann es höchstens pflegen. Und Niko hat es gepflegt – über Jahre, in denen vieles nicht leicht war.
Es gibt Freundschaften, die funktionieren wie Dekoration: schön, aber austauschbar. Und es gibt Freundschaften, die sind Infrastruktur. Sie halten den Alltag zusammen, und sie halten die Ausnahme aus. An Nikos dreißigstem Geburtstag sieht man diese Infrastruktur in Aktion: jemand räumt Gläser weg, ohne gefragt zu werden; jemand holt Wasser; jemand legt einem anderen kurz die Hand auf die Schulter, ohne daraus eine Szene zu machen. Kleine Gesten, die größer sind als jede Rede.
Zum musikalischen Repertoire gehört auch Reinhard Mey. „Gute Nacht Freunde.“ Milianas Lieblingslied.
Es ist erstaunlich, wie ein einziges Stück Musik die Statik eines Raumes verändern kann. Eben noch war alles Bewegung; plötzlich wird es stiller, nicht schlagartig, eher so, als nähme jemand unmerklich die Hand vom Gas. Das Lied ist kein Drama. Es arbeitet nicht mit großen Effekten. Es sagt im Kern: Danke. Für den Platz am Tisch. Für die offene Tür. Für die Wärme, die nicht erklärt werden muss.
Unsere Familie erklärt sich über eine Geschichte – und über eine Entscheidung: dass Bindung nicht verschwindet, nur weil jemand gestorben ist. Miliana fehlt, ja. Aber sie ist anwesend in genau solchen Augenblicken. Als Ton im Hintergrund, der sagt: Schaut, was ihr einander seid.
Niko wird dreißig, und in dieser Zahl steckt eine stille Zumutung: Man ist nicht mehr „jung“ im sorglosen Sinn, aber auch noch nicht „alt“ in einem tröstlichen. Man steht in der Mitte – und die Mitte ist der Ort, an dem man merkt, was trägt. Niko hat Menschen um sich, die tragen. Und er hat eine Familie, die nicht aus reiner Biologie besteht, sondern aus gelebter Nähe.
Draußen in der Stadt liegt Bonn im Dezember oft ein wenig gedämpft, als hätte die Kälte auch den Ton heruntergeregelt. Drinnen in Nikos Wohnung ist es umgekehrt: Wärme, Lautstärke, Leben. Und in der Mitte dieser Wärme ein kurzer, heller Schmerz, der nicht aus der Party fällt, sondern aus dem Leben selbst.
Miliana hätte diesen Abend geliebt: das Chaos, die Treue, die Weltkarte aus Menschen in einer Bonner Wohnung. Und diesen einen Moment, in dem ein Lied aus einem Fest eine Erinnerung macht – und aus Erinnerung wieder Nähe.
Man kann jemanden verlieren. Man kann nicht verlieren, was man miteinander war und ist.
Am Anfang meine Session auf dem BloggerCamp stand kein Tool, keine Plattform, sondern eine Akte. Eine Patientenakte aus dem Bundesarchiv in Koblenz. Darin die Diagnose „Taboparalyse“ – Spätfolge der Syphilis, neurologischer Verfall, Lähmung. Sie steht beim Namen eines Häftlings, der in Dachau und einer Versuchsanstalt bei Koblenz interniert war: Wilhelm Sohn, mein Großvater. Er starb, bevor die Deportation nach Auschwitz vollzogen werden konnte – an den Folgen von Experimenten, Unterernährung, Krankheiten, Gewalt.
Diese Akte ist kein rhetorisches Beiwerk, sie ist Grenzmarke. Wer erlebt hat, was totaler Staat, Lagerregime und medizinische Verwaltung der Vernichtung bedeuten, weiß: „Faschismus“ ist kein Allzweckwort für alles, was uns an der Gegenwart missfällt.
Genau dieser Begriff aber ist in den digitalen Debatten um Big Tech in Umlauf geraten – und trifft inzwischen nicht nur milliardenschwere Plattformbetreiber, sondern zunehmend auch deren Nutzerinnen und Nutzer. Wer Twitter/X nicht verlässt, wer „immer noch dort“ ist, landet schnell im moralischen Verdachtsregister. In der Session wurde diese Entwicklung benannt – und als das bezeichnet, was sie ist: Relativierung durch Überdehnung.
Ich pläsiere für ein politisch tragfähigeres Vokabular: Oligarchie, Infrastrukturmacht, privat organisierter Meinungsraum ohne demokratisches Mandat. Das ist präzise genug – und beleidigt keine Toten.
Imperium ohne Staat
Das Bild, das sich über die Diskussion legte, war das des „Plattformkaisers im Technopelz“: ein Unternehmer, der Raketen startet, Elektroautos baut, Satellitennetze ausrollt – und nebenbei eine globale Kommunikationsplattform kauft, sie nach Gutdünken umbaut und als persönliche Experimentierfläche für politische Andeutungen, Kränkungen und Kurswechsel nutzt. pdfVortragGunnarBloggerCamp
Der Widerspruch liegt offen zutage: Öffentlich wird gegen „Parasiten“ gepoltert – gegen jene, die sich angeblich an geschaffenen Infrastrukturen festsaugen. Gleichzeitig hängt das eigene Imperium zu einem beträchtlichen Teil an staatlichen Leitungen: Raumfahrtaufträge, Subventionen, regulatorische Privilegien. Die Figur des selbstermächtigten Tech-Titans steht auf dem Fundament öffentlicher Investitionen, die er im Nachhinein zur Bestätigung eines persönlichen Genie-Mythos umdeutet.
Die Session hat diesen Widerspruch nicht skandalisiert, sondern seziert: Hier entsteht eine Spielart des Imperialismus ohne Staat – oder genauer: ein Privatimperium, das sich der Staatsapparate bedient, ohne sich politisch binden zu lassen. Die demokratische Öffentlichkeit hat diesen Rollentausch lange hingenommen. Der Milliardär wurde zum Symbol technischer Zukunft, der Staat zum Zaungast, der zuschaut, wie auf seinen Infrastrukturen persönliche Reiche errichtet werden.
Die fragile Macht der Giganten
Damit war der Weg frei zur nächsten Verschiebung: Weg von der Empörung, hin zur historischen Perspektive.
Anhand der Ranglisten der „wertvollsten Unternehmen der Welt“ lässt sich die Fragilität dieser Imperien ablesen: Anfang der 1990er Jahre dominieren Telkos, Ölkonzerne, japanische Banken; Mitte der 2000er verschieben sich die Tabellen erneut; um 2020 stehen nahezu ausschließlich Tech-Konzerne und ein Ölmonopolist an der Spitze. Wer die Auswechslungsrate betrachtet, muss zur Kenntnis nehmen: Kaum ein Name hält sich länger als eine Dekade im oberen Feld, Microsoft ist die Ausnahme, nicht die Regel.
In der Session wurde auf ein Szenario für 2035 verwiesen: Wieder andere Konzerne, andere Regionen, andere Technologien. Nicht als Prognose, sondern als Erinnerung daran, dass auch die heutigen Kaiser nur eine Drehung im Karussell der Kapitalmärkte markieren.
Hier setzt Daniel Kahneman ein. Er beschreibt die menschliche Neigung, im Nachhinein aus Erfolgen Geschichten zu bauen: bessere Strategie, klarer Blick, richtige Technologie. Im Absturz folgt die Gegenlegende von Arroganz, Versagen und verpassten Trends. Kahneman nennt das den Sieg der Rückschau über die Statistik: Außergewöhnliche Erfolge sind häufig Ausreißer, die zur Mitte zurückkehren – Glück, Marktphase, Timing, mehr nicht. pdfVortragGunnarBloggerCamp
Die Lektion ist unbequem – gerade für eine Branche, die sich über Narrative verkauft: Vieles von dem, was heute als historisch alternativlos erscheint, wird morgen nur noch Fußnote sein. Imperiale Plattformen sind keine Naturgewalt, sie sind Momentaufnahme.
Zwischen Affen, Analysten und Algorithmen
Kahnemans zweite Zumutung betrifft die Zukunft. In empirischen Vergleichen schneiden Affen, die blind Dartpfeile auf Kurslisten werfen, bei Börsenprognosen oft nicht schlechter ab als professionelle Analysten. Der Unterschied liegt nicht in der Trefferquote, sondern in der Erzählung: Der Experte liefert eine Geschichte, der Affe nicht.
Übertragen auf die Plattformwelt entsteht eine neue Priesterkaste: Deuter des Algorithmus, die im Wochentakt erklären, was der „richtige“ Content sei, welche Länge, welche Uhrzeit, welches Format. Kaum sind die Regeln verstanden, hat die Plattform sie bereits verändert. Das System bleibt volatil, die Deutungshoheit stabil.
Die politische Konsequenz: Wer seine Kommunikationsstrategie ausschließlich an diesen flackernden Vorgaben ausrichtet, übergibt seine publizistische Existenz an ein Rauschen – an eine Konfiguration von Parametern, die er weder kontrolliert noch versteht.
Die BloggerCamp-Session hat diese Asymmetrie deutlich gemacht: Auf der einen Seite die Faszination für Reichweite, Wachstum, Ranking. Auf der anderen Seite die Einsicht, dass genau diese Faszination die Abhängigkeit von privaten Imperien stabilisiert – und damit jene Machtbasis, an der sich die Kritik eigentlich abarbeiten wollte.
Der Parasit als Bürgerrolle
Hier tritt Michel Serres in den Vordergrund. In Der Parasit beschreibt er den Störer als Schlüsselfigur politischer und sozialer Veränderung: biologisch, sozial, kommunikativ. Der Parasit sucht sich einen Wirt, er lebt von dessen Ressourcen – und zwingt ihn gerade dadurch zur Anpassung. Er ist das Rauschen in der Leitung, das Knistern im Radio, die unerwartete Unterbrechung eines scheinbar geschlossenen Systems.
Auf die digitale Gegenwart angewandt, bedeutet das: Wer Plattformen nutzt, ohne sich ihnen auszuliefern, verhält sich parasitär im konstruktiven Sinn. Er akzeptiert die Infrastruktur, aber nicht die Totalität. Er lässt sich finden, ohne sich auf die Logik des Feeds zu reduzieren.
In der Session wurde diese Figur auf Blogs, Newsletter und selbst verwaltete Archive übertragen: – Texte, die zu lang, zu komplex, zu widersprüchlich für den standardisierten Social-Media-Stream sind. – Publikationen, die asynchron funktionieren, die nicht im Stakkatotakt des Messengers antworten müssen. – Eigene Speicher, physisch oder digital, die dem Zugriff wechselnder Plattformbetreiber entzogen sind.
