Solinger Zukunftsdiskurs: Auf der Suche nach neuen Wirtschafts- und Gesellschaftsmodellen

Beim 11. Solinger Zukunftsdiskurs diskutierten Martina Dietrich, Vorstand der Gemeinwohl-Ökonomie Rheinland e. V., die Autorin Julia Friedrichs, Prof. Dr. Markus Gabriel von der THE NEW INSTITUTE Foundation und Sarah Philipp, Co-Vorsitzende der NRW SPD, über die drängenden Fragen unserer Zeit: Wie gestalten wir eine gerechtere Zukunft, in der ethisches Handeln, Solidarität und politische Verantwortung im Zentrum stehen?

Die Teilnehmer waren sich einig, dass sowohl der Sozialismus als auch der Kapitalismus der Chicagoer Schule an ihre Grenzen gestoßen sind. Mit dem Scheitern dieser Systeme wächst die Notwendigkeit, neue Wege zu beschreiten. Die Diskussion zeigte deutlich, dass die Herausforderungen unserer Zeit – von Ungleichheit und Klimawandel bis hin zur Ressourcenverschwendung – ein Umdenken erfordern. Ein dritter Weg, wie ihn Deutschland einst mit der Gemeinwirtschaft beschritt, scheint überholt, doch die Suche nach alternativen Modellen bleibt aktuell.

Die Teilnehmer beleuchteten verschiedene Aspekte der gegenwärtigen Situation: Die marode Infrastruktur als Symbol des Staatsversagens, die Notwendigkeit von Solidarität und politischem Engagement sowie die Rolle des Einzelnen in diesem Prozess. Insbesondere im Kontext der anstehenden Europawahlen wurde die Bedeutung eines starken, politischen Angebots betont. Es geht darum, jetzt zu handeln, um Visionen für eine gerechtere Zukunft zu schaffen und umzusetzen.

Eines der Kernthemen der Diskussion war die Frage, wie wir eine Wirtschaft gestalten können, die ethische Werte berücksichtigt und sich nicht allein am Profit orientiert. Die Idee einer Gemeinwohlökonomie, in der Unternehmen sich selbst auf ihren Beitrag zum Gemeinwohl hin überprüfen, wurde als ein Schritt in die richtige Richtung vorgestellt. Doch auch die politischen Rahmenbedingungen müssen diese Entwicklung unterstützen und das Machtgefälle in der globalen Wirtschaft adressieren.

Die Diskussion verdeutlichte, dass die Herausforderungen groß sind, aber auch, dass es an der Zeit ist, mutige Schritte zu wagen. Die Teilnehmer stimmten darin überein, dass eine gerechtere und nachhaltigere Zukunft möglich ist, wenn wir bereit sind, neue Wege zu beschreiten und Verantwortung zu übernehmen – sowohl auf politischer als auch auf individueller Ebene. Der 11. Solinger Zukunftsdiskurs bot hierfür wichtige Impulse und Denkanstöße.

Die Visionen der Panel-Runde:

Markus Gabriel:

Der Bonner Philosoph spricht beim Solinger Zukunftsdiskurs Klartext: „Wir müssen ein größeres Bild zeichnen und die Details einfügen. Studien zeigen, dass wir Menschen eine besondere Art von pro-sozialen Säugetieren sind. Wir sind die einzigen Tiere, die ihr Verhalten an der Idee des Fortschritts ausrichten können. Delfine diskutieren keine Gendergerechtigkeit und Löwen überlegen nicht, ob sie vegan werden sollen. Wir schon.“

Er betont, dass wir Menschen eine besondere Klasse von Fähigkeiten haben, die uns ethische Verpflichtungen gegenüber anderen Tieren auferlegt. „Ich schulde der Löwin, ihr Kind nicht zu erschießen. Die Löwin schuldet meinem Kind nicht, es nicht zu reißen. Weil die Löwin keine Ahnung hat davon, was sie tut.“

Gabriel spricht die Sonderstellung des Menschen an, die auch Darwin bestätigt hat. „Wir sind nicht nur Tiere. Wir haben eine moralische Sonderstellung. Und das bedeutet, dass alles, was wir als soziale Tiere tun, die in der Lage sind, Mehrwert zu erzeugen, eine besondere Bedeutung hat. Kein anderes Tier kann das.“

