Markus Gabriel, Daniel Leese und Alexander Görlach über chinesisches Denken heute

Kann das chinesische Denken uns neue Perspektiven eröffnen? Diese Frage steht im Mittelpunkt eines Diskurses zwischen dem Philosophen Markus Gabriel, dem Sinologen Daniel Leese und dem Publizisten Alexander Görlach. Dabei wird das Werk „Alles unter dem Himmel: Vergangenheit und Zukunft der Weltordnung“ von Zhao Tingyang diskutiert, das einen tiefen Einblick in das zeitgenössische chinesische Verständnis von Weltordnung und politischer Philosophie bietet.

In der Diskussion wird deutlich, dass es einen großen Nachholbedarf an Wissen über China gibt. Obwohl in den vergangenen 150 Jahren viele chinesische Texte übersetzt wurden, fehlt es immer noch an vernünftigen deutschen Texten über zeitgenössische chinesische Philosophie und politische Philosophie.

Es wird deutlich, dass viele gängige Vorstellungen über das chinesische Denken in westlichen Diskursen verzerrt sind. Die Idee, dass es ein kollektivistisches chinesisches Denken gibt, während der Westen individualistisch ist, ist ein falsches Narrativ. Das chinesische Denken ist viel komplexer und vielfältiger als diese vereinfachten Vorstellungen vermuten lassen. Es gibt keine klare Trennung zwischen Ost und West, sondern eine kontinuierliche Wechselwirkung und gegenseitiges Lernen.

Ein zentrales Thema in der chinesischen Philosophie ist das Konzept des „human becoming“ im Gegensatz zum westlichen Konzept des „human being“. Die chinesische Philosophie betont den Fluss, die Veränderung und die Instabilität der Realität. Es geht nicht darum, feste und ewige Substanzen zu identifizieren, sondern um das Verständnis der Welt als chaotisch, relational und instabil. Dieses Verständnis beeinflusst auch die Reflexion über den Menschen in der zeitgenössischen chinesischen Philosophie.

Ein weiterer wichtiger Aspekt ist das Bewusstsein für die Macht der Ideen in China. Anders als im Westen gibt es in China ein starkes Bewusstsein für die politische Bedeutung von Philosophie und Ideologie. Dies führt jedoch auch dazu, dass bestimmte Themen und Diskussionen staatlich kontrolliert werden und es wenig Raum für kritische Reflexion gibt.

Trotz dieser Einschränkungen gibt es in China eine lebendige Debatte über Themen wie künstliche Intelligenz und Ethik. Es gibt ein Bewusstsein für universale Werte, das jedoch mit den lokalen Bedingungen und spezifischen Herausforderungen in China in Einklang gebracht werden muss. Die Diskussionsteilnehmer betonen die Bedeutung eines Dialogs, der auf Gegenseitigkeit und Respekt basiert, um ein tiefes Verständnis des chinesischen Denkens zu entwickeln.

Wie beeinflusst die chinesische Geschichte die gegenwärtige politische Situation in China? Diese Frage wirft ein interessantes Licht auf die komplexe Beziehung zwischen Geschichte, Ideologie und politischer Realität in China. In der postmodernen Welt haben wir den Fehler gemacht zu glauben, dass der Pluralismus die grundlegende Wertehaltung ist, die die Vielfalt der Menschen widerspiegelt. Doch wie wird dieser Pluralismus in China interpretiert und umgesetzt?

Die chinesische Geschichte spielt eine entscheidende Rolle bei der Gestaltung der politischen Landschaft in China. In der postmodernen Ära wurde der Pluralismus als Antwort auf die Globalisierung und die Vielfalt der Kulturen eingeführt. Doch während die westliche Welt den Pluralismus als eine Tatsache des menschlichen Lebens akzeptierte, entstanden in China neue narrative Erzählungen, die auf der Idee eines starken Nationalstaates basierten.

Diese neuen Erzählungen, die von der chinesischen Propaganda gefördert werden, betonen die Bedeutung der nationalen Identität und des Patriotismus. Sie dienen als Überbau, der die chinesische Gesellschaft zusammenhält und die politische Stabilität gewährleistet. Dabei wird die Geschichte als Begründung für die gegenwärtige chinesische Politik herangezogen. Die Idee eines starken China, das seine historische Rolle als führende Macht wiedererlangt, wird als moralischer Auftrag betrachtet.

Trotz der täglichen Repressionen der Staatspartei gibt es mutige Stimmen in China, die versuchen, die Grenzen des Sagbaren auszuloten. Historiker und Intellektuelle setzen sich mit Fragen der Identität, des Patriotismus und der politischen Philosophie auseinander. Sie versuchen, einen Raum für kritische Reflexion zu schaffen, auch wenn sie dabei Gefahr laufen, ihre Positionen zu verlieren.

