
Vorbereitungen eines Interviews mit dem Hidden-Champion-Forscher Professor Hermann Simon: Grundlage ist ein Gastbeitrag in der FAZ. So schreibt Simon:
“In den Augen nicht weniger Leute ist Deutschland ein Innovationsversager. Und in der Tat finden sich genügend Fallbeispiele, bei denen die deutsche Wirtschaft zum Thema Innovation wenig zu bieten hat. Es gibt kein einziges deutsches Unternehmen, das in der Weltliga der Verbraucherdigitalisierung mitspielt. Wir haben nichts, was mit den amerikanischen Internet- und Technologieriesen wie Google, Facebook, Apple oder Amazon vergleichbar wäre. Auch in der Digitalisierung in öffentlichen Bereichen wie Verwaltung oder Gesundheitswesen hinken wir hinterher. Als Beleg für deutsches Innovationsversagen könnte man zudem SpaceX, die Raketenfirma von Elon Musk, anführen. Raketen sind Maschinenbau auf die Raumfahrt angewandt und es gab Zeiten, in denen Deutschland auf diesem Gebiet technologisch führend war. Musk hat mit SpaceX im Jahre 2002 quasi bei Null angefangen und ist heute der führende private Anbieter für Raketentransporte in den Weltraum. Und die jüngste Sensation in der künstlichen Intelligenz, ChatGPT, kommt bezeichnenderweise auch nicht aus Deutschland.”
Im Falle von Raumfahrt und Verteidigungstechnologie würde es nicht viel besser aussehen. “Das amerikanische Verteidigungsbudget beträgt das 13,5-fache des deutschen. Die amerikanische Raumfahrtbehörde gibt 24 Milliarden Dollar pro Jahr aus, der deutsche Beitrag zur europäischen Raumfahrtagentur beträgt 955 Millionen Euro. Und eines dürfte klar sein: Die Amerikaner werden diese Technologien nicht in Deutschland oder Europa kaufen”, erläutert Simon. Der deutsche Markt ist einfach zu klein, um als von hier operierender Anbieter eine weltführende Rolle zu erringen.
Als weiterer Grund für Innovationsversagen sei die oft einseitige und zudem staatlich geförderte Ingenieurorientierung zu nennen. “Diese Einstellung sieht die Hindernisse der großtechnischen Realisierung zu optimistisch und schätzt die Wirtschaftlichkeit falsch ein. Ich nenne hier beispielhaft den Supercomputer Suprenum, den Cargolifter, den Transrapid, oder – auf europäischer Ebene – die Concorde.” Bei für die Zukunft wichtigen Innovationen will man es besser machen. Dazu zählt die 2019 gegründete Bundesagentur für Sprunginnovationen SPRIND. Sie habe 2023 ein Budget von 180 Millionen Euro. Die vergleichbare amerikanische Agentur DARPA könne im gleichen Jahr 4,1 Milliarden Dollar ausgeben, das ist das 23-fache.
Eine Reihe von Forschungsbeispielen belegt, dass wir bei Spitzentechnologien einiges zu bieten haben. „So hat Jens Frahm vom Max-Planck-Institut für biophysikalische Chemie die MRT revolutioniert und sie zu einem der bedeutendsten bildgebenden Verfahren in der klinischen Diagnostik gemacht. Die von ihm und seinem Team in den 1980er Jahren entwickelte FLASH-Technologie reduzierte die Bildaufnahme-Raten von Minuten auf Sekunden – erst damit wurde das MRT alltagstauglich. 2010 beschleunigten Frahm und sein Team die MRT-Aufnahmen ein weiteres Mal erheblich auf bis zu 100 Bilder pro Sekunde, indem sie ein neues mathematisches Verfahren für die Bildrekonstruktion nutzten“, erläutert Christina Beck, Leiterin Abteilung Kommunikation der Max-Planck-Gesellschaft.
Ein weiteres Beispiel für den langen Weg von der Grundlagenforschung in die Anwendung sind die Arbeiten von Ignacio Cirac vom Max-Planck-Institut für Quantenoptik. Er ist theoretischer Physiker und als solcher ein Wegbereiter der zweiten Quantenrevolution. Seine theoretischen Arbeiten haben den Grundstein gelegt für wegweisende Experimente zu Quantencomputern und Quantenkryptographie. In einer Publikation von 1995 erklärten Cirac und sein Kollege Peter Zoller, wie man mit Ionenfallen einen Quantencomputer bauen könnte. „Ohne diese theoretischen Grundlagen wären die Arbeiten von IBM und Google gar nicht vorstellbar und damit auch nicht der jüngst gefeierte Meilenstein bei der Entwicklung eines Quantencomputers“, so Beck. Nicht alle Erkenntnisse aus der Grundlagenforschung vollziehen sich in der Produktwelt.
