Öffentliche Meinung und die digitale „Verhaltensmodifikation“ aus den Silicon Valley-Laboren

Ich lese gerade das spannende Arbeitspapier der Bertelsmann-Stiftung „Digitale Öffentlichkeit – Wie algorithmische Prozesse den gesellschaftlichen Diskurs beeinflussen“ von Konrad Lischka und Christian Stöcker.

Die Analyse der beiden Autoren beschäftigt sich mit einem Aspekt, der mich nun schon seit ein paar Jahren umtreibt. Wie verändern Facebook und Co. die öffentliche Meinung? Wie verändert sich die Willensbildung der Menschen? Welchen Stellenwert haben noch die klassischen Medien?

So schreiben Lischka und Stücker:

„Algorithmische Prozesse von sozialen Netzwerken und Suchmaschinen beeinflussen für mehr als die Hälfte aller Onliner in Deutschland, wie und welche Angebote redaktioneller Medien sie in der digitalen Sphäre wahrnehmen.“

Immer mehr gibt es eine Zweiteilung der Informationsvermittlung:

Redaktionell kuratierte Medien (Spiegel Online etc. – also das klassische Nachrichtengeschäft) und algorithmisch strukturierte Intermediäre (Facebook, Google und Co.).

Wie uns die Plattformen lenken in unserer Rezeption von Informationen, ist uns wahrscheinlich gar nicht so bewusst. Im Arbeitspapier ist das ausführlich dargelegt:

„Schon seit 15 Jahren beschäftigt sich ein neuer Zweig der Psychologie der Mensch-Maschine-Interaktion mit der Frage, wie digitale Technik menschliches Verhalten beeinflussen helfen kann. Ihr geistiger Vater, B.J. Fogg, hat diese Disziplin Captology getauft (als Kurzform von Computers as Persuasive Technologies).“

Fogg zeige, wie klassische lerntheoretische Konzepte und Verfahren aus Behaviorismus und Verhaltenstherapie mithilfe digitaler Systeme auf das Verhalten von Menschen einwirken können.

„Als Foggs Buch erschien, existierten weder Facebook noch Instagram, und das Smartphone, wie wir es heute kennen, war noch nicht erfunden. Doch zahlreiche spätere Gründer und Mitarbeiter diverser Giganten des Silicon Valley durchliefen seine Kurse an der University of Stanford, darunter beispielsweise einer der Gründer von Instagram, Mike Krieger. Krieger entwickelte in Foggs Kurs gemeinsam mit einem Kommilitonen sogar eine auf Foggs Ideen basierende Anwendung zum Teilen von Fotos (Leslie 2016). Die von Fogg entwickelten Methoden werden heute von nahezu allen Entwicklern von Endkunden-Softwareprodukten selbstverständlich angewendet“, so Lischka und Stöcker.

Zu den Fogg-Jüngern zählt Nir Eyal, Autor des Buches „Hooked: How to build habit-forming products“. Der Begriff Habit könne im Englischen sowohl für „Angewohnheit“ als auch für „Sucht“ stehen. Gefeiert werde Eyal vor allem von Investoren, Start-up-Gründern und Vertretern der Werbe- und Marketingbranche, weniger von Wissenschaftlern. Seine angewandte Wissenschaft der digitalen Verhaltensmodifikation sei auf eine Art und Weise erfolgreich, die seinen Lehrer Fogg heute sehr beunruhigt:

„I look at some of my former students and I wonder if they’re really trying to make the world better, or just make money.“

„Captology betrachtet aus klassischen Lerntheorien bekannte Komponenten wie Auslösereize (trigger), Verhalten (action), Belohnung (reward) und Gewohnheit (habit), differenziert sie aus und überträgt sie in konkrete Anwendungsszenarien innerhalb digitaler Anwendungen“, schreiben die Studienautoren.

Ein zentrales Ziel der Optimierungsbemühungen der Captologen sei es, Hindernisse zwischen dem Nutzer und einem bestimmten Verhalten zu beseitigen. Vor dem Hintergrund der von Kahneman (2012) und anderen postulierten distinkten kognitiven Verarbeitungssysteme System 1 (schnell, intuitiv, automatisch, nicht anstrengend, anfällig für Fehler und Manipulation) und System 2 (langsam, deliberativ, geordnet, mit Anstrengung verbunden) sei dieses Gestaltungsziel erhellend:

„Ein zentrales Designprinzip der wissenschaftlichen Vordenker des Silicon Valley betrifft explizit die Erleichterung von System-1-Kognition und die aktive Umgehung von System-2-Kognition“, erläutern Lischka und Stöcker.

Das habe vorteilhafte Folgen, wenn man als Erfolgskriterien Messwerte wie Klick-, Teil- oder Like-Raten, Publikationsfrequenz oder andere quantitative Maße des Nutzerverhaltens heranzieht. Legte man andere Kriterien, wie tiefe Verarbeitung wahrgenommener Inhalte, Verständnis oder die Qualität geteilter Inhalte an, käme man wohl zu anderen Designentscheidungen.

