Heute bin ich im Gedanken an meine liebe Frau Miliana, die in Tunis in ihrem Hotel festsitzt und gestern die Unruhen nach der Ermordung des tunesischen Oppositionspolitikers Shokri Belaïd hautnah miterlebte. Wie und wann eine Rückreise möglich ist, wird sich wohl erst in den nächsten Stunden klären. Miliana ist für die Deutsche Welle in einem Beratungsprojekt für die Regierung tätig. Das hat sich nun wohl erledigt. Über Skype sind wir gut verdrahtet – die Lage ist zur Zeit ruhig. Das könnte sich allerdings nach den morgigen Freitagsgebeten wieder schnell ändern – auch Tunis ist ein Pulverfass. Hoffe, Miliana kommt schnell wieder nach Hause!
Und dann ist der 7. Februar – der Geburtstag meines Papis. Er wäre heute 84 Jahre alt geworden. Leider starb er im August 1990 nach einem tragischen Unfall. Ich war zu dieser Zeit an der Uni in Chicago beschäftigt – am National Opinion Research Center. Die Nachricht über den Unfall erreichte mich mitten in der Nacht. Mein Vater lag im Koma. Ich nahm sofort den nächsten Flieger, um nach Berlin zu kommen. Bei meiner Ankunft war es schon zu spät. Kein Abschiednehmen, keine letzen Worte, kein letzter Blick. Auch daran muss ich heute denken. Mein Vater hatte es in seinem Leben nicht leicht, war aber immer eine Frohnatur.
Ein Entertainer auf Partys, Stimmen-Imitator (legendär Hans Moser und Theo Lingen – für die älteren Semester sicherlich noch ein Begriff), Bassist in der Band WaHoDi (Walter, Horst und Dieter), ein Conférencier bei den Veranstaltungen des Kleingarten-Vereins Friedland III (bin ein echtes Schrebergarten-Kind), sozial engagiert (etwa beim Einsatz zum Erhalt der Kleingärten in Berlin-Britz, die eigentlich der Bundesgartenschau weichen sollten), über lange Zeit der 1. Vorsitzende von Friedland III.
Geboren wurde er am 7. Februar 1929 in Eggersdorf östlich von Berlin. Meine Großeltern Frieda und Wilhelm Sohn hatten zu dieser Zeit eine Landwirtschaft, die sie 1932 verkauften. Familie Sohn zog nach Kuschkow/Spreewald und kaufte dort eine Gast- und Landwirtschaft. Hier begann 1935 die Schulzeit meines Vaters. Da mein Opa Jude war, zwang man die Familie Sohn durch Boykottaktionen zum Verkauf des Geschäftes. 1936 zogen die Sohns nach Österreich und eröffneten auf dem Danielsberg in Kärnten eine Hotelpension – den Herkuleshof.
Anfang des Jahres 1939 – also kurz nach dem “Anschluss” Österreichs – wurde das Hotel meiner Familie auf dem Wege der sogenannten Arisierung weggenommen und eine Kärntnerin als Eigentümerin eingesetzt. Mein Opa kam in das KZ Dachau – später dann in eine psychiatrische Versuchsanstalt in der Nähe von Koblenz, wo er kurz vor seiner Deportation nach Ausschwitz am 23. Mai 1942 starb. In der Sterbekunde nannte man meinen Opa übrigens Wilhelm Alfons Israel Sohn – “ohne Beruf, israelitisch”. Das war die perfide Praxis der Nazis. Ein zusätzlicher Vorname, der die Stigmatisierung schon im Ausweis kenntlich machte. Israel für Männer und Sara für Frauen. Und selbst seinen erlernten Beruf Land- und Gastwirt hat man in der Sterbeurkunde unterschlagen.
Mein Onkel konnte sich noch nach London absetzen und überlebte. Für meinen Opa reichte das Geld nicht mehr, um den Nazi-Schergen noch zu entkommen.
