Die Nasenring-Systeme in der Netzökonomie

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Seit Jahrzehnten wird uns von Beratern sowie selbst ernannten Vordenkern aus Politik und Wirtschaft eingehämmert, dass wir in einer „nachindustriellen Gesellschaft“ leben. In den achtziger Jahren kam die „Informationsgesellschaft“ auf und seit den neunziger Jahren sprechen wir von der „Netzwerkgesellschaft“. So weit, so gut. Aber wie belastbar sind diese Managementphrasen, wenn Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu Unternehmende im Unternehmen „befördert“ werden oder flache Hierarchien fortan gelten sollen? Bullshit im Quadrat ist das.

Was dann als Kritik am Wertesystem der bürokratisch-bürgerlichen Gesellschaft in den späten siebziger Jahren über die Neuen Sozialen Bewegungen forciert wurde, reduzierten neoliberale Strömungen auf eine Demontage des Wohlfahrtsstaates. „Mit völlig verschiedenen Motiven priesen beide Autonomie und Spontanität und lehnten die Disziplin in der hierarchischen Organisation ab. Anstatt Anpassung an vorgegebene Rollen verlangten sie Individualität und Diversität. Experimente, Offenheit für Neues, Flexibilität und Veränderung wurden nun als positiv besetzte Grundwerte etabliert. Beide Bewegungen operierten mit dem attraktiven Begriff der persönlichen Freiheit, wobei die Neuen Sozialen Bewegungen diesen in einem sozialen Sinn als Freiheit der Persönlichkeitsentfaltung und des Zusammenlebens verstanden, die neoliberale Politik ihn hingegen in einem ökonomischen Sinn als Freiheit des Marktes begriff“, kritisiert Felix Stalder.

Flache Hierarchien ohne Freiheitsgewinn

Ein Heer von Managementberatern, Umstrukturierungsexperten und neuen Unternehmern plädiert für flache Hierarchien, Eigenverantwortlichkeit, Innovation und Flexibilität – ohne die Machtstatik auch nur in Ansätzen anzutasten. „Größere Unternehmen wurden restrukturiert, so dass sich ganze Abteilungen als eigenständige ‚profit centers‘ wiederfanden. Dies geschah unter der Maßgabe, mehr Spielraum zu ermöglichen und den Unternehmergeist auf allen Ebenen zur Entfaltung zu bringen mit dem Ziel, die Wertschöpfung zu erhöhen und dem Management bessere Durchgriffsmöglichkeiten an die Hand zu geben“, so Stalder. Sozialstaatliche Absicherung Einzelner hält man für überholt. Kollektive Institutionen, die für eine gewisse Stabilität in der Lebensführung sorgen können, gelten als bürokratische Hindernisse. Um politische Freiheit, soziale Verantwortung und Autonomie geht es den Flexibilisierungsideologen ganz und gar nicht. Sie wollen mehr Spielraum für ihre Nasenring-Systeme bekommen.

Indirekte Steuerung

Sie wollen frei und anarchisch ihren Geschäften nachgehen, ohne von öffentlich dokumentierten Regeln, Gesetzen und demokratisch legitimierten Institutionen gestört zu werden. Sie wollen ihren kybernetischen Steuerungsobsessionen freien Lauf geben. Also das, was als digitaler Darwinismus durchs Netz waberte. Man konzipiert den Menschen – analog zu Tieren, Pflanzen und Maschinen – als einen Organismus, der auf Reize aus seiner Umwelt reagiert. Der Verstand spielt in diesem Modell keine Rolle, relevant ist einzig das Verhalten. „Und dieses Verhalten, so die kybernetische Hypothese, kann programmiert werden. Nicht durch direkten Zugriff auf den Menschen (der wird als undruchdringbare Black Box konzipiert), sondern indirekt, durch die Veränderung der Umwelt, mit der Organismen und Maschinen via Feedback gekoppelt sind. Diese Eingriffe sind meist so subtil, dass sie für den Einzelnen nicht wahrnehmbar sind, weil es nirgends eine Grundlinie gibt, gegen die man die Neigung des ‚Bodens der Tatsachen‘ feststellen könnte“, erläutert Stalder.

