Jacob Taubes und die glattgelutschte Forschungscluster-Mittelmäßigkeit an Universitäten: Vorlesungsfund aus den 1970er Jahren

Der Religionsphilosoph Jacob Taubes zählt zu den wichtigsten Persönlichkeiten, die meine publizistische Tätigkeit und meine wissenschaftlichen Interessen prägten, obwohl ich nie in den Genuss des persönlichen Kontaktes mit Taubes kam. Bei Suhrkamp und auch für Peter Gente vom Merve-Verlag war der jüdische Denker ein wichtiger Anreger für internationale Strömungen im intellektuellen Milieu. Auf ichsagmal.com bin ich darauf sehr oft eingegangen. Patrick Bahners verweist in der FAZ auf eine recht eigentümliche Debatte, die zum hundertsten Geburtstag des 1987 verstorbenen Gelehrten mit der Taubes-Biographie aus der Feder von Jerry Z. Muller losgetreten wurde.

Susan Neiman gehe in ihrer in der „New York Review of Books“ vom 6. April erschienenen, vom „Merkur“ im Maiheft übernommenen Rezension darauf ein, dass Mullers Buch mehrfach die Frage stellt, warum Taubes, der am Jewish Theological Seminary und an der Columbia-Universität in New York sowie an der Hebräischen Universität in Jerusalem lehrte, in Harvard und Princeton forschte und von 1966 an einen Lehrstuhl für Hermeneutik und Judaistik an der Freien Universität Berlin bekleidete, nicht mehr geschrieben hat.

„Der Historiker Muller verrate, so lautet das strenge Urteil der Rezensentin, seine Unkenntnis der Philosophie des zwanzigsten Jahrhunderts. Diese sei nämlich durch die Frage, wie Philosophie noch möglich sei, von der Produktion philosophischer Bücher abgehalten worden. Selbst Wittgenstein habe nur seine Dissertation publiziert und später auch noch widerrufen, legt Neiman dar, ohne freilich unpublizierte Arbeiten oder auch nur mündlich hingeworfene Gedanken von Taubes zu den Problemen der Regularien des Sprechens, Denkens und Handelns anzuführen, deren Erörterung durch Wittgenstein die analytische Philosophie seit Jahrzehnten mit Stoff versorgt. Aber selbst wenn man bei den Themen bleibt, die Taubes tatsächlich beschäftigten, und ein Sample seiner Generationsgenossen, Gesprächspartner und Kollegen bildet, die sich für die Grenzfragen von Philosophie und Theologie unter besonderer Berücksichtigung der Gnosis interessierten: Warum haben denn Hans Blumenberg, Dieter Henrich und Michael Theunissen verkannt, dass sie als Philosophen die vielen Bücher besser nicht geschrieben hätten, die von ihnen in den Bibliotheken stehen?“, fragt sich Bahners.

In der Zeitschrift für Ideengeschichte in der Sommer-Ausgabe geht man noch ausführlicher auf die kritische Taubes-Wahrnehmung ein.

Thomas Macho könnte ich nicht erinnern, jemals so viele Rezensionen gelesen zu haben, die nicht die neue intellektuelle Biografie, sondern die dargestellte Persönlichkeit verreißen: als Hochstapler, Scharlatan, ja sogar als Dämon und „bösen“ Menschen, der besser vergessen als gewürdigt werden sollte. „Jacob Taubes ist am 21.März 1987 in Berlin gestorben, vor 36 Jahren; am 25. Februar 2023 wäre er hundert Jahre alt geworden. Wie lässt sich der verspätete Zorn erklären?“.