1939 wurden meine Oma und mein Vater aus der “Ostmark” in das “Altreich” ausgewiesen. Sie zogen nach Berlin. Mein Vater besuchte die 6. Volksschule in Berlin Mitte. Da er nach dem Rassegesetz ein Mischling I. Grades war (meine Oma war Protestantin), durfte er keine höhere Lehranstalt besuchen. Im November 1943 wurden Oma und Paps ausgebombt und zogen zu den Großeltern mütterlicherseits nach Eggersdorf. Hier wollte mein Vater eine Laufbahn als Maschinenbauer beginnen, durfte aber, da das Rassegesetz verbot, einen handwerklichen Beruf zu ergreifen, seine Lehrstelle in Müncheberg bei der Firma Paul Sellin nicht antreten.
Daraufhin wurde ihm eine Lehrstelle als Landwirtschaftslehrling beim Landwirt Kurt Ehlert in Grünberg/Neumark zugewiesen. Als im Januar 1945 dort die Russen einmarschierten, wurde mein Vater als Gefangener nach Landsberg gebracht, kam aber im Juli 1945 wieder zurück nach Berlin. Er arbeitete zunächst in einem Elektrowerk in Köpenick, bis er am 25. September 1945 einen Straßenbahn-Unfall erlitt. Die Folge davon war ein steifes Bein. Nach seiner Genesung und einem langen Aufenthalt in Schweden (daher meine Vornamen Gunnar Erik) bei Onkel Pelle (so nannte ich den Sohn der Gastfamilie) wurde mein Vater ab dem 22. April 1947 Fahrscheinausgeber bei der BVG. Hier gelang ihm später unter sehr großen Anstrengungen eine Karriere in der Verwaltung als Dienstzuteiler – bis zu seiner Pensionierung, die er nur ein knappes Jahr genießen konnte. Soweit ein kleiner Exkurs zum Leben von Paps – ein kleiner Baustein für eine Familienchronik, die ich nun mal so langsam fertigstellen muss.
Hallo Gunnar,
einen Teil Deiner Ahnen-Geschichte kannte ich ja schon aus Deinen Erzählungen während meines letzten Besuches bei Dir und Miliana in Bonn. Diese Geschichte würde sicher ein sehr interessantes Buch füllen.
Die Begebenheit mit Deinem Vater hat mich sehr ergriffen. Da haben wir mal wieder etwas gemeinsam. Als mein Vater starb hatte ich leider auch keine Gelegenheit mehr, mich von ihm zu verabschieden. Das ist sehr schade. Ich war damals auf dem Weg zu meinem Elternhaus, als ich bereits wusste, dass ich ihn nicht mehr lebend sehen würde. Im Radio haben sie dann das Lied “looking in my fathers eyes” von Eric Clapton gespielt. Das werde ich nie vergessen, denn mir war klar, das ich das niemals mehr machen könnte.
Miliana drücke ich ganz fest die Daumen, das es in Tunis trotz Freitagsgebet friedlich bleibt und sie bald wieder heil bei Dir in Bonn eintrifft.
Herzliche Grüße aus Aresing
Dein Bloggercamp-Mitstreiter
Hannes
Lieber Hannes, das sind sehr liebe Zeilen. Ich bin heute einfach nur traurig. Man kann leider die Uhr nicht mehr zurückdrehen. Je älter man wird, desto mehr beklagt man die Gespräche, die eben nicht mehr geführt werden können – mit dem Papa, mit der Oma und den vielen anderen Familienmitgliedern, die alle schon tot sind. Als junger Mensch sieht man das anders. Da ist alles noch für die Ewigkeit. Für die Endlichkeit fehlte das Verständnis. Mit dem Tod des Vaters (und dem Tod des besten Freundes nach einem Autounfall ein Jahr später) hat sich das schlagartig geändert. So ist es wichtig, die eigenen Erinnerungen festzuhalten. Mit meiner lieben Mutti werde ich jetzt noch einige Interviews führen und für die Familienchronik festhalten. Das ist das Mindestes, was ich tun möchte. Mit Miliana werde ich gleich noch einmal sprechen und die Details ihrer Rückreise klären. Werde Ihr schöne Grüße von Dir ausrichten.
Vor Samstag kommt Miliana nicht weg.