Hypothesen, die sich aus solchen lerntheoretischen Grundlagen ableiten lassen, werden von den Plattform-Giganten permanent untersucht. Manche dieser Experimente, dienten der
Optimierung kurzfristiger Ergebnisse, während andere die Basis für langfristige Designentscheidungen bildeten. Auch von Google sei bekannt, dass schon kleinste Änderungen an der Benutzeroberfläche mit aufwendigen Experimenten im Livebetrieb und mit realen Nutzern vorbereitet werden – etwa, wenn es um die Frage geht, in welchem Blauton die Buchstaben von Textanzeigen gehalten werden sollen. Eine solche Farbänderung brachte dem Konzern 2014 Medienberichten zufolge ein Umsatzplus von 200 Millionen Dollar ein (Hern 2014).

Die Frage ist, ob wir in der Meinungsbildung und in der politischen Willensbildung nicht schon längst Produkte der Sozialingenieure in Kalifornien sind? Die Nachrichtenauslese der klassischen Medien ist das Werk von Menschen und kann mit ein wenig Aufwand herausgearbeitet werden.

Welche Wirkung auf die öffentliche Meinung haben nun die algorithmisch strukturierten Plattformen?

Was Lischka und Stöcker vorgelegt haben, ist ein spannendes Forschungsthema. Da sollten jetzt die universitären Institute nachlegen.

Siehe auch: Warum Daten-Forensik im Politik-Betrieb relevanter wird – Von der Unberechenbarkeit der öffentlichen Meinung

3 Gedanken zu “Öffentliche Meinung und die digitale „Verhaltensmodifikation“ aus den Silicon Valley-Laboren

  1. Hm. Habe das Papier auch gelesen. Na gut, es mag sein, dass es an meine psychologischen Hintergrund liegt in Tateinheit mit 20 Jahren Weberfahrung. Es war inhaltich in weiten Teil nett recherchiert. In der Tiefe vieler Absätze jedoch sehr schludrig und oft zu oberflächlich gearbeitet. Gerade die von dir ziteriten Absätze.

    „Algorithmische Prozesse von sozialen Netzwerken und Suchmaschinen beeinflussen für mehr als die Hälfte aller Onliner in Deutschland, wie und welche Angebote redaktioneller Medien sie in der digitalen Sphäre wahrnehmen“

    Nein. Das WIE wurde an keiner Stelle profund dargelegt. Warum dann die UX also die MMI von Fogg dazu kam? Nun, wer weiß, es gäbe viele gute Theorien zu diesem Thema aus der Schnittmehr von KuWi und Psychologie, aber Fogg? Ernsthaft.
    Ach ja, „deliberativ“ wurd2 nicht übersetzt. Warum? Ist „abwägend“ ein zu exotisches Fachwort. Oder wird dann auf einmal der mangelnde informative Gehalt der System 1/2-Thesen offenbar?

    Lerntheorie und operative Konditionierung sind sicher hilfreiche Basismodelle für eLearning, Fogg und auch Morena et al. Aber insgesamt muss man bei vielen Studien der BS feststellen, dass die Autoren sich wenig Arbeit machen zumindest den Hauch eines systematischen Literaturreviews anklingen zu lassen. Hm…

    Psychologisches Grundwissen aus den ersten drei Semester des Bachelorstudiengangs mehr oder weniger thematisch passend aneinanderzuflanschen, halte ich für handwerklich fragwürdig und thematisch hilflos. Vor allem wenn dann sowas wie People You May Know“ (PYMK, „Leute, die Sie vielleicht kennen“) eingeführt wird als Beispiel für ein Design (sic!), das Verhalten von Nutzern „massiv“ manipuliere. Wenn man sich die zugrundeliegende Arbeit von Malik und Pfeffer ansieht, geht da etwas zurückhaltender zu. Aber das Zuspitzen mag im Interesse des Auftraggebers sein. Den Eindruck hat man an vielen Stellen. Ich bin weiß Gott kein Google- oder FB-Adept, aber deren problematisches Potenzial liegt dann doch ganz woanders.

    Unter anderem eben im WIE der Wahrnehmung und nicht unbedingt im WAS.
    Dann hechtet man kurz durch das Thema Wahlen und SozNetzwerke/SuMa. Schade, um dann bei Panda und Penguin zu landen und das Problem der SEO-Optimierung implizit anzureissen? Was soll das? Nein, das Papier ist strukturell, methodisch und vor allen hinsichtlich seiner Intention noch nicht fertig. Bitte sinnvoll und anhand der Leiftragen überarbeiten.

  2. Hm (kann man weglassen). Ich habe es nur angelesen. Ein paar Hypothesen fand ich interessant. Ein Gesamturteil kann ich erst abgeben, wenn ich alles durchgearbeitet habe. Ich halte Deine Einwände für berechtigt. Problem: Viele Untersuchungen, ob vom LfM oder von der Uni Leipzig und vielen anderen Forschungseinrichtungen reißen das Thema zur Zeit nur an. Es gibt da noch sehr viel Luft für die Entwicklung einer neuen Theorie der öffentlichen Meinung.

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