Für Hermann Simon sind Vergleiche mit den Massenmärkten der Digitalsiierung problematisch und kein guter Indikator. “Wenn ich bei Vorträgen die Frage stelle, wie viele Zulieferer Apple in Deutschland hat, bewegen sich die Schätzungen typischerweise zwischen Null und 20. Die wahre Zahl ist 767! Kaum einer dieser Zulieferer ist in der Öffentlichkeit bekannt, praktisch alle sind Hidden Champions. Dazu gehört die von dem Informatiker Jürgen Schmidhuber entwickelte deutsch-schweizerische Software LSTM (Long Short Term Memory), die hinter dem Siri-System von Apple steht und auf mehr als 3 Milliarden Smartphones installiert ist. Celonis aus München ist Weltmarktführer für sogenanntes Process Mining und wird mit 13 Milliarden Euro bewertet. Deepl aus Köln liefert, wie in vielen Tests nachgewiesen, die besten Übersetzungen der Welt. Und hinter dem Weltmonopol der holländischen Firma ASML für Extreme Ultraviolette Lithografie stehen mit Trumpf und Zeiss zwei deutsche Schlüssellieferanten. Der Laser von Trumpf erzeugt in der Spitze eine Leistung von 20 Gigawatt und eine Temperatur von 220.000 Grad Celsius. Pro Sekunde werden mit Hilfe dieses Gerätes, das aus 457.329 Bauteilen besteht und 17,9 Tonnen wiegt, 50.000 Zinntropfen auf den Chip geschossen. Fast noch komplexer ist das optische System von Zeiss. Es verkürzt die Distanz auf den Chips von 193 auf 13 Nanometer und verlängert so das Gesetz von Moore um mindestens zehn Jahre. Mit seiner Hilfe können 56 Milliarden Transistoren auf der Fläche einer Fingerkuppe platziert werden.”
Taifun habe in Zusammenarbeit mit der Universität Hohenheim eine Sojasorte entwickelt, die in Deutschland gedeiht, und sich damit eine heimische Rohstoffbasis geschaffen. Diese Entwicklung habe zehn Jahre gedauert. Das Unternehmen KWS Saat sei Weltmarktführer für Saatgut-Spezialitäten, beschäftigt mehr als 2000 Mitarbeiter in Forschung und Entwicklung. Als Vorbild für zukunftsorientierte Strategie könne auch Biontech dienen. Deep-Tech statt High-Tech.
Wenn Apple 767 Zulieferer in Deutschland habe, dann verteilen sich diese quasi unsichtbar auf die vielen Stufen der extrem komplizierten Wertschöpfungskette für elektronische Chips, Sensoren und was alles dazu gehört. “Beiersdorf und Henkel liefern für das iPhone Dutzende von hochspezialisierten Klebstoffen, die jeweils andere Funktionen erfüllen.”
Um mit Deep-Tech Erfolg zu haben, brauche es sehr große Tiefe, die in Kompetenz, in der Zeit oder in der Komplexität der Wertschöpfungskette gründen kann. Können wir damit leben? “Ich glaube schon, denn auch in der alten Welt lagen unsere Stärken nicht in Produkten und Dienstleistungen für Konsumenten. Wir hatten nie weltführende Konsumgüterfirmen wie Coca-Cola, Procter & Gamble, McDonald’s, Starbucks oder Marriott. Aber wir waren und sind führend in industriellen Produkten und Prozessen. Wenn wir auf diesem Gebiet unsere Wettbewerbsfähigkeit ausbauen und verteidigen, dann kann das für ein Land, das nur ein Prozent der Weltbevölkerung ausmacht, zu dauerhaftem Wohlstand reichen”, resümiert Simon.
Am Freitag werde ich mit Hermann Simon sprechen.
Man merkt dem Beitrag an, dass er es von der Unternehmensseite statt von der Seite der Verbraucher sieht.
“Auch in der Digitalisierung in öffentlichen Bereichen wie Verwaltung oder Gesundheitswesen hinken wir hinterher.”
Im Gesundheitswesen fallen derart sensible Daten an, dass sie wesentlich besser vor Black Hats geschützt sind, wenn man sie lieber nicht digitalisiert.
Nebenbei gilt: Jeder einzelne Ransomware-Befall ist unabhängig von der anschließenden Öffentlichkeitsarbeit ein Armutszeugnis für das betroffene Unternehmen. Denn in den meisten Fällen dürfte der Schuldige ein D*** im Unternehmen sein, der noch immer nicht das Memo bekommen hat, dass man nicht auf alles klicken darf, was nicht bei 3 auf dem Baum ist.
Handelsblatt-Kommentar: Natürlich hat Viessmann einen großen Vorteil: Der Name hat bei Verbrauchern und Installateuren einen guten Klang. Das enge Vertriebsnetz dürfte für den Käufer aus Amerika besonders attraktiv sein. Schließlich sind es die Installateure, die einem Kunden ein Produkt verkaufen. Aber die Lieferschwierigkeiten sind so massiv und die Möglichkeiten der Asiaten so groß, dass die Konkurrenz auch ohne klangvolle Namen Anlagen in Deutschland verkaufen kann.