Der Parasit in dieser Lesart ist nicht der Trittbrettfahrer, sondern der Bürger, der sich weigert, seine politische und publizistische Existenz vollständig in die Hände weniger Konzerne zu legen.
Moralische Maximalforderungen und digitale Wirklichkeit
Besonders heikel wurde es, als in der Diskussion die Frage aufkam, ob man sich konsequenterweise von allen problematischen Plattformen zurückziehen müsse: Wer X verlässt, müsste dann nicht auch Meta meiden, Amazon, TikTok, Google, Microsoft? Und was bedeutet das für Institutionen, die nicht nur sich selbst, sondern ein Gemeinwesen repräsentieren – Regierungen, Parlamente, Behörden?
Hier trat eine eigentümliche Zerrissenheit zutage: Der Rückzug aus toxischen Räumen ist psychologisch plausibel und individuell oft notwendig. Politisch jedoch entsteht eine Leerstelle, wenn demokratische Akteure die großen öffentlichen Plätze allein jenen überlassen, die man als Gegner bezeichnet.
Die Session verweigerte sich einfachen Antworten: Weder wurde ein kollektiver Exodus ausgerufen, noch das zynische „Weiter so“ verteidigt. Stattdessen rückte ein anderer Maßstab in den Mittelpunkt: Es reicht nicht, zu zählen, wo man aktiv ist. Entscheidend ist, wo die eigene publizistische Identität verankert wird.
Wer seine Texte, Analysen, Recherchen zuerst im eigenen Haus veröffentlicht und erst danach in fremde Feeds einspeist, verhält sich grundsätzlich anders als jemand, der seine politische Existenz vollständig an den Launen privater Plattformen festmacht.
Blog first
„Blog first, Plattform später“ – so lässt sich die Praxis zusammenfassen, die in der Session beschrieben wurde: Das Blog als Bahnhof, die Plattformen als Bahnsteige, über die die Züge nur kurz rollen. Dieser Satz ist weniger Nostalgie als politisches Programm. pdfVortragGunnarBloggerCamp
Ein solches Selbstverständnis verändert auch den Blick auf Initiativen wie Safe Social oder Fediverse-Projekte: Sie sind wichtig, aber sie sind nicht der Ort, an dem letztgültig entschieden wird, ob eine Gesellschaft ihre Erinnerung, ihre Konflikte, ihre Debatten in privater Hand belässt oder selbst verwaltete Räume behauptet.
Die eigentliche Zumutung der BloggerCamp-Session bestand darin, diese Verantwortung nicht an Regulierer, nicht an Aktivistengruppen, nicht an Tech-Eliten zu delegieren, sondern sie den Schreibenden selbst zuzuschieben: Journalistinnen, Bloggern, Wissenschaftlern, Politikerinnen.
Wer schreibt, entscheidet, wem er sein Gedächtnis anvertraut.
Ein leiser Auftrag an die Politik
Zum Ende der Diskussion rückte noch ein anderer Gedanke ins Zentrum: Die Bundeskanzler, Minister und Parteivorsitzenden dieser Republik verfügen fast alle über professionell gepflegte Social-Media-Kanäle. Was vielen von ihnen fehlt, ist etwas viel Einfacheres: ein eigener publizistischer Ort. Ein Blog, ein Archiv, ein Raum, in dem politische Texte zuerst erscheinen – und erst anschließend kopiert, zitiert, geteilt werden.
Es ist kein Zufall, dass dieser Gedanke auf einem BloggerCamp formuliert wurde, einem Treffen von Menschen, die seit Jahrzehnten digitale Öffentlichkeit nicht als Dienstleistung, sondern als eigene Arbeit begreifen.
Wenn man eine Lehre aus dieser Session ziehen will, dann vielleicht diese: Die großen Plattformimperien sind fragiler, als sie erscheinen. Ihre Macht speist sich nicht zuletzt aus der Bequemlichkeit jener, die sich von ihnen tragen lassen. Wer publiziert – ob als Privatperson oder als staatliche Institution –, hat die Wahl: Wirt werden, der sich ausliefern lässt. Oder Parasit im besten Sinn, der die Infrastruktur nutzt, ohne die eigene Souveränität preiszugeben.
Im Jahr 2040 wird kaum noch jemand darüber sprechen, welche Nutzerzahlen X im Winter 2025 hatte. Aber es wird – im besten Fall – noch Texte geben, Akten, Blogs, Archive, in denen nachzulesen ist, wie wir über Öffentlichkeit, Macht und Verantwortung gesprochen haben.
Ob diese Dokumente dann auf Servern privater Imperien liegen oder in Räumen, die wir selbst kontrollieren – das ist keine technische, sondern eine politische Frage.
Ich wohnte im 12. Stock, Fritz-Erler-Allee 16. Wer von dort nach unten fährt, fährt nicht nur Etagen, sondern Welten. Oben: Flurlicht, Klingelschilder, der Wind, der am Hochhaus anders klingt, weil er nichts zu streifen hat außer Beton. Unten: die Schlaufen der Wege, der Geruch von nassem Gras, die Stimmen, die zwischen Häusern hängen bleiben. Der Aufzug war mein Grenzposten. Unten begann meine Freiheit.
Das Wort Schlüsselkind ist später zum Begriff geworden, der in Ratgebern und Statistiken aufgeführt wurde. Für mich war es ein Gewicht in der Tasche, Metall gegen Stoff, das Versprechen: Du kannst rein. Und du kannst raus. Es ist erstaunlich, wie viel Lebensgefühl in einem Schlüssel steckt, wenn er nicht nur Wohnungsschlüssel ist, sondern eine Art Lizenz für Streifzüge.
Das kleine Wäldchen als Kontinent
Das kleine Wäldchen im Grüngürtel von Britz-Süd war kein Wald im Maßstab der Landkarten, eher ein Fleck, ein dichteres Grün zwischen Wegen. Aber in der Wahrnehmung eines Kindes gilt nicht die Quadratmeterzahl, sondern das Versprechen.Bäume, Unterholz, ein Böschungen – und schon entsteht Topografie: Deckung, Grenze, Aussicht, Rückzugsraum.
Von oben, aus dem 12. Stock, sah man die Stadt wie eine Anordnung. Unten war sie keine Anordnung mehr, sondern Material. Das Wäldchen war dabei mein großer Übersetzer. Es verwandelte Beton in Abenteuer. Es machte aus der Nähe zur Straße keinen Makel, sondern eine zusätzliche Spannung: Zivilisation ganz nah, Wildnis trotzdem möglich. Das ist vielleicht die eigentliche Magie der Stadtnatur: Sie ist nicht „unberührt“, aber sie ist erreichbar.
Höhlen, Hütten und das Handwerk der Fantasie
Wir bauten Höhlen, die keine waren, und Hütten, die auf jeder Statikvorlesung scheitern würden – und gerade deshalb funktionierten. Eine Plane, ein Brett, ein paar Äste: Es reichte, solange es unser Werk war. Wer baut, verankert sich. Wer sich verankert, ist nicht nur Gast in der Welt, sondern Mitgestalter.
Die Höhle – oft nur ein ausgehöhlter Rand, eine Mulde, eine dichte Kuppel aus Gestrüpp – hatte etwas Absolutes: Drinnen war drinnen. Draußen war draußen. Diese klare Grenze ist eine Wohltat, wenn man als Kind zwischen Erwachsenenlogik und eigenem Kosmos pendelt.
Die Baumhütte war die ehrgeizigere Version dieser Grenze: höher, gefährlicher, prestigeträchtiger. Wer oben saß, hatte nicht nur Überblick, sondern eine Erzählposition. Von dort konnte man beobachten, ohne gesehen zu werden. Beobachtung war ohnehin ein eigenes Fach: Wie lange bleibt jemand auf dem Weg? Wer kommt wieder? Wer biegt ab? Schon in solchen Fragen liegt eine frühe Schule des Weltlesens.
Lagerfeuer und Grenzerfahrungen
Dann das Feuer. Klein, heimlich, mehr Glut als Flamme. Feuer ist ein Zentrum, egal wie groß es ist. Es zieht an, ordnet die Gruppe, macht aus herumstreunenden Einzelgängern eine Runde. In dieser Runde entstehen Sätze, die man sonst nicht sagen würde: Prahlerei, Bekenntnis, Schweigen. Das Knistern ist dabei nicht nur Geräusch, sondern eine Art Zustimmung.
Und ja: Es gab Experimente, die heute in jeder Erinnerung den Warnhinweis mitführen. Schwarzpulver war so ein Stoff, der in Kinderhänden zur Idee wird: Verbotenes als Abkürzung ins Große. Ich erzähle das nicht als Rezept, sondern als Zeitkolorit: Die Grenzen waren weniger beschriftet, und man lernte sie oft dadurch, dass man sie kurz berührte. Pädagogik ohne Lehrplan.
Die Weihnachtszeit als Fernseh-Lager
Zur Weihnachtszeit kam dann der andere große Ort: das Wohnzimmer, das sich in ein Lager verwandelte, sobald das ZDF diese epischen Vierteiler ausrollte. Lederstrumpf mit Hellmut Lange – ein Fixstern. Der Fernseher wurde zum Lagerfeuer, nur ohne Rauch in der Jacke.
Ich schaute das nicht wie „Kultur“, sondern wie Fortsetzung meines Nachmittags. Die Bilder: Wälder, Flüsse, Forts. Die Figuren: Nathaniel „Nat“ Bumppo, Chingachgook, Uncas – Namen, die wie Passwörter klangen. Diese Welt war weiter als Britz-Süd und doch kompatibel mit ihm. Das ist vielleicht der Grund, warum solche Mehrteiler zu Straßenfegern wurden: Sie boten eine Weite, die man gemeinsam betreten konnte, ohne das Haus zu verlassen.
Dass Walter Ulbrich in den 1960er Jahren auf internationale Koproduktionen setzte, gehört zur Entstehungslegende dieser Fernsehzeit. Für mich war entscheidender, was dabei herauskam: ein Rhythmus des Erzählens, der Geduld verlangte und Geduld belohnte. Vier Teile, lange Wege, Verluste, Loyalität, Verrat – das waren keine Häppchen, das war eine Welt.
Was bleibt
Wenn ich heute an dieses kleine Wäldchen denke, denke ich nicht zuerst an Romantik. Ich denke an Maßstäbe. Das Wäldchen war klein – und ich war groß darin. Der 12. Stock war hoch – und unten war die eigentliche Höhe: die Möglichkeit, für ein paar Stunden nicht funktionierende Figur in einem Erwachsenenstück zu sein, sondern Hauptdarsteller im eigenen Gelände.