Der Bonner Philosoph stellt den Kapitalismus als eine besondere Art von Mehrwert-Produktionsmaschine dar und stellt die Frage, ob wir es schaffen, Mehrwert zu produzieren, den wir verdient haben. „Wenn das nicht der Fall ist, werden viele aus moralischen Gründen nicht mitspielen. Dann bekommen wir entweder moralischen Protest oder unmoralischen Protest. Aber wir bekommen Unzufriedenheit. Und darauf müssen wir antworten.“

Er spricht die Rolle der Politik an und unterstreicht, dass es eine falsche Vorstellung ist, dass nur Berufspolitikerinnen und Berufspolitiker die Aufgabe haben, auf Unzufriedenheit und radikale Ideen zu reagieren. „Wir müssen bottom-up und top-down kombinieren. Und dann müssen wir tatsächlich radikale Ideen diskutieren.“

Er bringt die Diskussion über Maximaleinkommen, Erbschaftspool und bedingungsloses Grundeinkommen ins Spiel. „Wir müssen die radikaleren Sachen diskutieren. Und um die überhaupt diskutieren zu können, brauchen wir natürlich eine Machtverschiebung.“ Dazu gehören Gewerkschaften und ganz viel aus dem Portfolio der SPD.

Gabriel sieht die Notwendigkeit, die Machtverhältnisse zwischen den Vermögenden und den Arbeitenden richtig zu justieren und betont die Rolle der SPD dabei. „Das brauchen wir. Aber wir müssen auch wirklich bottom-up denken.“

Er spricht die Alltagsbedürfnisse an und erwähnt die Wahrnehmung einer maroden Infrastruktur. „Die Deutsche Bahn ist gerade der Signifikant für die deutsche Gesellschaft. Das müssen wir, glaube ich, ernster nehmen.“

Er plädiert für eine geistige Erneuerung und hebt die Rolle der Ethik im Systemwettbewerb hervor. „Wenn wir nicht die moralisch Besseren sind, in jedem Sinne, im Vergleich zu China oder Russland, dann werden wir das Ding verlieren.“

Sarah Philipp:

Die Co-Vorsitzende der NRW SPD unterstreicht, dass ihre Rolle als Politikerin darin besteht, groß zu denken und konkrete Ergebnisse zu liefern. Ein Paradebeispiel dafür ist der Mindestlohn. Ein Thema, das die SPD über ein Jahrzehnt lang hartnäckig verfolgt hat.

Es war ein langer und steiniger Weg, geprägt von endlosen Debatten. Doch letztendlich hat sich der Kampf gelohnt. Der Mindestlohn wurde eingeführt, und das nur, weil die SPD Teil der Bundesregierung war. Keine andere Parteienkonstellation hätte dieses Ergebnis erzielt.

Dieser Erfolg untermauert die Bedeutung von Geduld und Ausdauer, selbst wenn die Mehrheiten nicht sofort vorhanden sind. Philipp betont, dass sie nicht vorhat, sich zu verstecken oder Ausreden zu suchen. Sie ist sich bewusst, dass sie sich auf das konzentrieren muss, was sie umsetzen kann und will.

Die Einführung des Mindestlohns ist ein leuchtendes Beispiel dafür, wie wichtige Veränderungen erreicht werden können. Aber es erfordert einen langen Atem.

Inmitten der hitzigen Debatten, die jede Woche von einem neuen großen Thema dominiert werden, sieht Philipp die Notwendigkeit, sich Zeit zu nehmen. Zeit, um große Debatten zu führen und grundlegende Programme zu diskutieren.

Die SPD ist oft zu sehr auf Maßnahmen konzentriert, getrieben von der Erwartung, schnell Ergebnisse zu liefern. Aber Philipp glaubt, dass es wichtig ist, auch über systemische Fragen und gesellschaftliche Debatten zu sprechen.

Die SPD ist klar in ihrem Kompass – sie ist die Partei der sozialen Gerechtigkeit. Aber Philipp fordert, dass die Partei mutiger in politischen Debatten auftritt und neben der Regierungsverantwortung auch Raum für Diskussionen schafft.

Julia Friedrichs:

Sie ist der festen Überzeugung, dass jeder Mensch das Recht auf ein gutes Leben hat – für sich selbst und für seine Kinder. In ihren zahlreichen Interviews hat sie festgestellt, dass die Menschen sich ein sicheres Umfeld wünschen, in dem sie frei agieren können. Sie wollen die Regie ihres eigenen Lebens führen und selbst entscheiden, wohin ihre Reise geht.

