
Im Social Web gibt es einen Überschuss an Polarisierung, Dauererregung und reflexhaften Aburteilungen. „Wer nicht auf eine Politik der Gefühle setzt, auf Extremismus, der macht kein Geschäft. Es gibt kein Entrinnen. Das Politische ist privat, was so viel bedeutet wie: Der Blödsinn dringt durch jede Ritze, es gibt keine Rückzugsorte mehr“, schreibt der Journalist Wolf Lotter in einem Beitrag für „Der Standard“.
Die Aufmerksamkeitslogiken von Twitter, Facebook und Co. wirken dabei wie ein Teilchenbeschleuniger.
Es dominieren kurzlebige Empörungswellen und populistisches Fastfood. Kein eigenes Denken, sondern modische Haltung to go zum schnellen Runterschlingen. Man wedelt mit dem Fähnchen im Wind, um keinen Gegenwind zu erleben.
Was wir brauchen, hat die re:publica-Konferenz im vergangenen Jahr zum Ausdruck gebracht: Ein Lob des langen Arguments. Das betonte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in seiner Eröffnungsrede. Das ist ein Bekenntnis zu Recherche, Differenzierung und Abwägung, gegen Unwissen, Grobschlächtigkeit und Vereinfachung.
Es geht nicht um die Durchsetzung von Tabula-Rasa-Methoden oder um die Allwissenheit von Politikerinnen und Politikern, die sich gerne in der Pose des Machers darstellen, sondern um eine skeptische Überprüfung des eigenen Tuns. Niemand ist in der Lage, alles richtig zu machen. Niemand kann genau wissen, wie sich Gesellschaft und Wirtschaft entwickeln – auch nicht in der Post-Corona-Zeit.
Problematisch in der Politik sei häufig die Kombination von Wirrnis und Aggressivität in der politischen Debatte, so der Wissenschaftstheoretiker Karl Popper.
Man braucht etwas anderes: Die Kraft zur genauen und nachvollziehbaren Analyse, Augenmaß und Beharrlichkeit. Und dann kommt noch ein wichtiger Punkt hinzu, die eigene Beobachtung oder Erfahrungswelt eignet sich selten für allgemeine Ratschläge.
Bei öffentlichen Ermahnungen, die gerade inflationär im Social Web ausgebreitet werden, geht es fast immer um persönliche Befindlichkeiten. Häufig sind es schnell durchschaubare Scheinkorrelationen oder gar nur lauwarme Behauptungen, wie der angebliche Zusammenhang von Homeoffice und Alkoholismus – abgeleitet nach vier Wochen Ausgangsbeschränkungen.
Selbst einige Wissenschaftler schmeißen gerade viele Standards über Bord und kommunizieren fast ausschließlich im Modus der Meinungen und anmaßenden Aburteilungen.
Als Orientierungsmaßstab eignet sich wieder Popper und die Theorie des Kritischen Rationalismus: Den Geistesblitz für seine Erkenntnisse bekam Popper in der Wiener Beratungsstelle für Kinder und Jugendliche des Individualpsychologen Alfred Adler. Dass alles menschliche Handeln durch einen tiefverwurzelten Minderwertigkeitskomplex beherrscht sein soll, konnte Popper in seiner Tätigkeit für Adler nicht überzeugen. Er berichtete Adler im Jahre 1919 über einen Fall in der Beratungsstelle, der nicht in das Schema „Inferioritätskomplex“ passte. Adler aber hatte nicht die geringste Schwierigkeit, ihn im Sinne seiner Theorie als einen Fall von Minderwertigkeitsgefühlen zu diagnostizieren, obwohl er das Kind nicht einmal gesehen hatte.
„Ich war darüber etwas schockiert und fragte ihn, was ihn zu dieser Analyse berechtigte. Meine vieltausendfältige Erfahrung, war seine Antwort; worauf ich mich nicht enthalten konnte zu erwidern: ‚Und mit diesem Fall ist Ihre Erfahrung jetzt eine vieltausend-und-einfältige‘”, konterte Popper.
In den folgenden Jahren arbeitete er an einem Kriterium, das zwischen Wissenschaft und Scheinwissenschaft unterscheidet. Adler, Freud und Co. ging es ausschließlich darum, nach Bestätigungen ihrer Theorien zu suchen – also eine induktive oder positivistische Vorgehensweise, die damals Standard war. Man schließt vom Einzelnen auf das Allgemeine. Schon Ende des Jahres 1919 kam Popper zu dem Schluss, „dass die wissenschaftliche Haltung die kritische war; eine Haltung, die nicht auf Verifikationen ausging; sondern kritische Überprüfungen suchte: Überprüfungen, die die Theorie widerlegen könnten.
Nach diesem Maßstab könnten wir doch auch jetzt vorgehen und auch in der Post-Corona-Zeit, wenn wir darüber disputieren, welche Maßnahmen richtig und welche Maßnahmen falsch waren.
Siehe auch:
Ohne Homeoffice keine Verkehrswende – Mythen und Meinungen statt Fakten
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