Vielleicht ist es schlichtweg Neid auf eine Persönlichkeit, die als überragender Rhetor wirkte und weniger durch wissenschaftliche Publikationen. Die kürzlich verstorbene Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff ist ihm in Berlin mehrfach begegnet, sie war quasi seine Nachbarin und schreibt in der Zeitschrift für Ideengeschichte folgende Zeilen:

„Er hatte etwas Schlawinerhaftes, war äußerst anregend und zugleich klug, aus seinem Kopf sprühten die Funken, wenn er in guter Verfassung war. Selbst wenn sein Wissen ein wenig fragwürdig war, weil er es mit spontanen Eigenschöpfungen durchkreuzte, setzten seine erstklassigen Erfindungen in den Köpfen der Studenten Tumulte frei, die äußerst produktiv waren. Allerdings erzog er damit auch Faselanten, die ihm nicht gewachsen waren. Besonders deutlich wurde das in einem privaten Kreis, der in der Wohnung von Nicolaus Sombart bei einem Jour fixe zusammenkam. Sombart war schlicht und ergreifend ein eitler Dummkopf, der vom Ruhm seines Vaters zehrte und die Weihen einer großbürgerlichen Herkunft zelebrierte. In seiner Wohnung war der Gang zum Klo mit Nacktfotos seiner Eroberungen geschmückt. Jacob Taubes war gewissermaßen der Glücksfang, der dort seine scharfen Pointen verfeuerte und sehr gern auch den Gastgeber damit düpierte. Sombart ließ sich die Frechheiten gefallen, wahrscheinlich, weil er wusste, dass ohne Taubes die Zusammenkünfte eine trübe, wenn nicht depperte Sause gewesen wären, vermutlich war er auch einfach zu dumm, um die Schärfe der Invektiven seines spektakulären Gastes zu begreifen.“

Auch im Salon von Sombart begegnete ich Jacob Taubes leider nicht, obwohl ich Mitte der 1980er Jahre zum Stelldichein in Charlottenburg eingeladen wurde. Das Urteil von Lewitscharoff über den Dandy Sombart ist übrigens höchst ungerecht.

Christoph Schulte war studentischer Mitarbeiter von Taubes und kann das Bashing ebenfalls nicht nachvollziehen. Er sei im Nachkriegsdeutschland wichtiger als Horkheimer und Adorno gewesen.

„Diesseits neomarxistischer Gesellschaftskritik war der Spross alter chassidischer und talmudistischer Rabbiner-Dynastien und selber Rabbiner, der von Bibel und Talmud bis Chassidismus, Hermann Cohen, Derrida, dem Satmarer Rebben und den Toldot Aharon im Judentum alles kannte und einbringen konnte, aber das in ein Verhältnis zu Heidegger, Neuem Testament, Schmitt, Marx, Ethnologie oder französischem Poststrukturalismus zu setzen wusste, auch als jüdischer Intellektueller zwischen New York, Paris, Berlin und Jerusalem völlig unvergleichlich und einmalig. Das konnte selbst der große Scholem nicht. Und Blumenberg hatte vom Judentum keine Ahnung, wenn auch sonst von allem“, schreibt Schulte in der Sommerausgabe der Ideengeschichte.

„Taubes praktizierte mündliche Tora, mündliche Lehre, wie ein rabbinischer Gelehrter, aber eben mit lauter ebenso anregenden wie unorthodox-anstößigen und unjüdischen Inhalten. Und das auch noch ohne Respekt vor irgendwelchen vermeintlichen wissenschaftlichen Autoritäten. Wer die Person Taubes und diese Art zu lehren nie lebendig erlebt hat, hat etwas Entscheidendes verpasst. Geist kann man nicht auf Flaschen ziehen, nicht wiegen oder auf Buchregale stellen. Er entzieht sich akademischer Kontrolle und Überprüfung, aber wirkt nach. Durch solche mündliche Lehre angeregt, musste man die disziplinierte akademische Arbeit und das Schreiben dann selber lernen, oder bei anderen akademischen Lehrern“, führt Schulte aus.

Wer die intellektuelle, politische und akademische Langeweile betrachte, die heute an deutschen Universitäten herrscht, wo hochspezialisierte, fachlich qualitätsevaluierte, perfekt angepasste, eloquente, glattgelutschte Professor:innen ihre drittmittelrelevante Mainstream-Forschungscluster-Mittelmäßigkeit und Post-Bologna-Geschäftigkeit selbst für exzellent erklären, ist die Erinnerung an Jacob Taubes doppelt wertvoll.

Das hat gesessen. So sehe ich das auch. Und wer sich Protokolle über die Lehrveranstaltungen von Taubes durchliest, wird merken, auf welch hohem Niveau das Ganze abgelaufen ist. Hier ein antiquarischer Fund aus dem Jahr 1973.

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