Die Corona-Pandemie hat die Freiheitsräume in China weiter eingeschränkt. Kritik und Dissens werden als Bedrohung für die nationale Einheit betrachtet und unterdrückt. Die chinesische Regierung nutzte die Pandemie, um ihre Macht zu festigen und die Kontrolle über die Bevölkerung zu verstärken.

In China ist Philosophie eng mit Politik verbunden, und man muss immer um sein Leben fürchten, wenn man sich in der politischen Arena bewegt. Dies ist besonders in der Gegenwart der Fall. In den 80er Jahren war es etwas anders, da gab es noch mehr Freiheit. Aber die Frage nach transzendentalem Denken in China bleibt bestehen. Gibt es so etwas wie Transzendenz in China? Diese Frage kann noch weiter diskutiert werden.

Es gibt jedoch Möglichkeiten, Kritik zu äußern. Etwa über Kommentare zu alten Texten. Eine andere Möglichkeit besteht darin, in kleinen privaten Räumen zu sprechen. Es ist jedoch schwierig geworden, kritische Diskussionen über E-Mails oder in größeren Räumen zu führen. Der Raum für kritische Diskussionen ist kleiner geworden.

Ein weiterer Punkt des Kölner Gespräches dreht sich um die Auswirkung des Neoliberalismus auf China.

Gibt es dort eine kritische Auseinandersetzung mit dem neoliberalen Modell? Und welche Rolle spielt China in den aktuellen Diskursen über den Neoliberalismus?

In den vergangenen Jahren ist China zu einer globalen Supermacht aufgestiegen. Doch während das Land wirtschaftlich erfolgreich ist, gibt es auch eine wachsende Kluft zwischen Arm und Reich. Diese Ungleichheit hat dazu geführt, dass immer mehr chinesische Intellektuelle den Neoliberalismus kritisch hinterfragen.

Die Frage, ob der Neoliberalismus die Ursache für die soziale Ungleichheit in China ist, wird intensiv diskutiert. Einige argumentieren, dass die wirtschaftlichen Reformen, die China in den letzten Jahrzehnten durchgeführt hat, zu dieser Ungleichheit geführt haben. Andere wiederum sehen die Ursache eher in politischen und sozialen Umständen.

Es gibt eine Vielzahl von kritischen Stimmen in China, die sich mit der sozialen Frage auseinandersetzen. Diese Stimmen kommen sowohl aus der neomarxistischen als auch aus der Neuen Linken-Bewegung. Sie argumentieren, dass China gegensteuern muss, um die wachsende Ungleichheit zu bekämpfen.

Ein zentraler Begriff in dieser Debatte ist „Gongtong Fuyu“, was so viel bedeutet wie „gemeinsamer Wohlstand“ oder „Reiche müssen teilen“. Dieser Begriff wurde von dem chinesischen Denker Deng Xiaoping geprägt und hat in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen. Er steht für die Idee, dass der Wohlstand in der Gesellschaft gerecht verteilt sein sollte.

Es gibt jedoch auch Stimmen, die argumentieren, dass der Neoliberalismus in China erfolgreich war und dass die wirtschaftlichen Reformen das Land vorangebracht haben. Sie sehen die soziale Ungleichheit als unvermeidliche Folge des wirtschaftlichen Wachstums.

Es ist wichtig zu beachten, dass der Diskurs über den Neoliberalismus in China von der Regierung kontrolliert wird. Es gibt klare Grenzen, was diskutiert werden darf und was nicht.

In den chinesischen Denktraditionen gibt es bereits seit langer Zeit Konzepte, die dem westlichen Universalismus ähneln. Dieser Aspekt wird jedoch im Westen oft nur am Rande erwähnt. Es ist wichtig zu erkennen, dass Universalismus keine ausschließlich westliche Erfindung ist. Ein Beispiel dafür ist die bekannte Redewendung „Das Kind ist in den Brunnen gefallen“, die auf moralische Tatsachen hinweist. Diese Position hat auch heute noch Relevanz und kann als plausible geopolitische Strategie betrachtet werden.

Die Versuche Chinas, eine neue Reservewährung zu etablieren, deuten auf eine gewisse Form der Blockbildung hin. Dabei hat China insbesondere den globalen Süden im Blick. Allerdings betont China in seiner rhetorischen Außendarstellung stets, dass es keinesfalls in ein Muster des Kalten Krieges zurückfallen möchte. Dieser Vorwurf wird den Amerikanern und Europäern teilweise gemacht. Dennoch ist die Dominanz des Dollars ein langjähriges Thema in chinesischen Debatten. China überlegt, wie es durch neue Institutionen wie die Asiatische Infrastruktur- und Investmentbank und die Seidenstraßeninitiative dem Dollar entgegentreten kann.

Es gibt jedoch keine weltweit einheitliche Begeisterung für eine von China angeführte neue Weltordnung. Die meisten Länder, einschließlich Europa, versuchen, ihre Eigenständigkeit zu bewahren und nicht ausschließlich China oder den USA zu folgen.

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