Wie die Elite-Gichtlinge mit dem Social Web hadern – Über Klüngelsysteme und Controlling-Freaks

Die Struktur und Logik des Social Webs erschwert die Arbeit der liebwertesten Elite-Gichtlinge in Politik, Wirtschaft und Medien. Offene, freie und anarchische Systeme sind Gift für die Controlling-Freaks. Das mussten auch Steve Case und Gerald Levin schmerzlich erfahren. Siehe meine heutige The European-Kolumne.

Case war Präsident und Vorstandschef von AOL. Levin leitete den Medienkonzern Time Warner. Sie lernten sich im Weißen Haus kennen bei der Vorführung der Komödie „em@il für Dich“ – einem Film von Warner Bros. mit Schleichwerbung für AOL. Beim Zusammentreffen waren sie von der Vision elektrisiert, mit einer Allianz ihrer scheinbar unversöhnlichen Unternehmen eine perfekte neue Welt erschaffen zu können.

„AOL Time Warner kamen mit einer Riesengeschwindigkeit um die Ecke und rasten direkt in eine Mauer, die sie noch nicht einmal gesehen hatten. Bald wurde dieser Name zu einem Synonym für ‚Debakel‘“, so Tim Wu in seinem sehr lesenswerten Buch „Master Switch“, in deutscher Übersetzung in diesem Jahr im mitp-Verlag erschienen.

Der Aktienkurs rauschte in den Keller und innerhalb kürzester Zeit wurde Case aus dem Unternehmen gedrängt. Levin ging in den Ruhestand und widmet sich heute als Leiter des Moonbeam-Sanatoriums in Südkalifornien der spirituellen Erbauung von gestressten Manager-Seelen.

Beide waren von der Hybris des allumfassenden Informationsimperiums getrieben, die Levin später als eine Form von Geisteskrankheit verbunden mit dem suchtartigen Streben nach nie endendem Wachstum bezeichnete.

„Konnte das mit AOL und Time Warner denn überhaupt funktionieren? Das Unternehmen hätte letztlich den Charakter des Internets verändern und das Netz in eines verwandeln müssen, in dem ‚fremde‘ Inhalte – also alle, außer denen von Time Warner – geblockt oder nachrangig behandelt werden können“, so Wu.

Alternativ hätte das Fusionsmonster auch versuchen können, die Kontrolle über die Öffner des Netzes zu übernehmen, vor allem über die Suchmaschinen, die den Nutzern das gaben, was sie wollten. Um lebensfähig zu sein, hätte AOL Time Warner die Prinzipien der Netzneutralität umstoßen müssen. Alte Netzwerker lieben geschlossene Silos, die ihnen die volle Kontrolle über ihre Machtkonglomerate geben. Ein Gedanke, der wohl auch beim Leistungsschutzrecht zur wichtigsten Antriebsfeder zählt. Die Sehnsucht der Verleger nach den guten alten Zeiten der überschaubaren Medienwelt ist wohl der gemeinsame Nenner einer fast einheitlichen Agitation zur Rettung von liebgewonnenen Pfründen.

Das hat Zeit-Online-Chefredakteur Wolfgang Blau in seiner fulminanten Rede bei einer Urheberrechts-Fachtagung von Bündnis 90/Die Grünen zum Ausdruck gebracht (nachzulesen bei Stefan Niggemeier).

„Vielleicht tue ich Ihnen Unrecht, aber man wird zumindest den Eindruck nicht los, dass die arrivierten Politiker, diejenigen, die bereits über gute persönliche, oft ja freundschaftliche Netzwerke in die traditionellen Medien verfügen, am wenigsten geneigt sind, beim Thema Urheberrecht progressive Positionen zu vertreten. Es scheinen in allen großen Parteien besonders die Jungen und zusätzlich noch die von den traditionellen Medien weniger Beachteten zu sein, die sich beim Urheberrecht gegen die Interessen der Verlegerverbände stellen, also all die, die ohnehin wenig Journalistengunst zu verlieren haben oder die bereits gelernt haben, dass sie auch im Netz und ohne traditionelle Medien große Öffentlichkeit erreichen können.“

Selbst das schärfste und rigideste Urheberrecht würde nicht verhindern können, dass die Verlagslandschaft in den nächsten Jahren weiter aus den Angeln gehoben wird.

„Wer glaubt, die letzten zehn Jahre seien transfomativ und herausfordernd gewesen, sollte sich darauf einstellen, dass mit der jetzt einsetzenden Nutzungsverlagerung ins mobile Netz noch viel dramatischere Entwicklungen, Umsatz– und Auflageneinbußen bevorstehen als in den letzten Jahren. Das Urheberrecht wird das nicht aufhalten können. Und: Würde Google nicht existieren, ginge es den Verlagen keinen Deut besser“, erläutert Blau.

Am Ende werden Springer und Co. ähnlich bedröppelt dastehen wie Case und Levin. Und das ist gut so!

Da bevorzuge ich doch die virtuelle Vernetzung, die wir beispielsweise am Freitag nächster Woche praktizieren.

Sinnvoll ist übrigens die Maßnahme von Twitter: „Ab sofort kann jeder Account mit einem eigenen Header-Bild ähnlich dem Coverfoto bei Facebook personalisiert werden. Damit macht Twitter einen weiteren Schritt in Richtung vollwertiges Social Network“, so tn3 t3n (ich Depp, Danke für den Korrekturhinweis).

Dass die alten Netzwerker auch Schwierigkeiten im Umgang mit Bloggern haben, wenn sie nicht nur virtuell, sondern real auftreten, belegte die gestrige Photokina-Bloggertour, die von Pia Kleine Wieskamp (Pearson-Verlag) hervorragend organisiert wurde. Immerhin waren alle Firmen, die von den rund 60 (!) Bloggern aufgesucht wurden, von Pia über den Besuch informiert worden und konnten sich entsprechend vorbereiten.

Besonders negativ sind mir dabei Nikon und Samsung in Erinnerung geblieben, da sie das Ganze zu einer reinen Heizdecken-Verkaufs-Show degradierten. Auf die Nachfrage von Pia, die an jeder Station der Bloggertour von ihr gestellt wurde, wie denn nun die Blogger mit der Firma in Kontakt treten können, kam von den großen Konzernen wie Samsung die Plattitüde, man sei ja nur für das Marketing zuständig. Da müsse man sich dann an die Pressestelle wenden.

Häufig waren die Marketingmanager in Personalunion auch für Social Media zu ständig.

Und hier liegt genau die Ursache für den etwas hölzernen Umgang mit den Bloggern (dumm nur für die Firmen, dass unter den 60 Bloggern richtig gute Spezialisten für Fotografie waren – wobei ich mich als Knipser natürlich ausnehme). Das habe ich ja auch in meiner Kolumne am Freitag aufgegriffen: Die Lila-Laune-Kommunikation der Unternehmen versagt im Social Web.

Aber ich will ja nicht nur meckern. Es gab auf der gestrigen Bloggertour auch positive Beispiele. Etwa die Firmen Vanguard, Datacolor oder video2brain, die intensiv mit Photo-Bloggern zusammenarbeiten. Und natürlich der Pearson-Verlag und die Arbeit von Pia. An der Art und Weise, wie sie ihre Facebook-Community pflegt, können sich die meisten Firmen eine Scheibe abschneiden. Sonst wären gestern auch keine 60 Blogger zur Photokina gekommen 🙂

Weitere Fotos zur Bloggertour findet Ihr hier.