Libertär ohne Liberalität

Für den Einzelnen und im Einzelfall seien die Effekte oft minimal. Aber aggregiert und über längere Zeiträume können die Effekte substantiell sein, ohne dass sie deswegen für den Einzelnen feststellbar wären. Es sind kaum bemerkbare Anstubsverfahren, mit denen die Planungsfetischisten vorgehen. Dahinter steht ein libertärer Paternalismus, der die scheinbare individuelle Wahlfreiheit mit einer nicht sichtbaren Autoritätsfigur verbindet. Das Ideal ist die „freiheitliche Bevormundung“, die man im Arbeitsleben jeden Tag erlebt. „Ganz im Geiste der Kybernetik und kompatibel mit den Strukturen der Postdemokratie sollen die Menschen über die Veränderung der Umgebung in die von Experten festgelegte Richtung bewegt werden, während sie gleichzeitig den Eindruck erhalten, frei und eigenverantwortlich zu handeln“, bemerkt Stalder. Das wird mittlerweile auch in der Politik eingesetzt, etwa durch das von dem ehemaligen US-Präsidenten Obama geschaffene Office of Information and Regulatory Affairs unter der Leitung von Cass Sunstein. In Großbritannien nennt sich das Gremium „Behavioural Insights Team“.

Begleitet wird diese unerträglich Gehirnmassage von einem Stakkato aus positiven Floskeln. Das wirkt nicht nur extern lächerlich, sondern auch intern: „Das kann so mit der Realität einer Organisation nicht übereinstimmen. Keine Organisation der Welt ist nur positiv. Deshalb entsteht ein riesiger grauer oder gar schwarzer Bereich an nicht formulierten Negativeindrücken. Und die braucht ein Ventil und das ist der Zynismus“, so der Soziologe Dirk Baecker. Zynismus sei eine Form der extrem intelligenten Beobachtung. Der zynische Kommentar ist in der Regel der letzte Kommentar zu einem Sachverhalt. Vorher schaltet man in den Modus „Dienst nach Vorschrift“ oder reagiert mit innerer Kündigung, was nach Analysen von Gallup bei 85 Prozent der Beschäftigten der Fall ist. „Der Zynismus ist die Form der Rede und die innere Kündigung ist die Form des Handelns“, konstatiert Baecker.

Das gesamte New-Work-Gebrabbel sortiere ich in diesen semantischen Management-Bullshit ein.

Leseempfehlung:

Die von mir beschriebenen Abläufe in Organisationen beziehen sich übrigens nicht nur auf privatwirtschaftliche Organisationen. Auch in NGOs, Parteien, Verbänden, in der Wissenschaft und in Behörden läuft es nicht viel anders. Egal, welche Begriffe gerade wieder durch die Management-Etagen gejagt werden, etwa Adhokratie oder dergleichen, es geht um Macht, liebwerteste ichsagmal.com-Rezipienten. Was hilft? Machtbalance:

In einer Session der Next Economy Open plädierte Patrick Breitenbach im Streitgespräch mit dem Analysten Stefan Holtel für ein Machteliten-Hacking. Man müsse Gegen-Narrative in die Organisation bringen. Die alten Eliten sind von einer Blase der Ja-Sager umgeben. Wie wäre es mit einer subversiven Injektion für kritisches Denken? Der Philosoph Karl Popper hatte eine sehr intensive Beziehung zum Altkanzler Helmut Schmidt. Das habe den früheren Regierungschef in seinem politischen Denken sehr stark geprägt.

„Popper war indirekt ein Hacker der politischen Elite“, bemerkt Breitenbach. Man brauche zudem starke Metaphern, um bei den Entscheidern der Machtelite etwas anzurichten, ergänzt Holtel.

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