#Fresach verabschiedet Wahrheitscharta – Schon dieser Wahrheitsanspruch ist problematisch

Zum Abschluss der Europäischen Toleranzgespräche 2024 hat das Kuratorium des Denk.Raum.Fresach eine Wahrheitscharta verabschiedet, in der die Grundlagen und Methoden zur Erforschung von Wahrheit definiert werden. Regierungen und Zivilgesellschaft seien aufgerufen, das Vertrauen in wissenschaftliche Verfahren zur Wahrheitsfindung zu stärken, heißt es da. Dies könne nicht durch Verordnungen oder Gesetze, sondern nur durch öffentlichen Dialog und sorgfältige Begründung gelingen. 

Über Jahrhunderte hätten Religion und Politik in Europa bestimmt, was als Wahrheit zu gelten habe. Erst mit der Aufklärung und der Stärkung von Wissenschaft und Forschung im 19. Jahrhundert sei es möglich geworden, überholte Wahrheiten zu hinterfragen und neue Wahrheiten zu definieren. Doch auch die neuen Wahrheiten unterliegen ständigem Einspruch und Widerspruch. Darum seien Bildung, Wissenschaft und Forschung so zentral für die Wahrheitsfindung, für das Wohlergehen der Gemeinschaft wie auch für eine lebendige Demokratie.

Besonderes Augenmerk legt die Charta auf „alternative Wahrheiten“ (waren das nicht alternative Fakten????), die von Kräften verbreitet werden, denen es nicht um Wahrheit, sondern um die politische Macht geht. Die Herausforderung, deren Lügen zu identifizieren und aufzudecken, werde aufgrund der Möglichkeiten Künstlicher Intelligenz und der Anwendung falscher Algorithmen immer dringlicher. Es müssten daher selbst KI-Techniken angewendet werden, um deren Unwahrheiten und Fälschungen sichtbar zu machen. Hier gehe es nicht um Zensur, sondern um das gemeinsame Bekenntnis zur Wahrheit. Soweit ein Auszug der Pressemitteilung.

Wissenschaftstheoretisch hätte sich Fresach wohl besser mit dem kritischen Rationalismus auf den Spuren von Hans Albert beschäftigen sollen. Wer kann schon „Wahrheiten“ für sich beanspruchen? Auch neue Wahrheiten unterliegen ständigem Einspruch und Widerspruch. So steht es in der Charta. Eine Selbstverständlichkeit. Albert hinterfragt das sogar noch radikaler: „Nichts ist unbezweifelbar. Nichts gilt als sakrosankt. Nichts und niemand sind unfehlbar. Nichts und niemand sind Kritik und strenger Prüfung entzogen. Alles und alle sind prinzipiell und jederzeit kritisierbar. Dogmen oder angeblich unfehlbare Autoritäten und Wahrheitsansprüche sind abzulehnen. Wenn jeder fehlbar ist, keine Instanz oder Autorität der Kritik entzogen oder immun gegen sie ist, gilt dies genauso für Überzeugungen, Maßnahmen, gesellschaftliche Normen und menschliche Bedürfnisse.“ Nachzulesen in der Festschrift zum 100. Geburtstag von Hans Albert, erschienen in der Schriftenreihe der Karl Popper Foundation 10.

Jenseits absoluter Gewissheit, jenseits von Wahrheits- und Weltanschauungsmonopolen oder Letztbegründungen geht es immer nur um Vermutungswissen. Wer neue Wahrheiten beansprucht, ist schon ein Schritt in Richtung der Anmaßung. Egal wer sie herausposaunt: Donald Trump oder der Papst.

Exkurs zu Albert, weil es in den Kommentaren dazu eine Debatte gibt:

Hans Albert lehnt den Wahrheitsbegriff ab, weil er die Verwechslung von Wahrheit und Wirklichkeit als tief in Religion und Mythos verwurzelt sieht. Albert argumentiert, dass die Idee der Wahrheit häufig religiöse Ursprünge hat, wobei Wahrheit oft mit einer absoluten, unveränderlichen Realität gleichgesetzt wird. Diese Gleichsetzung findet sich in vielen Kulturen, in denen Gott als die Quelle der Wahrheit betrachtet wird. Ein prominentes Beispiel ist Jesus’ Aussage: „Ich bin die Wahrheit“ (Johannes 14:6).

Albert kritisiert Wissenschaftler dafür, dass sie Wahrheit und Wirklichkeit gleichsetzen. Selbst Karl Popper schlägt vor, dass ein Sachverhalt nur dann „wirklich“ ist, wenn der ihn beschreibende Satz wahr ist. Diese Sichtweise führt laut Albert zu einer problematischen Identität von Wahrheit und Wirklichkeit. Popper, so Albert, vernachlässigt die Unterscheidung zwischen den beiden Konzepten, was letztlich zu einer idealistischen Auffassung führt, in der verbale Wahrheit und physische Wirklichkeit identisch werden.