Vielleicht ist das die heimliche Pointe solcher Kindheitsorte: Sie werden nicht dadurch groß, dass sie groß sind, sondern dadurch, dass sie uns groß machen. Und jedes Mal, wenn zur Weihnachtszeit Lederstrumpf wieder aus dem Wald tritt, ist da für einen Moment die alte Logik wieder da: Freigeistigkeit.
Paris ist eine Stadt, die einem nie einfach nur begegnet. Paris tritt auf. Es spielt eine Rolle, und zwar so lange, bis man vergisst, dass man selbst längst eine Nebenfigur geworden ist. Genau an dieser Schwelle – dort, wo die Stadt die Regie übernimmt und der Besucher unmerklich zum Statisten der eigenen Sehnsucht wird – beginnen die „Pariser Abende“ von Roland Barthes: als Protokoll eines Lebens in Zonen, als Choreografie aus Wegen, Menüs, Blicken, Rückzügen und jener nervösen Wachheit, die man spürt, wenn man allein in einem Café sitzt und sich plötzlich wünscht, niemand möge einen ansprechen.
Und dann ist da dieses Zeichen: ein großes goldenes B auf dunkelrotem Grund, seit dem neunzehnten Jahrhundert wie ein Siegel in die Stadt gedrückt. Die Brasserie Bofinger, kaum hundert Meter von der Place de la Bastille entfernt, ist weniger Restaurant als Zeitmaschine, weniger Lokal als Kulisse, in der die Gegenwart nur geduldet wird, solange sie sich benimmt. In diesem Raum, so heißt es, habe Barthes sich „am wohlsten“ gefühlt – nicht bei Einladungen in Wohnungen, nicht im „ernsten“ Restaurantgespräch, sondern in der Brasserie als Institution, in der Unterhaltungen weder seicht noch verkrampft wirken, sondern getragen werden von Spiegeln, Lampen, schwerem Weiß der Tischdecken und dem gedämpften Glanz einer Vergangenheit, die sich wie ein Parfüm in jede Geste legt.
Wer auf seinen Spuren unterwegs ist, merkt schnell: Man läuft nicht zu einem Ort, man läuft in eine Atmosphäre hinein. Du hast das getan – vor Jahren, sagst du – und du musstest nur die Tür aufdrücken, um zu verstehen, was Barthes anzieht: diese fast unverschämte Behauptung, dass ein Raum mächtiger sein kann als ein Thema. Ein Kellner fragt nach dem Platz, nicht nach dem Namen. Eckplatz hinten, Nähe der Kuppel. Fenster, Mitte, Rand. Schon die Sitzordnung wird zur Weltanschauung.
Die Bastille: Freiheit als Verkehrsknoten
Draußen ist die Bastille ein Kreisel: Autos, Mopeds, das nervöse Glitzern der Laternen, die Stadt im Modus „Weiter“. Drinnen, bei Bofinger, macht Paris das Gegenteil: Es wird still, als hätte jemand die Uhr vom Strom genommen. In deinen Bildern sieht man das: das warme Gold des Innenraums, die schweren Polster, die Blumen über den Spiegeln, das Licht, das nicht beleuchtet, sondern beschwört. Und dann dieses Spektakel, das in Paris nie nur Speise ist, sondern immer auch Szene: ein Topf, ein Metallgestell, Flammen, die plötzlich hochschlagen wie eine spontane Opernarie; daneben ein Arrangement aus Fleisch, Kraut, Würsten – ein kleines elsässisches Drama auf weißer Bühne.
Barthes hätte an solchen Abenden wohl gelächelt, nicht weil es „rustikal“ ist, sondern weil es so präzise zeigt, wie Kultur funktioniert: Nicht das Gericht zählt, sondern die Verknüpfung. Bofinger ist Elsass in Paris – Biergeschichte und Austernplatte, Champagner und Sauerkraut, Meer und Binnenland, Herkunftslinien und Gegenwartslärm. Im Text wird daraus eine fast genealogische Idee: Die Speisekarte als Stammbaum, die Brasserie als Ursprungskammer, in der sich „Abstammungslinien“ berühren – der Südwesten und der Osten, das Maritime und das Krautige.
Und während man da sitzt, passiert etwas, das heute fast subversiv wirkt: Man tut – nichts. Keine Musik als Dauerberieselung, keine Zeitschriften als Alibi, kein Display als Fluchtweg. Der Raum duldet keine konkurrierenden Welten. Er verlangt Teilnahme: Blick, Geduld, leises Sprechen, dieses diskrete Einverständnis, dass der Abend nicht optimiert werden muss.
Die Pariser Abende als Algorithmus – nur ohne Gerät
Was Barthes in seinen Notaten macht, wirkt wie ein Gegenentwurf zur Gegenwart: ein Feed, der nicht von Maschinen sortiert wird, sondern von Empfindlichkeiten. Café Flore: Le Monde, Métro, ein Gitarrenspieler, die lästige Moral der Sammlung; Strasbourg–Saint-Denis, ein Saxophon; rue Saint-Denis, so viele Prostituierte, dass Flanieren sofort eine zweite Bedeutung bekommt; ein Hotel mit dem Namen Royal-Aboukir – „welcher Name!“ – und plötzlich wird aus einer Ecke Paris ein verkleinertes New York, melancholisch, trostlos, filmreif.
Das sind keine Anekdoten. Das ist Theorie in Zivil. Barthes zeigt, dass die Stadt nicht nur Kulisse ist, sondern ein System aus Zeichen, das dich liest, während du glaubst, du würdest es betrachten. Und er zeigt etwas, das uns heute in die Kehle fährt: Wie schnell sich der Mensch selbst zum Objekt einer Szene macht, sobald Erotik, Gefahr oder Erwartung ins Spiel kommen. Da ist diese Unruhe, dieses „Schlingern“ zwischen klaren Phasen – Entrée, Menü, Rückkehr – und dazwischen die Zonen des Schweifens, der Irritation, der libidinösen Neugier, die nicht romantisch verklärt wird, sondern als Energie beschrieben, die zugleich beunruhigt und belebt.
Man liest das – und denkt unweigerlich an unsere Gegenwart, in der jede Unruhe sofort wieder eingesammelt wird: als Nachricht, als Story, als Status, als kleiner Beweis, dass man existiert. Barthes dagegen protokolliert die Existenz dort, wo sie sich nicht ausstellen lässt: in der Verlegenheit eines zufälligen Gesprächs, im Ekel eines stinkenden Taxis, in der Rührung über die spontane Freude eines Freundes, in der stillen Frage im Bett: „Und wenn die Modernen nun unrecht hätten?“
Bofinger als Schutzraum der Zeit
Vielleicht ist das die eigentliche Pointe deiner Reise auf Barthes’ Spuren: Du gehst ins Bofinger, weil es sein Lieblingslokal war – und landest in einem Raum, der dich zwingt, dich selbst zu lesen. Nicht mit Pathos, eher wie in einem Spiegel, der einen nicht schöner macht, sondern genauer.
Im Text entsteht aus Wein ein „Textzugriff“: Nach zwei, drei Schlucken beginnt etwas zu schreiben, ganz von allein – Listen, Neigungen, Abneigungen, kindlich, verspielt, wie ein Frage-Antwort-Spiel, das plötzlich die Großeltern heraufbeschwört. „Ich liebe, ich liebe nicht“ – nicht als Lifestyle, sondern als Methode: eine Art Inventur des Körpers, eine Selbstbeschreibung, die sich nicht auf große Bekenntnisse stützt, sondern auf kleine, scharf umrissene Vorlieben.
Und genau hier wird Bofinger politisch, ohne ein einziges politisches Schlagwort zu brauchen. Denn was ist radikaler als ein Ort, der dich aus der Gegenwartshektik herauszieht und dir, ganz altmodisch, Zeit zum Denken abverlangt? Was ist anstößiger als ein Abend, der sich nicht rechtfertigt, nicht „Content“ sein will, nicht einmal besonders „erzählt“ werden muss – weil er schon als Atmosphäre genügt?
Du hast diese Spannung in deinen Bildern eingefangen: draußen die Straße, die Lichterketten, das Hotel-Schild, die Bastille-Nähe – Paris als Bühne. Drinnen ein Tisch, Freunde, ein Glas Rotwein, eine hohe Wasserflasche, ein Moment, der sich nicht beschleunigen lässt, weil er bereits vollständig ist. Und später die Bastille-Säule, blau leuchtend wie ein kaltes Ausrufezeichen in der Nacht: Freiheit, die in Paris immer auch Beleuchtung ist – Symboltechnik im Stadtraum.
Warum Barthes’ Abende heute wieder brennen
Weil sie zeigen, was uns verloren geht, wenn alles sofort Bedeutung haben muss. Barthes’ Abende sind nicht „Erlebnisse“, die man konsumiert, sondern Zustände, in denen man sich aussetzt: dem Zufall, der Erinnerung, der kleinen Demütigung, der kleinen Beglückung. Sie sind eine Schule des Unaufgeregten – und damit, in einer Zeit der Daueraufregung, ein stiller Angriff.
Und vielleicht ist das der Grund, warum ausgerechnet eine Brasserie mit einem großen goldenen B so wichtig wird: Sie ist ein Monument des Nicht-Neuen. Ein Ort, der nicht vorgibt, aktuell zu sein, und gerade dadurch eine Gegenwart eröffnet, die tiefer reicht als Nachrichten: die Gegenwart des eigenen Blicks, der eigenen Empfindlichkeit, der eigenen unvermeidlichen Fragen.
Am Ende steht man wieder draußen, irgendwo zwischen Bastille-Verkehr und Nachtluft, und man begreift: Auf Barthes’ Spuren zu gehen heißt nicht, Orte abzuhaken. Es heißt, sich in eine Weise des Lebens zu begeben, die sich nicht optimiert. Man verlässt das Bofinger nicht satt, sondern wacher – als hätte der Abend, für ein paar Stunden, den Lärm der Zeit zurückgedrängt und Platz gemacht für etwas Seltenes: für das genaue, unmodische Vergnügen, wirklich da zu sein.
Steffen Voß schreibt über ein Detail, das in WordPress-Ecken gern als „Plugin-Kleinkram“ abgetan wird – und zeigt, warum genau diese Kleinigkeiten darüber entscheiden, ob das Fediverse als offenes Netz funktioniert oder als bloßes Twitter-Ersatztheater endet. Sein Text ist weniger Empörung als Übersetzungsarbeit: Er nimmt eine technische Änderung (die Abkündigung der bisherigen Einstellmöglichkeit, wie Posts auf Mastodon erscheinen) und legt sie so aus, dass sie plötzlich wie das wirkt, was sie im Kern ist: eine Reifung des Protokoll-Denkens.