Überraschenderweise fühlen sich viele Menschen, auch diejenigen mit großen Vermögen, nicht frei in ihrem Handeln. Es mag seltsam klingen, aber diese großen Vermögen können auch eine Fessel sein, mit Erwartungen der Familie verbunden.

Friedrichs hofft für die nächste Generation, dass sie relativ frei und offen entscheiden kann, wohin ihre Reise in diesem Land geht. Sie sollte nicht gefesselt und eingeschränkt sein. Es gibt so viel Optimismus und Möglichkeiten für ein gutes Leben hier, und es ist frustrierend, dass wir bei einigen offensichtlichen Problemen nicht weiterkommen.

Die Analyse ist gemacht, die Lösungen sind da, aber die Umsetzung fehlt. Friedrichs wünscht sich, dass die Umsetzung folgt, auf welchem Weg auch immer. Sie begrüßt den Wettbewerb der Ideen, ob wir alle zum Spenden zwingen, einen Fonds einrichten, das Grunderbe nutzen oder alles zusammen. Was sie stört, ist das Vakuum der Diskussion, obwohl das Problem gut analysiert und offen dargelegt ist.

In ihrer Arbeit hat Friedrichs viel Zeit mit Vermögenden verbracht, insbesondere mit jungen Menschen aus Milliardärsfamilien. Sie hat festgestellt, dass es unter den Jüngeren eine größere Bandbreite an Positionen und Ideen gibt. Viele von ihnen spüren ein großes Unbehagen, wissen aber nicht, wie sie aus ihrer Situation herauskommen können. Sie sind mit der Aufgabe geboren, ihr Vermögen zu vermehren und zu verteidigen, und es dauert lange, bis sie sich davon befreien und offener und in andere Richtungen denken können. Dies könnte metaphorisch dafür stehen, wie wir uns alle auf einen bestimmten Pfad festgelegt haben und vielleicht davon abkommen müssen.

Martina Dietrich:

Martina Dietrich, Vorstand der Gemeinwohl-Ökonomie Rheinland e. V., spricht leidenschaftlich über ihre Vision. Sie träumt von einer Welt, in der Wirtschaft und Ethik Hand in Hand gehen. Sie glaubt, dass wir eine klare ethische Haltung brauchen, nicht nur in der Gesellschaft, sondern auch in der Wirtschaft. Sie fordert uns auf, unsere Definition von Wirtschaft zu überdenken und uns auf alte Ideen zu besinnen.

Doch ihre Vision ist nicht nur ein Traum. Sie ist real und sie beginnt jetzt. Unternehmen können heute damit beginnen, eine sogenannte Gemeinwohlbilanz zu erstellen. Sie können sich selbst prüfen und herausfinden, wie sie zum Gemeinwohl beitragen. Dieser Prozess führt zu einer kontinuierlichen Verbesserung der Unternehmen in Richtung Gemeinwohl.

Bereits über tausend Unternehmen haben diesen Schritt gewagt und erstellen Gemeinwohlbilanzen. Martina Dietrich selbst hat Workshops mit Unternehmen durchgeführt. Sie glaubt, dass Veränderungen von innen heraus beginnen können, auch in kleinen Schritten.

Doch sie betont auch, dass wir politische Rahmenbedingungen dafür brauchen. Sie spricht von Machtgefällen in der globalen Wirtschaft und der Notwendigkeit, dass die Politik auf der Grundlage einer klaren Vision von Gerechtigkeit und Solidarität handelt.

Sie weist darauf hin, dass 147 Konzerne die Weltwirtschaft beherrschen, davon sind 133 Finanz- und Immobilienkonzerne, die nichts produzieren. Sie fordert, dass wir uns auf politischer Ebene mit dieser Situation auseinandersetzen müssen.

Sie ruft dazu auf, mutig zu sein und zu unseren Überzeugungen zu stehen. Sie betont, dass wir aus einer ethischen Haltung heraus handeln müssen, die Gerechtigkeit, Solidarität und Menschenwürde in den Mittelpunkt stellt.

Sie nennt Beispiele von Unternehmen, die bereits Gemeinwohlbilanzen erstellen, wie VAUDE. Sie sagt, dass es für Unternehmer keine Ausreden gibt, nicht zum Gemeinwohl beizutragen.

Dietrichs fordert uns auf, mutig zu sein, unsere Überzeugungen zu leben und zum Gemeinwohl beizutragen. Sie glaubt, dass wir eine bessere Welt schaffen können, wenn wir uns auf unsere ethischen Werte besinnen und danach handeln.

Fotos von Lutz Becker.

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