Albert plädiert für einen konsequenten Komparativismus, bei dem es nicht um die absolute Wahrheit, sondern um die komparative Bewertung von Theorien und Problemlösungen geht. In den Naturwissenschaften, so Albert, sollte es darum gehen, die komparativen Schwächen und Vorzüge von Theorien zu identifizieren und Verbesserungen zu entwickeln. Ziel der Wissenschaft sei es, der Wirklichkeit immer näher zu kommen und nicht der Wahrheit. Wissenschaftler sollen nach Wissen streben, das der Wirklichkeit besser entspricht, anstatt nach einer abstrakten und unerreichbaren Wahrheit zu suchen.

Diese Sichtweise betont die praktische Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse und die ständige Verbesserung von Theorien und Modellen, um die Wirklichkeit genauer zu beschreiben und vorherzusagen. Alberts Ansatz stellt somit eine pragmatische und empirisch orientierte Alternative zur traditionellen Suche nach der absoluten Wahrheit dar.

Vielleicht schreibt Ihr bei den Tolenranzgesprächen 2025 mal eine Wirklichkeitscharta.

8 Gedanken zu “#Fresach verabschiedet Wahrheitscharta – Schon dieser Wahrheitsanspruch ist problematisch

  1. Anonymous

    Hallo lieber Gunnar, vielen Dank für die wertvolle kritisch-freundliche Anmerkung. Allerdings hat Fresach nie einen „Wahrheitsanspruch“ verfolgt bzw. die Wahrheit beansprucht, sondern mit der „Wahrheitscharta“ einen konstruktiv-methodologischen Weg zur Wahrheit aufgezeigt, der nur über wissenschaftliche Methoden erfolgen kann. Aber mit Hans Albert entkräftest Du einen Einspruch ja eh selbst, denn sein hier eingepflegtes Zitat besagt ja genau das, was wir sagen. Jede Wahrheit kann und muss hinterfragt werden – aber unserem Ansinnen nach eben immer nur wissenschaftlich fundiert.

  2. gsohn

    Albert hält es schlicht für unmöglich, überhaupt in die Nähe einer Wahrheit zu kommen. Und Ihr sprecht definitiv vom Erstreben „Neuer Wahrheiten“. Allein das steht klar im Widerspruch zum kritischen Rationalismus.

  3. Anonymous

    Wo liest Du das Erstreben „neuer Wahrheiten“ heraus? Der ganze Text der „Wahrheitscharta“ bezieht sich darauf, wie man überhaupt zu einer (möglichen) Wahrheit kommt. Das ist kein Widerspruch zu Hans Albert. In der Charta steht ja auch dezidiert, dass jede „neue“ Wahrheit wieder auf dem Prüfstand steht. Insofern ist das Suchen und Finden von „Wahrheit“ ein ständiger Prozess des Hinterfragens. Sei bitte nicht so apodiktisch, sondern versuche die Intention zu verstehen. Uns geht es nicht ums Postulieren von Wahrheit, sondern um den Prozess der Wahrheitsfindung … LG; Wilfried Seywald

  4. gsohn

    Steht doch im Text. Und es steht auch: Hier gehe es nicht um Zensur, sondern um das gemeinsame Bekenntnis zur Wahrheit.

  5. gsohn

    Ehrlich gesagt kann niemand von uns diese Wahrheitsfindung leisten. Das ist anmaßend. Wahrheiten, in welcher Form auch immer, haben so etwas endgültiges, theologisches. Wahrheit hat etwas apodiktisches.

  6. Anonymous

    Mein lieber Gunnar, wenn es kein Bekenntnis zur Wahrheit gäbe, könnten wir alles was Philsophie und Theologie jemals geleistet haben, kübeln. Jeder Mensch ist auf der Suche nach „Wahrheit“ (auch Du), aber bestimmt nicht auf der Suche nach „Wirklichkeit“ – die umgibt uns ja jeden Tag. Also lassen wir doch die Kirche im Dorf und wollen wir nicht besserwisserisch über Begrifflichkeiten diskutieren.

  7. Anonymous

    Noch was: Die „Wahrheit“ ist mit der „Liebe“ vergleichbar, man ist ewig auf der Suche nach ihr, aber die Erkenntnis bzw. Erfüllung oft schwer. Damit wären wir dann bei der „Wirklichkeit“ (Realität) angekommen …

  8. gsohn

    Mein lieber Wilfried, jetzt baust Du aber Strohmänner auf. Der eine Wahrheitscharta schreibt, muss sich halt auch auf das Feld der Wissenschaftstheorie begeben. Ich halte Eure Wahrheitscharta für anmaßend. So richtig gut sind Dein Repliken nicht. Mehr Substanz bitte.

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