Was Voß richtig gut macht: Er verwandelt Frust in Verständnis
Der Ausgangspunkt ist klassisch: „Früher konnte ich einstellen, wie es aussieht – jetzt nicht mehr.“ Genau an dieser Stelle kippen viele Texte ins Nostalgische oder ins Misstrauische („Entwickler nehmen uns Kontrolle weg“). Voß geht den anderen Weg: Er fragt nach, hört zu, und baut aus der Antwort eine kleine Argumentationsbrücke, die auch Nicht-Nerds tragen kann.
Das ist nicht nur nett, das ist zentral – denn ActivityPub ist nicht „ein weiteres Teilen-Feature“, sondern ein Protokoll, das dezentrale Interaktion ermöglicht. Genau so beschreibt es auch die Spezifikation: ActivityPub ist ein dezentraler Standard für soziale Netzwerke, der Zustellung und Interaktion zwischen unabhängigen Systemen regelt.
Die Pointe der Abkündigung: Nicht „weniger“, sondern „richtiger“
Matthias Pfefferles Begründung – so wie Voß sie paraphrasiert – zielt auf ein Prinzip, das man im offenen Web immer wieder lernen muss: Der Publisher liefert möglichst gute Informationen; die empfangende Plattform entscheidet über die Darstellung. Das ist ein Bruch mit der Crossposting-Denke („Ich bestimme, wie es überall aussieht“) – und zugleich die Voraussetzung dafür, dass unterschiedliche Clients (Mastodon, Friendica, Pixelfed usw.) ihre Stärken ausspielen können.
Dass das kein bloßes Ideal ist, sieht man sogar in der Entwicklung des Plugins selbst: Im Changelog wird explizit beschrieben, dass ActivityPub inzwischen standardmäßig eine automatisierte Objekttyp-Auswahl nutzt und die frühere manuelle Variante nur noch als Kompatibilitäts-Option in „Advanced“ weiterlebt. Das ist ziemlich genau die Bewegung, die Voß’ Text erklärt: weg vom „Template-Tuning“ hin zu mehr semantischer Korrektheit.
„Das ist kein Crossposting“ – der wichtigste Satz im ganzen Stück
Voß trifft einen Nerv, wenn er den häufigsten Denkfehler anspricht: Viele halten ActivityPub für eine raffiniertere Tweet-Schleuder. Tatsächlich wird das Blog mit Plugin zu einem Account im Fediverse – inklusive Follow-Beziehung, Timeline-Ausspielung und Rückkanal. Genau so wird es auch in der offiziellen Plugin-Beschreibung formuliert: Ein WordPress-Blog fungiert als föderiertes Profil, dem man folgen kann; Autoren können eigene Profile haben.
Und mehr noch: Replies aus dem Fediverse landen als Kommentare im Blog – die „Reaktionen“ bleiben am Ursprungstext kleben. Das beschreibt auch Pfefferle selbst in einem WordPress.com-Kontext als zentrales Versprechen: Antworten von Fediverse-Plattformen werden zu WordPress-Kommentaren und erzeugen eine synchronisierte Diskussion.
Voß formuliert daraus einen kulturellen Gewinn: Die Leserschaft verteilt sich, die Konversation sammelt sich.
Der unterschätzte Hebel: Post-Formate als Signal, nicht als Deko
Ein besonders starker Abschnitt ist der über WordPress-„Formate“ (Link, Status, Audio …). Voß zeigt: Das ist nicht Kosmetik, sondern ein maschinenlesbares Signal, das ActivityPub in unterschiedliche Objektformen übersetzen kann – was dann wieder Clients nutzen können (z. B. Audio-Player in Mastodon-Apps, wenn ein Beitrag als Audio rausgeht). Diese Perspektive ist Gold wert, weil sie den Blick von „Wie sieht’s aus?“ auf „Was ist es?“ verschiebt. Genau dort beginnt Protokoll-Intelligenz.
Bisher konnte man im ActivityPub-Plugin für WordPress immer einstellen, wie die Posts bspw. bei Mastodon angezeigt werden. Dieses Features ist jetzt abgekündigt und der Plugin-Entwickler Matthias Pfefferle (@pfefferle) hat mir in seiner öffentlichen Sprechstunde am Freitag erklärt, wieso das so ist.
Es ist so cool: Mit dem ActivityPub-Plugin wird die eigene WordPress-Website Teil des Fediverse. Alle Beiträge sind automatisch auch in den Timelines von Followern bei Mastodon, Friendica oder Pixelfed. Viele Menschen verstehen nicht gleich, dass das kein automatisches Crossposting ist, wie man es von Twitter kennt. Das Blog ist einfach ein weiterer Service im Fediverse.
Man kann die Blogposts bei WordPress in verschiedener Art darstellen: So, wie es auf dem großen Bildschirm am Desktop-PC aussieht. So klein, wie es auf einem Tablet oder Smartphone aussieht. Es gibt den RSS-Feed, den man mit dem Feedreader abonnieren kann. Und jetzt gibt es mit dem ActivityPub-Plugin noch den ActivityPub-Feed, den man bspw. mit seinem Mastodon-Account abonnieren kann, als wäre es ein anderer Mastodon-Account.
Das hat beispielsweise den Vorteil für mich als Blogger, dass Änderungen an alle ausgespielt werden, wenn ich an meinem Blogartikel nachträglich noch etwas ändere. Außerdem bekomme ich mit, wenn Leute meinen Blogartikel liken, teilen oder kommentieren. Die Kommentare landen automatisch unter meinem Blog-Artikel.
Option: „Activity-Objekttyp“?
Was aber macht nun diese erweiterte Einstellung zum „Activity-Objekttyp“? Dort steht als Erklärung:
„Verwende Template-Schlagwörter, statt das Plugin für dich das beste mögliche Format auswählen zu lassen. Dient primär der Abwärtskompatibilität. Es wird aber nicht empfohlen, die Template-Schlagwörter zu benutzen, weil sie in künftigen Versionen möglicherweise nicht mehr unterstützt werden.“
Ich habe das nicht verstanden und Matthias danach gefragt. Ich benutze das Plugin schon sehr lange und ich kannte diese Einstellungen, bei denen man festlegen kann, wie ein Blogpost bei Mastodon angezeigt wird. Ich hatte für mich immer eingestellt: Überschrift, Anreißer, Link zum Artikel und das Artikelbild. So sah es für mich am besten aus. Denn wenn man damals die automatische Option gewählt hat, hat Mastodon einfach den kompletten Artikel dargestellt. Aber hässlich. Weil Mastodon fast keine Formatierungen kennt, fehlten Zitat-Hervorhebungen, Zwischenüberschriften usw.
Matthias hat mir erklärt, dass sein Ziel ist, dass sein Plugin jeder Plattform möglichst viele Informationen zur Verfügung stellt und dann soll die externe Software entscheiden, wie das für ihre User am besten aussieht. Mastodon soll also entscheiden, wie ein WordPress-Blogpost am besten aussieht. Das hat sich inzwischen geändert. Wenn man sich – wie Matthias empfiehlt – auf die neue Standard-Einstellung verlässt, dann zeigt Mastodon nicht mehr den kompletten Artikel an, sondern Überschrift, Anreißer, Link – und den dann mit einer Vorschau. Also im Prinzip so, wie ich mir das auch überlegt hatte.
Friendica bspw. kann komplexere Formatierungen darstellen. Wer meinem Blog mit seinem Friendica-Account folgt, kann den kompletten Artikel in seiner Timeline lesen. Keine Ahnung, wie das dann genau aussieht. Aber das muss Friendica und seine Nutzerschaft wissen.
Den ganzen Artikel auf Mastodon?
Will man eigentlich, dass der eigene Artikel komplett in der Mastodon- oder Friendica-App zu lesen ist? Martin Thielecke (@mthie) hat neulich eine kleine Diskussion darüber gestartet, dass Leute auch im Fediverse nicht auf Links klicken. Warum sollte ich meinen ganzen, schönen, selbst geschriebenen Artikel in ein Soziales Netzwerk kippen?
Diesen Impuls hatte ich auch ursprünglich. Mit der Website des Barcamps Kiel habe ich einmal ausprobiert, wie das so ist, wenn man das macht. Die Inhalte da, waren mir nicht ganz so wichtig, wie die in meinem eigenen Blog. Mein Fazit: Das ist schon cool, weil es eben nicht die kommerzielle Plattform eines Milliardärs ist und die Inhalte weiterhin in meinem Blog sind. Das ist kein LinkedIn-Artikel. Das ist weiterhin ein Blog-Post in meinem Blog – er erreicht aber auch noch einmal Leute, die mir per Mastodon o.ä. folgen. Die Leute können den Beitrag likes, teilen, kommentieren und diese Reaktionen werden in meinem Blog gesammelt. Es bleibt alles an einem Ort, auch wenn die Leserschaft verteilt ist.
Die Feineinstellungen
Ein Feature, das ich in WordPress bisher komplett ignoriert habe, sind die Formate. Wenn Du einen neuen Artikel anlegst, hast Du rechts diesen Blog mit den Grundeinstellungen: Beitragsbild, Veröffentlichungsdatum, Autor usw. Da gibt es auch die Option „Format“ und dort kann man Links, Status, Video, Bild usw. auswählen.
Matthias hat mir erklärt, je nachdem was ich hier auswähle, schickt ActivityPub das in einem anderen Format raus und Mastodon, Friendica usw. können entscheiden, wie das am besten dargestellt wird. Postet man bspw. eine Podcast-Folge und wählt als Format „Audio“, dann kann Mastodon das mit einem eingebetteten Audio-Player anzeigen und deine Follower könne die neueste Folge direkt aus der Mastodon-App hören.
Ich glaube, wir kratzen bisher nur an der Oberfläche dessen, was man mit ActivityPub als Protokoll erreichen kann. Wir haben immer noch nicht ganz verstanden, dass das kein Crossposting ist und dass wir unsere Texte nicht hergeben, wenn die Menschen sie in ihrer App lesen.
Es bleibt nur der Nachteil, dass man die Lesenden nicht wirklich auf das eigene Blog holt. Sie sehen das eigene, wunderschöne Layout nicht. So werde nicht von der Statistik gezählt. Aber nun ja – wenn das der Preis ist für eine breitete Leserschaft, dann könnte es das wert sein.
