
Vor rund sieben Jahren dämmerte es den Interessenvertretern des deutschen Einzelhandels so langsam, dass Amazon wie ein Staubsauger die Umsätze aus allen Handelssparten absaugt. Der Digital-Readiness-Index untermauerte diese Gemengelage: Die digitale Fitness des Handels ist desaströs. Unwissen und Ignoranz von Managern gefährden Unternehmen und Arbeitsplätze.
Amazon saugt alles weg
Noch 2011 hatten viele Händler gehofft, dass sich das Internet hierzulande nicht so negativ auf ihre Umsätze auswirken werde wie etwa in den USA Gleiches trällerten ja die Verleger. Diese Hoffnungen haben sich zerschlagen. Bis heute fehlt es an smarten Antworten im digitalen Kontext.
Existieren gute Strategien für mobile Anwendungen? Wie ist der Kontakt zu den Kunden in sozialen Medien wie Facebook? Funktioniert der Onlineshop? Taucht das Unternehmen in den Suchmaschinen weit oben auf – und reagiert es schnell auf Kundenanfragen? Gibt es ein perfekte Zahlungssystem?
Kunden erwarten im Netz schnellere Lieferung, bessere Beratung und personalisierte Informationen. Kein umständliches Herumsuchen, keine komplizierten Shop-Systeme, schnelle Bestellung, einfache Handhabung. Und was ich an Amazon so interessant finde: Alles aus einer Hand. Das hat der Hamburger Trendforscher Professor Peter Wippermann im ichsagmal-Interview so schön auf den Punkt gebracht: Amazon taucht in den deutschen Handelsstatistiken gar nicht auf. Der Online-Händler entzieht sich der Branchen-Segmentierung:
„Das hängt damit zusammen, dass es eben ein ganz anderes System ist. Amazon geht nicht über Branchen, sondern es geht über die individuell massenhafte Beziehung zu Kunden“, betont Wippermann. Deshalb halte ich die Leier von Handelslobbyisten für nicht stichhaltig: „40 Prozent der Online-Bestellungen beim Media-Markt werden in einer Filiale abgeholt. Diese Verknüpfung kann Amazon nicht bieten.“ Pfffffffff.
Das mag ja für Elektronikmärkte mit einer nicht überzeugenden Online-Präsenz der Fall sein. Diese Verknüpfung ist mir allerdings völlig wurscht, weil ich keine Lust habe, mich durch die Stadt an bepissten Blumenkübeln vorbei zu quälen, um eine Bestellung bei einem Filialisten abzuholen. Umgekehrt wird ein Schuh draus. Wer Filialen vorweisen kann, sollte seinen Allerwertesten zu den Kunden bewegen und Waren vorbeibringen.
„Das klassische Ladengeschäft muss nicht mehr Teil des Distributionsnetzes sein. Als Konsument möchte ich nur die allernötigsten Artikel an Ort und Stelle mitnehmen. Was darüber hinausgeht, soll mir nach Hause gebracht werden. Statt weit zu fahren, damit ich zu einem großen Sortiment komme, werde ich zu einem Showroom gehen, wo man mir das ganze Sortiment zeigt – echt oder virtuell“, so der frühere IBM-Technologieexperte Moshe Rappaport.
Böser Beratungsklau
Es müssten nicht mehr alle Artikel im Laden vorrätig sein. Es reiche vollkommen aus, alles zeigen zu können. Nicht mehr das Produkt steht im Vordergrund, sondern der Service. Bislang passiert genau das Gegenteil. Auf die Ausdünnung der Innenstädte, wo ganze Shop-Gruppen wie Musikgeschäfte, Videotheken, Buchläden oder Elektronik-Filialen verschwunden sind oder ein kümmerliches Dasein fristen, reagieren die Funktionäre des Handels mit Kundenbeschimpfung und protestieren gegen den Beratungsklau via Smartphone und Co.:
Ins Geschäft gehen, Produkt scannen und im Internet das günstigste Angebot einkaufen. Wo käme man da hin? Wie wäre es mit einem großen Warnschild mit einem übergroßen Mobilfunkgerät mit der Aufschrift „In diesem Geschäft muss ich aus bleiben“ oder so ähnlich. Das wäre doch die richtige Jägerzaun-Abschottungsvariante, die man auf der Verlagsseite mit dem Leistungsschutzrecht realisiert hat.
Die Einzelhändler in St. Tönis klebten die Schaufenster ihrer Geschäfte aus Protest sogar mit schwarzen Folien zu, damit „ihre“ Kunden mal erleben, was das böse Internet so alles bewirken kann.
Von den Vorzügen durchbräunter „Beraterinnen“
Die Fußgängerzone der niederrheinischen Metropole mit ihren rund 50 „Fachgeschäften“ dürfte ungefähr so groß sein wie die Verkaufsmeile in Bonn-Duisdorf. Dort werde ich kompetent bedient von fünf Friseuren, vier Bäckereien, sechs Optikern, vier Schnellimpbiss-Grillmeistern und der üblichen Zahl an Telefon-Inkompetenz-hier-können-Sie-nicht-kündigen-Zentren.
Nicht zu vergessen die bezaubernden Sonnenstudios mit ihren ganzjährig gut durchbräunten Beraterinnen, den obligatorischen Nagel-Fußpflege-Haarverlängerungs-Tempeln und Massage-Salons mit den Verkaufsschildern „Ohne Erotik“.
Was für eine Fachberatung bietet denn das Verkaufspersonal in den Fußgängerzonen-Läden? Wirkliche Profiberatung finde ich eher in Foren, Facebook-Gruppen, YouTube-Filmen und bei den Kundenbewertungen im Netz, wenn sie nicht von irgendwelchen blöden Agenturen gefälscht werden. Preisvergleiche über spezielle Apps sollten für Verkäufer eher ein Ansporn sein für besseren Service und nicht mit Smartphone-Verboten beantwortet werden.
Virtuelle Assistenten optimieren den Einkauf
Deshalb ist auch die Anbieter-Diktatur von Markenartiklern und Fachhändlern ein hoffnungsloses Unterfangen, die wegen der „Beratungsintensität“ ihrer Produkte den Onlinehandel unterbinden wollen.
Beratung bekomme ich über virtuelle persönliche Assistenten, die meine Einkäufe optimieren, Produkte und Dienstleistungen bewerten und über die Expertisen anderer Kunden informieren. Das ist der Kern einer zukunftsfähigen Experience-Ecomomy, die in einer Blogparade unter dem Hashtag #BeyondCXM debattiert wird.
Unternehmen, die mit ihren vernetzt organisierten Kunden nicht mithalten können, verschwinden vom Markt. Auch Händler in St. Tönis hinter schwarzen Folien.
Wer über Rettungsaktionen des stationären Handels sinniert, sollte erst einmal über Ursache und Wirkung nachdenken:
Ob diese Vorschläge ausreichen? Innenstädte fit für die Zukunft machen.