Die Familie Viessmann hätte sicher Alternativen gehabt. Sie hätte sich Kapital über eine Anleihe besorgen oder Investoren in das Unternehmen holen können. Für den Industriestandort Deutschland wäre das besser gewesen. Das wichtige Produkt Wärmepumpe wäre vom deutschen Marktführer weiter in Eigenregie gebaut worden.
Die Eigentümerfamilie um CEO Max Viessmann hat sich gegen das Risiko entschieden und für den nach Brancheneinschätzungen üppigen Kaufpreis. Das ist zu bedauern, aber nachvollziehbar. Die Kehrtwende, die die Politik vorgegeben hat, war einfach zu abrupt.
Für den Industriestandort Deutschland ist der Verkauf schade, aber keine Tragödie. Viessmann wird zwar mit neuem Eigentümer, aber weiter hier produzieren – und noch mehr Wärmepumpen nach Deutschland bringen, als es allein möglich gewesen wäre. Deutschland kann jede Wärmepumpe gebrauchen, auch die aus Asien. Je mehr geliefert werden, umso schneller sinken die Preise.
JÜRGEN FLAUGER
Aus dem Handelsblatt-Interview mit Professor Justin Wolfers:
US-Präsident Biden investiert mit dem Inflation Reduction Act (IRA) und dem Chips Act massiv in eine Reindustrialisierung der USA. Wie beurteilen Sie diese Wirtschaftspolitik?
Kurzfristig zeigen beide Gesetzespakete, dass die Regierung die Fiskalpolitik als antizyklisches Instrument einsetzt, das in den vergangenen Jahrzehnten größtenteils verloren gegangen war. Und sie zeigen, dass die Regierung die Fehler der Finanzkrise von 2008 nicht wiederholen will, als wir zu wenig getan haben und sich die Krise daher zu lange hingezogen hat.
Und langfristig?
Langfristig ist die Regierung überzeugt, dass staatliche Investitionen das Wirtschaftswachstum ankurbeln können, teilweise durch Infrastrukturinvestitionen. Und man kann sicher argumentieren, dass uns in den USA eine angemessene Infrastruktur fehlt. Außerdem wettet die Regierung auf eine Art moderne Industriepolitik – und von dieser Wette bin ich nicht wirklich überzeugt.
Aber die Unternehmen haben seit dem Chips Act und dem IRA bereits mehr als 200 Milliarden Dollar neue Investitionen in Fabriken angekündigt …
200 Milliarden klingt sehr beeindruckend. Wir müssen aber auch bedenken, dass dies eine Volkswirtschaft von 25 Billionen Dollar pro Jahr ist. Und wie viele Milliarden würden sowieso investiert werden? Auch in ein oder zwei Jahrzehnten wird es sehr schwer sein zu wissen, ob sich diese Industriepolitik ausgezahlt hat, und auch, welche technologischen Fortschritte wir ohne diese Investition erzielt hätten.
Die europäischen Länder haben Angst, dass ihre Industrie Kapazitäten an die USA verliert. Ist das berechtigt?
Es gibt insbesondere für Deutschland Anlass zur Sorge. Dies ist ein Präsident, der es aus Gründen, die ich nicht nachvollziehen kann, für eine gute Idee hält, dass die USA führend in der Warenfertigung sein müssen. Ich dagegen mag alle Arten von Bruttoinlandsprodukt. Ich mag Waren und Dienstleistungen. Ich mag innovative Dinge. Ich verstehe nicht, warum wir uns alle in ein Rennen um die Schaffung von Fabrikjobs begeben, die nicht besonders angenehm sind. Aber das ist meine Ansicht. Das ist ganz klar nicht die Ansicht des Präsidenten.
Was ist die Ansicht des Präsidenten?
Der Präsident will buchstäblich Fabrikarbeitsplätze schaffen. Das liegt ihm sehr am Herzen. Und das hat zu den Investitionen geführt, die es wahrscheinlich attraktiver machen, größere Produktionskapazitäten in den USA anzusiedeln. Das bedeutet, dass US-Firmen einige ihrer Produkte stärker von US-Fabriken kaufen werden als von deutschen.
Hat Biden recht, so zu handeln, wie er es tut?
Wenn ich mit dem Präsidenten in einem Raum säße, würde ich sagen: Ich mag die meisten Teile Ihrer Wirtschaftspolitik. Aber wenn Sie bestimmte Jobs anderen vorziehen, dann würde ich höher bezahlte Jobs den schlechter bezahlten Jobs vorziehen. Ich bevorzuge Jobs, die keine schwierige, sich wiederholende Arbeit beinhalten. Die, die das Gehirn beanspruchen. Tatsächlich hoffe ich für die nächsten Generationen, dass ihnen alle möglichen Jobs offenstehen.
Horst Albach forschte über das Innovationsmanagement. Eine Erkenntnis: Faktoren Branche und Firmengeschichte sind wichtig. “Das bedeutet nichts anderes, als dass die Entscheidungen der Unternehmensmitarbeiter, die Innovationen durchführen, am stärksten durch die Besonderheiten ihres eigenen Unternehmens und durch ihre Mitbewerber beeinflusst werden.” Apple – Microsoft zum Beispiel.