Mich hat Matthias überzeugt. Ich habe die Legacy-Einstellung ausgeschaltet und verlasse mich ab sofort darauf, dass er und die anderen Entwickler da eine bessere Lösung finden, als ich das tun könnte.
Danke, Matthias Pfefferle und André Menrath (@linos) für die super Sprechstunde. Über das, was wir mit André zu Event-Plugins und dem Fediverse besprochen haben, müsste ich eigentlich auch noch etwas schreiben…
Wir stellen den Baum auf, als würden wir der Welt für ein paar Stunden Hausverbot erteilen. Lichterkette an, Kugeln dran, der Stern hängt schief – und genau deshalb wirkt es echt. Wir lachen über Kleinigkeiten, essen „nur mal“ einen Keks zu viel und merken: Heiterkeit ist keine Flucht, sondern ein kurzer Sieg über den Dezember.
Dann wird der Abend leiser, ohne dass er kaputtgeht. Ein „Weißt du noch…“ reicht, und die Vergangenheit sitzt mit am Tisch. Nicht als Drama, eher als Tonartwechsel. Die Kerzen brennen, das Wachs läuft, das Jahr zeigt seine Kanten. Und trotzdem bleibt da dieses warme, widerspenstige Gefühl: Wir sind noch da. Wir sind beieinander.
Später, wenn die Tür zu ist, stehen wir kurz vor dem Baum. Eine Kugel spiegelt uns verzerrt – müde, aber standhaft. Wir räumen nicht sofort auf. Wir lassen das Fest noch ein paar Minuten nachklingen, damit die Dunkelheit nicht so tut, als hätte sie gewonnen.
Es gibt Begriffe, die man nicht leichtfertig benutzen sollte: Faschismus gehört dazu. In den Kommentarspalten der Tech-Debatte fällt das Wort inzwischen erstaunlich schnell: faschistische Tech-Oligarchen im Silicon Valley, faschistoide Plattformregime, digitale Lagerlogik. Es klingt radikal, es wirkt engagiert – und verfehlt doch das Wesentliche.
Was Faschismus wirklich bedeutet, steht in der Krankenakte meines Großvaters Wilhelm Sohn. Er kam ins Konzentrationslager Dachau, ein Vernichtungsort, nicht eine Metapher. In seiner Patientenakte taucht die Diagnose Taboparalyse auf – eine Spätfolge der Syphilis, die zu schweren neurologischen Schäden, Koordinationsstörungen, Schmerzen und schließlich Lähmung führt. Ausgestellt von einem Nazi-Arzt, um die Deportation meines Großvater in eine Versuchsanstalt in der Nähe von Koblenz vorzubereiten.
Die Verbindung zu Dachau ist kein medizinischer Zufall, sondern politischer Kontext: Häftlinge wurden dort für „Experimente“ missbraucht – Höhen- und Kälteversuche, Malaria, Medikamententests. Krankheiten wurden herbeigeführt oder bewusst nicht behandelt, um Verläufe zu studieren. Unterernährung, Typhus, systematische Gewalt erledigten den Rest.
Das ist Faschismus: die kalkulierte Vernichtung von Menschen, administriert, dokumentiert, medizinisch gerahmt. Wer heute jedes aggressive Geschäftsmodell, jede zynische Plattformentscheidung mit demselben Wort belegt, betreibt eine Form von sprachlichem Relativismus, die gerade in digitalen Milieus gern als moralische Schärfe verkauft wird.
Es gibt andere Begriffe für das, was die Tech-Industrie treibt: Oligarchie, Infrastrukturmacht, imperiales Geschäftsmodell. Sie sind nüchterner – und vielleicht deshalb politisch brauchbarer.
Der Plattformkaiser im Technopelz
Stellen wir uns eine Figur vor, die viele vor Augen haben, wenn sie an das Plattformzeitalter denken: einen Plattformkaiser im Technopelz. Ein Mann, der Raketen baut, Elektroautos, Satellitennetze; der ein soziales Netzwerk kauft, es zerlegt, neu zusammensetzt, dabei permanent provoziert und sich als radikaler Störenfried inszeniert.
Und dann erklärt ausgerechnet diese Figur der Welt den Begriff „Parasit“. Der Parasit, so die Botschaft, sei der, der sich festsetze, ohne zu erobern – der Schmarotzer, der mitnimmt, statt zu schaffen. Auf der einen Seite die heroischen Unternehmer, auf der anderen die angeblich abhängigen Gesellschaften, Medien, „Eliten“.
Ironisch daran ist weniger die Selbstmythologisierung als der ökonomische Unterbau: Ein erheblicher Teil dieses Imperiums lebt von Infrastrukturen, die andere bezahlt haben – staatliche Raumfahrtprogramme, Subventionen, regulatorische Rücksichtnahmen. Der Mann, der andere Parasiten nennt, hängt selbst tief in öffentlichen Leitungen.
Genau an dieser Stelle lohnt es, den Begriff umzudrehen – nicht als moralische Keule, sondern als analytisches Werkzeug.
Imperien rotieren – die Top-10 als Memento Mori
Bevor wir über Parasiten reden, lohnt ein Blick auf die Wirte. Wenn man sich anschaut, welche Unternehmen in den vergangenen Jahrzehnten den Status „wertvollste Firma der Welt“ erreicht haben, zeigt sich eine merkwürdig beruhigende Grausamkeit der Märkte.
Anfang der 1990er Jahre stehen Namen wie NTT, IBM, Exxon, Industrial Bank of Japan, Sumitomo Bank an der Spitze – Telekommunikation, Öl, Großbanken. Mitte der 2000er tauchen andere Ölkonzerne auf, neue Finanzriesen, erste Tech-Giganten. Um 2020 dominieren Microsoft, Apple, Alphabet, Amazon und Saudi Aramco die Rankingtabellen.
Es ist nicht nur eine Verschiebung der Logos, sondern ein Rotationssystem: Etwa alle zehn bis fünfzehn Jahre tauscht sich ein Großteil der Topliste aus. Man darf mit einiger Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass 2035 andere Unternehmen die Spitzenplätze halten – vielleicht Konzerne aus Indien, Afrika oder Lateinamerika, vielleicht Firmen, die Kreislaufwirtschaft oder alternative Proteine industrialisiert haben.
Die Botschaft ist brutaler als jede Kampagne gegen Big Tech: Imperien kommen und gehen. Die Konstante ist nicht das Unternehmen, sondern die Rotation.
Vor diesem Hintergrund wirkt die öffentliche Debatte merkwürdig kurzsichtig. Sie fragt: Wie überleben wir X? Wie umgehen mit dieser einen Plattform, diesem einen CEO, dieser einen App? Die politisch interessantere Frage lautet:
Welche Publikationen – welche Form von Öffentlichkeit – überleben die nächste Top-10-Rotation?
Kahneman und der Mythos vom planbaren Erfolg
Damit sind wir bei einem Mann, der selten auf Tech-Konferenzen zitiert wird, aber dringend dorthin gehört: Daniel Kahneman.
Kahneman, der erste Nicht-Ökonom mit Wirtschaftsnobelpreis, hat sein Leben damit verbracht, unsere Denkfehler zu vermessen. Einer seiner hartnäckigsten Gegner ist die menschliche Lust an der Erfolgsgeschichte.
Steht ein Unternehmen an der Spitze, entstehen zuverlässig Narrative: Es habe die bessere Strategie, den Markt verstanden, konsequent auf die richtigen Technologien gesetzt. Bricht der Erfolg ein, werden die Erzählungen umetikettiert: Arroganz, verpasste Trends, mangelnde Anpassungsfähigkeit.
Kahneman hält dagegen: Ein erheblicher Teil dessen, was im Rückblick wie eine klare Kette von Ursache und Wirkung aussieht, ist das Produkt von Zufall, Glück, Marktphase – zur richtigen Zeit am richtigen Ort.
Sein Instrument dafür ist die Regression zum Mittelwert: Außergewöhnliche Erfolge sind oft statistische Ausreißer, die im nächsten Schritt wieder in die Normalität zurückfallen. Der Golfer, der am ersten Tag ein Traumturnier spielt, wird am zweiten Tag mit hoher Wahrscheinlichkeit wieder durchschnittlicher. Nicht, weil er schlechter geworden ist, sondern weil das Glück nicht linear weiterläuft.
Für Schlagzeilen taugt diese Einsicht nicht. „Er hatte einfach sehr viel Glück“ verkauft sich schlechter als „Er zeigte Nerven“ oder „Er ist kein Siegertyp“.
Das gilt auch im Großen. Kahneman verweist auf Management-Bestseller, die aus dem Vergleich erfolgreicher und weniger erfolgreicher Firmen hochkonsistente Muster ableiten – etwa „Immer erfolgreich“ von Jim Collins und Jerry I. Porras. Sein Kommentar ist trocken:
Wer den Einfluss von Zufall ernst nimmt, sollte misstrauisch werden, wenn aus solchen Vergleichen scheinbar eindeutige Erfolgsformeln destilliert werden. Wo der Zufall seine Hand im Spiel hat, sind regelmäßige Muster häufig Illusion.
Überträgt man diese Skepsis auf die Tech-Branche, bekommt die Faszination für Plattformimperien einen Riss. Vielleicht sind manche Konzerne weniger naturgesetzlich überlegen, als ihre Fans glauben. Vielleicht ist ein Teil des Erfolgs – und des Niedergangs – banaler, als es die Storytelling-Maschine der Branche zugibt.
Affen mit Dartpfeilen und Algorithmus-Priester
Kahneman wäre vermutlich der Letzte, der sich von der Tech-Industrie mit „Growth Hacks“ beeindrucken ließe. Er hat gemeinsam mit anderen erforscht, wie gut Experten Zukunft tatsächlich vorhersagen können. Das Ergebnis ist für Prognose-Geschäftsmodelle niederschmetternd: In vielen Feldern, von der Börse bis zur Politik, schneiden Affen, die Dartpfeile auf eine Zielscheibe werfen, im Durchschnitt nicht schlechter ab als bestens informierte Profis.
Die Affen sind ein Bild, aber die Botschaft ist ernst: Selbst hochqualifizierte Menschen überschätzen ihre Fähigkeit, Entwicklungen zu antizipieren. Sie sind sehr gut darin, im Nachhinein elegante Erklärungen zu produzieren – und sehr schlecht darin, im Voraus die richtigen zu treffen.
In der Plattformökonomie hat sich aus dieser Konstellation eine eigentümliche Priesterkaste herausgebildet: Algorithmus-Erklärer, die im Wochentakt verkünden, warum Plattform X plötzlich nur noch Drei-Sekunden-Reels akzeptiert, warum Posts zwischen 8:03 Uhr und 8:17 Uhr die höchste Reichweite erzielen oder warum Karussell-Beiträge grundsätzlich „besser performen“ als nüchterne Textlinks.
