
“Der zentrale Zielkonflikt wird zwischen individueller Entscheidungsfreiheit auf der einen und dem Gemeinwohl auf der anderen Seite gesehen, denn die Entscheidung der einzelnen Person, sich impfen zu lassen oder nicht, hat Konsequenzen für Dritte. In der Ökonomik nennt man so etwas einen externen Effekt, und dieser treibt einen Keil zwischen Eigeninteresse und Gemeinwohl. Diese Perspektive wird auch von der Medizinethik geteilt, denn dieser Externe Effekt macht die Impfentscheidung erst zu einer ethischen Frage”, schreiben Thomas Beschorner und Martin Kolmar in einem Gastbeitrag für die Zeit.
Eine Impfpflicht werde als angemessen angesehen, wenn bestimmte Bedingungen erfüllt sind: “Erstens schädigt sich die geimpfte Person nicht unverhältnismäßig selbst. Impfungen reduzieren zweitens nicht nur die Wahrscheinlichkeit, selbst zu erkranken, sondern auch substanziell die Ansteckung Dritter. Impfungen weisen drittens im Vergleich zu anderen Maßnahmen das beste Nutzen-Schaden-Verhältnis auf”, erläutern die beiden Wirtschaftsethiker.
Die wissenschaftliche Evidenz zu diesen drei Bedingungen sei deutlich: Die zugelassenen Impfstoffe seien gegen die derzeitigen Virusvarianten hocheffektiv, die Nebenwirkungen sind — obwohl vorhanden — in der überwältigenden Zahl der Fälle tolerierbar, und die Impfstoffe reduzieren auch die Ansteckung Dritter signifikant.
“Was folgt hieraus für den Einzelnen aus einer ethischen Sicht? Die Mehrzahl der gegenwärtig diskutierten Ethiken würde aus diesem Umstand eine moralische Impfpflicht ableiten, und der Konsens reicht von sogenannten konsequenzialistischen Ethiken wie dem Utilitarismus bis hin zu sogenannten deontologischen Ethiken wie derjenigen Immanuel Kants. Sehr unterschiedliche Begründungsmodelle einer ethischen Pflicht führen zum selben Ergebnis: Wenn nicht für den individuellen Fall gesundheitliche Risiken dagegensprechen, bedeutet moralisches Handeln, sich impfen zu lassen. Dies nicht zu tun, bedeutet, seiner moralischen Pflicht gegenüber der Gesellschaft nicht gerecht zu werden.”
Wichtig:
“Es ist eine ethische Begründung einer Pflicht. Und Ethik als rationale Ableitung konkreter Pflichten aus allgemeinen Prinzipien ist das Gegenteil eines ‘Bauchgefühls’, wenn es um moralische Fragen geht.”
“Der einzige Zweck, zu dem Macht rechtmäßig über ein Mitglied einer zivilisierten Gemeinschaft gegen seinen Willen ausgeübt werden kann, ist, Schaden von anderen abzuwenden”, formulierte der liberale Philosoph John Stuart Mill.
Der Staat folge dieser Sicht in vielen Bereichen, in denen “Schaden von anderen abzuwenden” ist, so zum Beispiel mit Geboten (Versicherungspflicht), Verboten (Tempolimit in Städten) und Anreizen (Subventionen von sauberen Antrieben).
Was ist mit der indirekten Impfpflicht – privatrechtliche Durchsetzung, Hausrecht etc.?
Es könnte eine gesetzliche Anordnung zur Corona-Impfung geben, deren Nichtbefolgung eine Ordnungswidrigkeit darstellte, die entsprechend gebüßt würde. “So wird ein Verstoß gegen die Masern-Impfpflicht in Berlin mit bis zu 2.500 Euro geahndet; eine Maßnahme, die sich seit ihrer Einführung im letzten Jahr im Übrigen als wirkungsvoll erwiesen hat.”
Über den Zeit-Beitrag wird im Netz kräftig debattiert:
https://taz.de/Politologin-ueber-gefaelschte-Menasse-Zitate/!5563624/
Dann packe ich noch etwas hinzu: Die Ethik des negativen Utilitarismus, abgeleitet vom Wissenschaftstheoretiker Karl Popper:
Auch bei Werten gebe es keine Gewissheiten. Normative Aussagen sind weder wahr noch falsch. Ihre Wahrheit – und damit Verbindlichkeit – lässt sich nicht beweisen. Wie kann man dennoch zu Normen und Werten finden? Popper behilft sich damit, dass er mutmaßlich Konsequenzen herausarbeitet, die eine Norm für das gesellschaftliche Leben haben wird. Daraus ergibt sich eine Rangfolge von “besser” oder “schlechter”, von einer brauchbaren oder weniger brauchbaren Norm.
“Es trägt zur Klarheit auf dem Gebiet der Ethik wesentlich bei, wenn wir unsere Forderungen negativ, dass heißt, wenn wir die Beseitigung des Leids, nicht aber die Förderung des Glücks verlangen.”
Poppers Ethik orientiert sich an jedermann sichtbaren Problemen.
Will Politik erfolgreich sein, darf sie sich nicht an Ideen orientieren, sondern muss auf ihre Wirksamkeit im Augenblick achten.
Ableitung von Helmut Schmidt für sein eigenes Regierungshandeln:
“Arbeite lieber für die Beseitigung von konkreten Missständen als für die Verwirklichung von abstrakten Idealen.”
Wissenschaft und Politik sollten nicht durch Dogmen geknebelt werden, sondern treten in ein Ringen um den besten Weg. “Dieser Weg ist die Abfolge von Theoriebildung, von Kritik und der Korrektur erkannter Fehler. So erhalten auch politische Maßnahmen den Charakter wissenschaftlicher Hypothesen, die an der Wirklichkeit überprüft und im Licht der Erfahrung korrigiert werden müssen”, schreibt Martin Rupps in seinem Buch “Helmut Schmidt – Politikverständnis und geistige Grundlagen”.
Offenheit – im Sinne von Popper – heißt Korrigierbarkeit.
Kant im Anhang zu seiner Schrift “Zum ewigen Frieden”. Der moralische Politiker wird versuchen, “die Politik mit der Moral in Einverständnis zu bringen. Er stellt das Wohl des Ganzen über das persönliche Wohl. Im Gegensatz dazu beschreibt Kant den politischen Moralisten: Es gehe ihm vor allem um den persönlichen Machterhalt. Das eigene Wohl. steht über dem Gemeinwohl.
Wir werden das im Livetalk mit dem Zeit-Co-Autor Thomas Beschorner, Professor für Wirtschaftsethik und Direktor des Instituts für Wirtschaftsethik an der Universität St. Gallen, vertiefen. Um 11 Uhr:
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