Die Regeln ändern sich ständig. Die Souveränität der Vorhersagen bleibt erstaunlich stabil.
Aus Kahnemans Perspektive sind viele dieser Rezepte nichts anderes als nachträgliche Ordnungserzählungen über Rauschen. Ein Teil mag empirisch stimmen, ein Teil ist Zufall, ein Teil schlicht Marketing. Die politische Pointe liegt nicht in der Häme gegenüber Social-Media-Beratern, sondern in der Konsequenz:
Wir jagen der jeweils neuesten Plattformlogik hinterher – und übersehen dabei, dass die Plattform selbst nur eine historische Episode ist.
Öffentlichkeit oder Feed? Die eigentliche Systemfrage
Damit rückt die Politik dorthin, wo sie in der digitalen Debatte zu selten vorkommt: nicht als regulatorischer Nachhutdienst hinter Tech-Skandalen, sondern als Frage nach der Architektur unserer Öffentlichkeit.
Wenn man Kahneman ernst nimmt, ist die Zukunft der Plattformen nicht verlässlich planbar. Genau deshalb sollte man sich nicht mit ihr identifizieren. Die sinnvollere Unterscheidung lautet: Was gehört uns – und was gehört den Imperien?
Wo liegen Texte, Recherchen, Analysen, wenn die aktuelle Plattform verkauft, zerschlagen oder schlicht irrelevant geworden ist? Wie zugänglich sind sie, wenn der nächste „Mega-Dienst“ auftaucht? In welcher Form sind sie lesbar, wenn der Kontext sich verändert hat?
Diese Fragen führen konsequent weg vom reinen Feed hin zu Formen, die heute altmodisch wirken: Blogs, Newsletter, eigene Archive, bis hin zu gedruckten oder lokal gespeicherten Sammlungen. Nicht aus Nostalgie, sondern aus institutioneller Vernunft.
Michel Serres und der Parasit als Schlüsselfigur
An diesem Punkt betritt ein zweiter, ebenfalls eher randständig zitierter Denker die Bühne: Michel Serres. In seinem Buch „Der Parasit“ entwickelt er eine Figur, die auf den ersten Blick nicht nach digitaler Infrastruktur aussieht und doch erstaunlich gut zu ihr passt.
Der Parasit ist bei Serres zunächst ein biologisches Phänomen: ein Organismus, der sich einen Wirt sucht, sich einnistet, mitisst, mitlebt. Dann ein sozialer Typus: der Gast, der am Tisch sitzt, ohne zu kochen, eine bekannte Figur höfischer Gesellschaften. Und schließlich ein Störgeräusch: das Knistern in der Leitung, das Rauschen im Radio, die Unterbrechung eines Gesprächs.
Serres’ Pointe ist radikal: Macht braucht Stille. Sie braucht glatte Kanäle, klare Signale, eine ungestörte Verbindung zwischen Sender und Empfänger. Der Parasit bringt Rauschen. Er bricht Abläufe, mischt sich ein, stört die Ordnung der Kommunikation.
Wichtig ist: Serres versteht den Parasiten nicht moralisch, sondern dynamisch. Systeme ohne Parasiten, ohne Störungen, ohne Reibung – das sind tote Systeme. Parasitismus ist, in seiner Lesart, die Art, wie das Neue in das Alte eindringt.
Von alten Medien zu neuen Wirten
Überträgt man diese Figur auf Medien, entsteht eine verblüffende Lesart der vergangenen Jahrzehnte. Die klassischen Massenmedien waren lange Zeit der dominante Wirt. Frühe Blogs und Foren wirkten wie Parasiten: Sie störten Deutungsmonopole, widersprachen, ergänzten, bauten Nebenöffentlichkeiten.
Heute sind es die Plattformkonzerne, die den Wirt geben. Sie haben einen erheblichen Teil der Informationsströme an sich gezogen, alte redaktionelle Strukturen absorbiert und darüber eine globale, zentralisierte Aufmerksamkeitsökonomie gelegt.
Die naheliegende Reaktion wäre: Rückzug in „alternative“ Netze, etwa das Fediverse. Doch auch dort entsteht – wie in jedem sozialen Raum – eine eigene Topographie von Macht und Moral, von impliziten Regeln und Ausschlüssen. Wer Kritik übt, hört schnell Sätze wie: „Du hast das nicht verstanden“, „Mach dir deine eigene Instanz“, „Kritik ist okay, aber nicht so“, „Wir sind auf alternative Weise toxisch“.
Für Serres ist das keine Überraschung, sondern Bestätigung seiner These: Es gibt keinen Kommunikationsraum ohne Parasiten, keine konfliktfreie Utopie. Entscheidend ist, ob und wo wir Zonen behalten, in denen wir unsere eigenen Regeln setzen können.
Der parasitäre Blog als Störung im Maschinenraum
Damit sind wir wieder bei einer vermeintlich altmodischen Form, die in Tech-Debatten gern als Nostalgie abgetan wird: dem eigenen Blog, dem Newsletter, dem selbstverwalteten Archiv. In der Logik der Plattformimperien wirken sie wie Relikte; in der Logik von Kahneman und Serres sind sie möglicherweise die robustesten politischen Instrumente, die wir haben.
Ein Blog, ernst genommen, ist nicht einfach ein weiterer „Content-Kanal“, sondern eine Störung im System: Er eignet sich schlecht für die Echtzeitlogik der Feeds, setzt auf Länge, Kontext, Erinnerung. Er widerspricht der Erzählung, dass Relevanz sich ausschließlich in Sekundenbruchteilen und Swipe-Gesten bemisst. Er schafft Archive, in denen sich Debatten jenseits der Timeline rekonstruieren lassen – eine Voraussetzung für jede ernsthafte Öffentlichkeit.
Blogs, Newsletter, unabhängige Publikationen können parasitär an den Plattformen hängen: Sie nutzen deren Reichweite, ohne sich ihr auszuliefern. Links werden platziert, Ausschnitte gestreut, Diskussionen angestoßen – aber das Zentrum bleibt woanders, auf eigener Infrastruktur.
Politisch entscheidend ist nicht, ob jemand einen Account bei X, TikTok oder Instagram hat, sondern ob seine publizistische Existenz vollständig von diesen Konten abhängt. Wer heute mit moralischer Emphase zum Boykott von X aufruft, gleichzeitig aber seine gesamte Arbeit über andere Konzerne distribuiert, verlagert das Problem nur – er löst es nicht.
Ein Playbook für parasitäres Publizieren
Aus der Verbindung von Kahnemans Skepsis und Serres’ Parasitentheorie ergibt sich eine nüchterne Anleitung zur digitalen Selbstbehauptung.
Erstens: Publikationen brauchen ein eigenes Haus. Alles, was eine Gesellschaft in zehn oder zwanzig Jahren noch verstehen soll, gehört auf Server, auf die nicht morgen ein Plattformvorstand durch AGB-Änderung zugreifen kann.
Zweitens: Archive statt reiner Feeds. Wer seine Arbeit ausschließlich in Timelines einschreibt, akzeptiert deren Amnesie. Wer stattdessen ordnet, verschlagwortet, zugänglich hält, baut eine Art privat betriebenes Gedächtnis der Gegenwart.
Drittens: Plattformen parasitär nutzen. Die Imperien stellen Infrastruktur bereit – Verbreitung, Hosting, Sichtbarkeit. Man kann das nutzen, ohne es mit Loyalität zu verwechseln. Die Hauptsache steht zuerst im eigenen Raum; die Plattformen bekommen Ausschnitte, nicht das Ganze.
Viertens: Gelassener Umgang mit Hypes. Kahnemans Affen mit Dartpfeilen sind ein gutes Gegenmittel gegen die nächste algorithmische Offenbarung. Nicht jeder Reichweiteneinbruch ist Krise, nicht jede neue Funktion Überlebensfrage.
Fünftens: Gemeinschaft statt bloßer Fan-Blase. Wichtiger als Followerzahlen sind stabile Verbindungen: Mailadressen, RSS-Feeds, alternative Kanäle. Menschen, die einem Denken folgen – nicht nur einem Profilbild.
Wenn der Kaiser „Parasit“ ruft
Wenn der Plattformkaiser im Technopelz also wieder einmal „Parasit“ ruft, spricht aus ihm nicht die Diagnose, sondern die Furcht: vor Störungen, vor Rauschen, vor Räumen, die sich seiner Kontrolle entziehen.
Die entscheidende politische Frage lautet dann nicht: Wie überleben wir Elon Musk? Sie lautet:
Welche Publikation von uns lebt noch, wenn wir 2035 auf die Reste der heutigen Tech-Giganten blicken?
Wer darauf eine gute Antwort hat – technisch, organisatorisch, publizistisch –, hat mehr für die demokratische Öffentlichkeit getan als mit der zehnten Kampagne gegen die App des Monats.
Man muss der deutschen Wirtschaftspolitik zugutehalten: Sie hat den Mut zur Metapher. Wo früher ein Investitionsprogramm stand, steht heute ein „Dach“. Darunter wird „mobilisiert“, „gebündelt“, „maßgeschneidert“. Es klingt nach Werkbank. Tatsächlich ist es eher ein Etikettierer: Man klebt „Zukunft“ auf Kapital, damit es sich wie Gegenwart anfühlt.
Der Deutschlandfonds soll Investitionen in „Zukunftsfeldern“ anstoßen: Energie, Industrie-Transformation, digitale Technologien, Resilienz, Wagniskapital. Der Staat will privates Kapital in Bewegung bringen, Risiken abfedern, Transparenz schaffen, Akteure zusammenführen. Nur: Schon die Selbstauskunft entzaubert das Projekt. Der Fonds ist „kein Fonds im herkömmlichen Sinn“, sondern ein Dach über mehreren Instrumenten. Ein Dach, unter dem man nicht wohnt, sondern tagt.
Das Zeugnisjahr der Mittelständler
Philipp Krohn hat in seinem Kommentar zur ARD-Dokumentation „Ein Jahr unter Mittelständlern“ eine Form gefunden, die mehr über die Lage sagt als jedes Stimmungsbarometer: Nach einem Schuljahr werden Zeugnisse verteilt. Die Noten reichen von 2 bis 4. Eine Winzerin spricht von einem aufregenden Jahr. Die Bundeswirtschaftsministerin resümiert: Man habe Schläge erlebt – und auch die Bundesregierung müsse besser werden.
Krohns Diagnose trifft nicht nur den Film, sondern den Zustand: Es ist viel Material da – fünf Unternehmergeschichten, Auslandsreisen, Zolldrohungen, Klimawandel, Energie- und Materialeffizienz, Transformation der Geschäftsmodelle –, doch es fügt sich nicht, weil 45 Minuten nicht reichen. Der Fehler liegt nicht bei den Protagonisten, sondern in der Struktur: Für Tiefe fehlt Zeit. Und ohne Tiefe bleibt selbst gutes Material ein Kaleidoskop.
Man kann das als Medienschelte lesen. Man kann es auch als Wirtschaftsdiagnose verstehen: Deutschland hat nicht zu wenige Probleme, sondern zu viele gleichzeitig; nicht zu wenig Expertise, sondern zu wenig Durchlauf. Genau hier setzt die Versuchung an, mit einem großen Etikett Ordnung zu simulieren: Deutschlandfonds.
Ein Dach ist keine Konjunktur
Konjunktur „aufhellen“ heißt Erwartungen drehen: Investitionen auslösen, Risiko senken, Tempo erhöhen, Planung wieder glaubwürdig machen. Der Deutschlandfonds ist dagegen zuerst Investitionsarchitektur. Er arbeitet wesentlich mit Garantien und Absicherungen: Der Bund stellt öffentliche Mittel inklusive Garantien in einem Volumen von rund 30 Milliarden Euro bereit; Garantien belasten den Haushalt nicht sofort, sondern erst, wenn sie gezogen werden. Für den Baustein „Industrie und Mittelstand“ stehen bis zu 8 Milliarden Euro Garantien im Raum.
Das ist nicht wenig. Aber es ist auch nicht automatisch Konjunktur. Wer die Stimmung in den Betrieben drehen will, muss mehr können als Risiken versichern: Er muss Verfahren beschleunigen, Preis- und Abgabenpfade stabilisieren, Genehmigungen entknoten, Netze anschlussfähig machen, Bürokratie nicht nur beklagen, sondern abbauen. Sonst entsteht das Paradox: Der Staat sichert Projekte ab, die am Ende nicht realisiert werden – weil sie vorher im Zuständigkeitsnebel hängen bleiben.
Instrumente, die imponieren – und Fragen, die bleiben
Die Palette ist breit. Für Industrie und Mittelstand: Absicherungsinstrumente für Bankgarantien und -bürgschaften bei großen Transformationsvorhaben; Verbriefungen, die Bankbilanzen entlasten sollen; ein Rohstofffonds für Bergbau, Weiterverarbeitung und Recycling; Wachstumskapital über Bausteine des Zukunftsfonds.
Für Energieversorger: bankdurchgeleitete Kredite, Erneuerbare-Energien-Finanzierungen, Konsortialkredite. Besonders sprechend ist der Geothermie-Baustein: Ein Förderkredit, kombiniert mit der Absicherung des Fündigkeitsrisikos – also des Risikos, dass man bohrt und nichts findet –, hinterlegt mit einem Garantierahmen von 600 Millionen Euro und rund 50 Millionen Euro Haushaltsmitteln.
Für Start-ups und Scale-ups: mehr Fokus auf Fondsinvestments, zusätzliche Wachstumskapital-Formate, direkte Scale-up-Beteiligungen, Kredite für „First-of-a-kind“-Vorhaben.
Man erkennt die Logik: Der Staat wird zum Risikopartner, damit Private wieder investieren. Das kann pragmatisch sein. Es kann aber auch eine stille Bankrotterklärung sein, wenn es zur Ersatzhandlung wird: Man versichert das Risiko, statt die Ursachen zu verringern, die Risiko überhaupt erst so teuer machen.
Die eigentliche Schwäche heißt Umsetzungstempo
Der Deutschlandfonds verspricht Hebel: Ein Vielfaches an privatem Kapital soll mobilisiert werden. Hebel wirken jedoch nur, wenn der Drehpunkt fest ist. Deutschlands Drehpunkt wackelt: Genehmigung, Baukapazität, Netzanschluss, Fachkräfte, Rechtsklarheit, kommunale Finanzkraft. Wenn diese Dinge nicht schneller werden, bleibt der Fonds ein Verstärker – nur leider für ein Signal, das zu spät kommt.
Dazu passt ein Detail aus dem Ausblick: Kommunale Energieversorger bräuchten Eigenkapital; Stadtwerke seien zentral für Verteil- und Wärmenetze; der Bund wolle mit den Ländern in den Dialog, um Instrumente zu entwickeln; die Zuständigkeit liege zunächst bei den Ländern; gute Ansätze sollten rasch zum „Deutschland-Standard“ werden. Das klingt vernünftig. Es klingt aber auch nach dem typischen deutschen Problem: Man will Geschwindigkeit, aber beginnt mit Abstimmung.
Kann der Deutschlandfonds die Konjunktur aufhellen?
Ja – wenn er Begleitmusik ist, nicht Ersatzmelodie. Wenn parallel echte Beschleunigung passiert: schnellere Verfahren, verlässliche Energie- und Abgabenpfade, klare Zuständigkeiten, messbare Umsetzung, weniger Berichtspflichten, mehr Entscheidungsfähigkeit vor Ort. Dann kann Absicherung tatsächlich Investitionen auslösen, Transformationsprojekte tragfähig machen, Wachstumskapital freisetzen.
Nein – wenn er vor allem ein politisches Erzählformat bleibt. Dann teilt er das Schicksal von Krohns 45-Minuten-Film: gutes Material, richtige Themen, kompetente Chronik – aber am Ende fügt sich nichts. Nicht, weil die Wirklichkeit zu klein wäre, sondern weil der Vollzug fehlt.
Die Konjunktur hellt sich nicht auf, weil ein Dach gebaut wird. Sie hellt sich auf, wenn darunter endlich gearbeitet wird – und zwar so, dass der Unternehmer nicht das nächste Aktenzeichen sieht, sondern die nächste Maschine.
Um 9:30 Uhr wird in Bochum nicht nur Kaffee eingeschenkt, sondern Entscheidungslast verteilt: Wer hierherkommt, übernimmt für einen Tag Mitverantwortung dafür, worüber gesprochen wird – und wie. Das MediaCampNRW findet am Samstag, 21. Februar 2026, im WerkRaum der GLS Bank, Christstraße 9, statt; Ende 16:00 Uhr. Veranstalter ist das MediaLab.NRW, unterstützt von der Bochum Wirtschaftsentwicklung. Teilnahme gibt es nur mit vorheriger Ticket-Buchung.
Die große Frage, die über diesem Format steht, ist weniger pathetisch als sie klingt: Wie bleiben Medien in einer Zeit der Multi-Krisen orientierungsfähig – und wie bleibt das Wichtige sichtbar, wenn das Aufgeregte überall ist? Barcamps geben darauf keine Theorie, sondern eine Praxis. Nicht die Podien definieren das Programm, sondern die Teilnehmer. Mehrere 45-Minuten-Sessions, teils parallel; die Vorschläge kommen aus dem Raum, das Programm entsteht zu Beginn gemeinsam. Das Ergebnis ist keine „Agenda“, sondern ein Lagebild: Was brennt wirklich, was ist nur Buzzword, was lässt sich sofort ausprobieren?
Rückblick: Was beim letzten MediaCampNRW tatsächlich zählte
Wer beim vergangenen MediaCampNRW dabei war, erinnert sich weniger an einzelne Thesen als an die Mischung aus Handwerk und Gegenwart. Da standen Sessions nebeneinander, die in klassischen Konferenzprogrammen getrennt werden: Social-Media-Trends neben konkreten Tipps für Video und Podcast, Debatten über KI-Tools neben dem, was auf dem Papier nach Nebensache klingt – bis es plötzlich Sinn ergibt. Sogar Stricken tauchte als Sessionthema auf: nicht als Gag, sondern als Erinnerung daran, dass Kreativität selten in Ressorts passt. Und nach dem offiziellen Teil blieb man länger zusammen als geplant, weil genau dort die Verbindungen entstehen, die später Projekte tragen.
Das ist der stille Wert dieser Tage: Man geht nicht mit einer „Botschaft“ nach Hause, sondern mit einem Werkzeugkasten, den man nicht bestellt hätte. Wer etwas vorstellt, bekommt keine höfliche Zustimmung, sondern Rückfragen. Wer eine Idee mitbringt, bekommt Gegenbeispiele. Wer nur zuhört, merkt schnell, welche Fragen 2026 wirklich strukturieren.
Warum Bochum, warum jetzt?
Die Medienökonomie der Aufmerksamkeit ist unerquicklich geworden: Reichweiten sind volatil, Vertrauen ist teuer, Empörung ist ein Geschäftsmodell, und die technische Infrastruktur verschiebt sich schneller als die Redaktionskonferenzen. In dieser Lage ist ein Barcamp nicht Wohlfühlformat, sondern Realitätsprüfung. Es zwingt zur Klarheit: in 45 Minuten, ohne Schutzgeländer. Die Fragen sind groß, die Antworten müssen praktisch sein.
Bochum passt dazu als Ort. Der WerkRaum ist kein Festsaal, sondern ein Arbeitsraum: geeignet für Menschen, die nicht „über“ Kommunikation reden wollen, sondern an ihr arbeiten. Eingeladen sind Kreative, Entwickler, Gestalter, Erzähler, Storyteller – kurz: alle, die Medien nicht nur konsumieren oder verwalten, sondern herstellen.
Anmeldung als Selbstbehauptung
Wer sich über die Zukunft der Medien beklagt, kann das weiterhin tun – und wird damit in den üblichen Schleifen landen. Wer sich anmeldet, macht etwas anderes: Er setzt sich in einen Raum, in dem Fragen nicht dekorativ sind, sondern produktiv. Genau darum geht es am 21. Februar 2026 in Bochum.
Wenn du Themen hast, die du endlich einmal jenseits von Folien und Fraktionsdisziplin diskutieren willst: Bring sie mit. Wenn du keine hast: Noch besser – dann gehst du mit welchen nach Hause.
Als Fritzi Köhler-Geib am 26. November 2025 in Leipzig die Keynote bei der Veranstaltung „Resilienz – ein Panel der Deutschen Bundesbank zur Anpassungsfähigkeit in Deutschland“ hält, steht sie nicht als Mahnerin auf der Bühne, sondern als Verantwortliche für jene Bereiche, in denen sich Krisen zuerst in Zahlen, Systemen und Modellen bemerkbar machen: Forschung, IT, Statistik und Risikocontrolling. Ihre Rede trägt den nüchternen Titel „Resilienz in Deutschland und Europa: Eine Forschungs-, IT-, Statistik- und Risikocontrolling-Perspektive“. Nüchtern ist daran vor allem die Absicht: Resilienz soll nicht als Beschwörungsformel kursieren, sondern als prüfbare Fähigkeit.
Köhler-Geib beginnt mit einer persönlichen Episode – ein gebrochenes Sprunggelenk Ende August –, aber sie nutzt sie nicht als Stimmungsmacher, sondern als Folie für eine Definition, die sich wie ein Arbeitsauftrag liest: „Resilienz ist eine Frage der Vorbereitung, der Zusammenarbeit und der richtigen Ressourcen.“ Damit ist der Rahmen gesetzt. Resilienz ist weder Charakterfrage noch Mentaltechnik; sie ist eine Angelegenheit der Organisation, der Infrastruktur, der Investitionsentscheidungen. Man könnte auch sagen: Resilienz ist das, was bleibt, wenn das Ereignis schon vorbei ist – und das System dennoch funktioniert.
Genau hier berührt die Rede die Resilienzkriterien der Zukunftsmacher-Studie. Auch dort wird Widerstandskraft nicht aus Durchhalteparolen abgeleitet, sondern aus dem Zusammenspiel von Faktoren, die sich aufbauen lassen: aus Datenfundamenten, Plattformlogik, Umsetzungsdisziplin und einem Wertfokus, der nicht in Innovationsrhetorik stecken bleibt. Resilienz erscheint in beiden Perspektiven als Architekturleistung: Wer sie will, muss sie entwerfen.
Geopolitik: Wenn Unsicherheit zur Normalform wird
Köhler-Geib beschreibt zu Beginn eine Lage, in der ökonomische Unsicherheit nicht mehr als vorübergehende Störung behandelt werden kann. Sie verweist auf Indizes und Marktbewegungen, auf Schwankungen – und auf Anzeichen dafür, dass Handelsströme fragmentierter werden. Der Befund ist unerquicklich, weil er die bekannte Logik der letzten Jahrzehnte umkehrt: Arbeitsteilige Verflechtung war Effizienz; nun wird sie zur Verwundbarkeit. Steigende geopolitische Risiken verteuern Importe, stören Lieferketten, begünstigen Fragmentierung.
Bei Finanzströmen, so Köhler-Geib, seien die Hinweise bislang weniger ausgeprägt – doch gerade das macht den Punkt nicht schwächer, sondern dringlicher. Denn die Forschung der Bundesbank zeigt, dass geopolitische Schocks Kreditvergabe dämpfen, die Risikobereitschaft senken, Spreads ausweiten und Volatilität wie Zinsen erhöhen können. Resilienz heißt in dieser Lesart: nicht erst reagieren, wenn der Schock im System ist, sondern die Möglichkeit des Schocks in Szenarien und Steuerung integrieren.
Die Rede bleibt dabei nicht im Alarmton, sondern arbeitet an einem europäischen Hebel. Köhler-Geib argumentiert, dass Europa seine Resilienz nur erhöhen kann, wenn es die finanzielle Integration vorantreibt: Kapitalmärkte vertiefen, Binnenmarkt vollenden, Bankenunion und Marktinfrastruktur weiterentwickeln. Das ist keine Technokraten-Prosa, sondern eine schlichte Logik: Wer in einer fragmentierten Welt handlungsfähig bleiben will, braucht ein tieferes gemeinsames Finanzfundament – sonst bleibt jede strategische Selbstbehauptung eine politische Pose ohne ökonomische Tragfähigkeit.
Für Deutschland koppelt sie diese europäische Perspektive an eine nationale: Wachstum, so macht sie klar, ist ohne strukturelle Reformen nicht nachhaltig zu entfesseln – am Arbeitsmarkt, bei Investitionen, bei Innovationen. Resilienz ist hier nicht das Gegenteil von Wachstum, sondern seine Voraussetzung: Nur ein System, das Spielräume schafft, kann sie im Schockfall auch nutzen.
Technologie: Abhängigkeiten erkennen, statt Souveränität zu versprechen
Im dritten Teil verschiebt Köhler-Geib den Blick von geopolitischen Schocks auf technologische Abhängigkeiten. Sie nennt Zahlen zur Dominanz weniger Anbieter im europäischen Cloud-Markt und leitet daraus eine politische Ökonomie der Infrastruktur ab: Wer zentrale digitale Technologien importiert, importiert zugleich Verwundbarkeit.
Bemerkenswert ist, wie sie das Problem rahmt. Sie warnt nicht vor dem „Ausland“ und verspricht keine schnelle Autarkie. Stattdessen schlägt sie ein Konzept vor, das bewusst auf Nüchternheit setzt: „strategisches Abhängigkeitsmanagement“. Digitale Souveränität, so die implizite Botschaft, ist kein Zustand, den man ausruft, sondern ein Portfolio von Entscheidungen: Wo akzeptiert man Abhängigkeit – und warum? Wo reduziert man sie – und wie? Wo investiert man in Alternativen – und mit welcher Zeitachse?
Dass sie dies nicht abstrakt belässt, sondern auf die Bundesbank selbst bezieht, ist der zweite entscheidende Zug: Der IT-Stack werde systematisch analysiert, um bewusst zu entscheiden, wo Abhängigkeiten zu verringern und wo sie beizubehalten sind. Resilienz wird so zur Frage der Systemkenntnis: Man kann nur steuern, was man sichtbar macht.
Diese Logik spiegelt sich in den Resilienzkriterien der Zukunftsmacher-Studie. Dort wird Widerstandskraft entlang von Dimensionen beschrieben, die genau diese Sichtbarkeit und Steuerungsfähigkeit voraussetzen: Smartness (Datenzugang), Resonanzfähigkeit (Signale deuten), Handlungsschnelligkeit (Umsetzung), Entschlossenheit (Investitionsmut) und Anpassungsfähigkeit (Strukturwechsel). Der Punkt ist nicht, jede Abhängigkeit zu eliminieren, sondern sie so zu managen, dass sie nicht zur Systemkrise eskaliert.
Köhler-Geib treibt den Gedanken bis in die nächste Technologiewelle: Quantencomputing, der „Q Day“, quantensichere Verschlüsselung, ein Patent der Bundesbank im „internationalen Jahr der Quantenwissenschaft und -technologie“. Die Pointe ist weniger der Zukunftsglanz als der institutionelle Mechanismus dahinter: Ein Team, Raum zum Experimentieren, dann Umsetzung in die Praxis. Resilienz, so zeigt sich, entsteht nicht aus dem richtigen Trendbegriff, sondern aus dem Übergang vom Test in die Produktion.
Finanzsystem: Neue Akteure, neue Kanäle, neue Fragilitäten
Im vierten Teil wird Köhler-Geibs Perspektive am deutlichsten als Risikocontrolling-Rede: Geopolitik und Technologie verändern nicht nur „die Wirtschaft“, sondern die Finanzarchitektur selbst – und damit die Bedingungen, unter denen Geldpolitik und Aufsicht wirken. Daraus folge ein Forschungsschwerpunkt: die „Future of Finance“.
Sie erläutert dies an zwei Entwicklungen.
Erstens: der Aufstieg der Nichtbank-Finanzintermediäre (NBFIs). Deren Bilanzsummen haben stark zugenommen; sie sind zentrale Akteure geworden. Für Zentralbanken stellt sich die Frage, wie sich diese Verschiebung auf die geldpolitische Transmission auswirkt. Köhler-Geib insistiert auf Differenzierung: Pensionsfonds reagieren anders als Hedgefonds, Geldmarktfonds anders als langfristige Vehikel. Forschung der Bundesbank deutet an, dass unerwartete Zinssteigerungen bei bestimmten Fonds stärkere Abflüsse auslösen können – ein Hinweis darauf, dass sich Fragilität in Segmenten in die Wirksamkeit geldpolitischer Impulse hineinfräsen kann. Noch sind die Befunde nicht einheitlich; gerade deshalb sei mehr Forschung nötig.
Zweitens: Krypto-Assets, insbesondere Stablecoins. Heute seien systemische Risiken begrenzt, weil der Sektor klein und wenig verflochten sei. Doch die Richtung ist klar: Stablecoins können durch wachsende Nutzung und rechtliche Klarheit relevanter werden; ihre Reserveassets verbinden das Kryptosystem mit dem traditionellen Finanzsystem. Köhler-Geib spricht das Run-Risiko an: Zweifel an Reserven können Kettenreaktionen auslösen – Notverkäufe, Abzüge, Ansteckung. Resilienz heißt hier: Verstehen, bevor die Verflechtung groß genug ist, um Schocks zu übertragen.
Und schließlich: digitales Zentralbankgeld – ein digitaler Euro für Endverbraucher und eine Wholesale-Variante. Auch hier ist der Tenor nicht visionär, sondern institutionell: Die Zentralbank gestaltet, weil sie Mandate erfüllen muss, wenn sich Zahlungsgewohnheiten und Technologien ändern.
Die gemeinsame Lehre: Resilienz entsteht nicht im Moment der Krise
Am Schluss lädt Köhler-Geib dazu ein, die Herausforderungen als Chance zu begreifen: Strukturprobleme angehen, Innovationen umsetzen, die Zukunft der Finanzwelt mitgestalten. Das klingt freundlich, ist aber im Kern eine Zumutung: Resilienz verlangt Entscheidungen, bevor man ihre Notwendigkeit „fühlt“.
Die Zukunftsmacher-Studie liefert dafür die unternehmerische Entsprechung. Dort ist Resilienz kein Etikett, sondern Ergebnis eines Systems, das fünf Kräfte bündelt: Menschen (Akzeptanz), Daten (Fundament), Plattformen (Skalierung), Agilität (Breite), Wertfokus (Richtung). Wer diese Elemente getrennt behandelt, erhält Innovation ohne Wirkung – oder Digitalisierung ohne Robustheit. Wer sie verbindet, baut ein Betriebssystem, das Schocks nicht verhindert, aber ihre Folgekosten begrenzt und Anpassung beschleunigt.
So gesehen ist Leipzig nicht nur Ort einer Bundesbank-Keynote, sondern Schauplatz einer nüchternen Diagnose: In einer Welt, in der Handel und Kapital wieder Grenzen lernen, Technologien Abhängigkeiten offenlegen und Finanzmärkte neue Ränder ausbilden, ist Resilienz die Fähigkeit, Strukturen so zu bauen, dass Zukunft nicht zur Wette wird. Das ist keine Frage des Mutes. Es ist eine Frage der Architektur – und der Bereitschaft, sie zu finanzieren.