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Neue Ökonomie mit mehr demokratischer Beteiligung #Zukunftskunst

Ich bin bislang gar nicht dazu gekommen, auf den Band “Möglichkeitswissenschaften” einzugehen, der zum 70. Geburtstag des Ökonomen Reinhard Pfriem erschienen ist. Das möchte ich ändern. Als erste Lesefrucht bekommt Ihr ein Interview aus der Reihe des Utopie-Podcast #KönigvonDeutschland, das für die Veröffentlichung redaktionell überarbeitet wurde.

Gunnar Sohn| Drei Fragekomplexe stehen im Raum: (1) Was bewegt Dich?, (2) Welche Zukunft siehst Du? und (3) Was würdest Du machen, wenn Du König von Deutschland wärst? Der Co-Moderator ist Lutz Becker, ich bin Gunnar Sohn – und unser Gast ist Reinhard Pfriem.

Lutz Becker| Reinhard Pfriem ist Emeritus an der Universität Oldenburg und war der erste Umweltökonom in Deutschland. Er hat sich seit vielen Jahren auch um die Nachhaltigkeit und um eine erweiterte ökonomische Theorie verdient gemacht, ist unter anderem Gründer des Instituts für Ökologische Wirtschaftsforschung (IÖW) und gibt seit langem eine kaum mehr zählbare Buch- reihe im metropolis-Verlag heraus.

Gunnar Sohn| Und dazu direkt die erste Frage: 1| »Was bewegt Dich?«

Reinhard Pfriem| Ja, was bewegt mich – als Pensionär inzwischen? Ich habe die Hoffnung nie aufgegeben, dass es möglich ist, zukunftsfähiges Unternehmertum hinzubekommen, in anderer Weise als es bisher der Fall war. Sprich: Ich beschäftige mich nicht nur wissenschaftlich, sondern auch praktisch im Grunde genommen seit Jahrzehnten als mal sehr linkssozialisierter Westberliner 68er damit, dass Unternehmen und Unternehmer*innen nicht Charaktermasken des Kapitals sein oder bleiben müssen, sondern dass es über zukunftsfähiges unternehmerisches Handeln nicht zuletzt möglich ist und auch wünschenswert und auch erforderlich, diese Welt besser zu machen.

Gunnar Sohn| In der ökonomischen Theorie hat das ja nicht ganz geklappt.

Reinhard Pfriem| In der ökonomischen Theorie hat es im Mainstream immer wieder nicht ganz geklappt, wie es eben so schön salopp formuliert wurde. Wir haben – Uwe Schneidewind, der Präsident des Wuppertal Instituts, früher auch mal an der Universität Oldenburg, und ich – im Jahr 2016 ein Manifest für Transformative Wirtschaftswissenschaft im Kontext nachhaltiger Entwicklung initiiert, mit zunächst mal etwas über dreißig Unterzeichnerinnen und Unterzeichnern fast ausschließlich aus den Wirtschaftswissenschaften. Das kann man als Indiz dafür nehmen, dass es natürlich immer wieder seit Jahrzehnten, im Grunde seit dem 18. Jahrhundert, also seit Beginn dieser modernen Wirtschaftswissenschaften, natürlich immer auch andere als die Mainstream- stimmen gab und gibt. Wir wollen versuchen, die Kräfte dafür zu stärken innerhalb und außerhalb der Universitäten, die daran arbeiten, dass Wirt- schaftswissenschaften nicht hauptsächlich selbstbezüglich in Journalaufsät- zen versacken, sondern dass sie dazu beitragen, ökonomische und gesell- schaftliche Probleme zu lösen – anders als das bisher der Fall ist.

Gunnar Sohn| Aber es war doch so, dass kurz nach der Finanzkrise 2007 die Zerknirschung groß war. Ich erinnere mich an eine Jahrestagung vom Handelsblatt ›Ökonomie neu denken‹. Da waren alle bereit, zu sagen: Wir müssen uns vom Ideal des homo oeconomicus verabschieden, wir müssen andere Wege gehen, es muss eine normative Diskussion geben – also: Wir können nicht so weitermachen wie bisher. Ich habe den Eindruck, bei den Tagungen in den vergangenen Jahren ist davon nicht mehr sehr viel zu hören und zu merken.

Reinhard Pfriem| Das ist richtig. Im Mainstream von Betriebswirtschaftslehre und Volkswirtschaftslehre ist davon nicht sehr viel übriggeblieben. Aber die ökonomischen und gesellschaftlichen Krisen sind ja nicht vom Tisch. Insofern ist die Frage, wie weit wir es nicht mit einer Konstellation zu tun haben, die der Sozialforscher Wolfgang Streeck auf den Nenner und auch Titel Gekaufte Zeit gebracht hat. Das heißt: Bestimmte Probleme, oder: die wesentlichen Probleme, sind eher aufgeschoben als aufgehoben. Und insofern haben wir bei allen Schwierigkeiten und gewalttätigen Konflikten in der heutigen Welt oder den politischen Verhältnissen – wenn Sie etwa die letzten Präsidentschaftswahlen der USA nehmen – bei allen Schwierigkeiten, die dadurch illustriert werden, haben wir die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass aus dieser Krisensituation heraus tatsächlich doch auch möglich ist, dass neue Lö- sungen entwickelt werden, neue Wege gegangen werden.

Lutz Becker| Du hast ja jetzt über viele Jahre die Spiekerooger Klimagespräche unter anderem mit Uwe Schneidewind und anderen Kolleg*innen initiiert und hast dort eine Plattform für Wissenschaftler*innen geschaffen. Was ist denn da Neues herausgekommen? Welche Perspektiven haben sich da eröffnet?

Reinhard Pfriem| Ich denke, dass die Spiekerooger Klimagespräche, die wir acht Jahre lang durchgeführt haben, und auch die künftigen Bergischen Klimagespräche ab diesem September, wir sitzen ja just im Moment im Gräfrather Hof in Solingen-Gräfrath, wo dann dieser Transfer von der ostfriesischen Insel Spiekeroog hier ins Bergische Land, in die Region der Frühindustrialisierung, ab diesem Jahr stattfindet, für etwas stehen. Ich denke, dass die Spiekerooger Klimagespräche und auch die künftigen Bergischen Klimagespräche Ausdruck von etwas sind, wo, wenn das ganze hier unter dem Begriff der Utopie steht, eine Veränderung stattgefunden hat und praktisch stattfindet, die doch gegen- über früheren oppositionellen Bewegung, ob die sich nun antikapitalistisch oder wie auch immer nannten, Anlass zur Hoffnung gibt. Opposition gegen kapitalistische, gegen kritisierbare gesellschaftliche Verhältnisse war über weite Strecken im 20. Jahrhundert sehr einseitig negativ konnotiert – als Widerstand, als Protest. Was die oppositionellen Kräfte, die neuen sozialen Bewegungen, etwa wie Energiegenossenschaften, wie alternative Unternehmensformen in der Land- und Ernährungswirtschaft, womit wir uns auch in Forschungsprojekten sehr intensiv beschäftigen, was die Neues in die Welt bringen, ist, dass im kritisierten Alten das Neue auch tatsächlich sich entwi- ckeln und wachsen muss. Das heißt, dass positive, nicht nur theoretische konzeptionelle Vorstellungen, sondern auch konkrete, handfeste Praktiken davon entwickelt werden müssen und auch tatsächlich entwickelt werden, wie eine andere, wie eine neue Ökonomie und wie neue gesellschaftliche Verhältnisse mit mehr demokratischer Beteiligung aussehen könnten.

Lutz Becker| Welche Rolle spielt da die Utopie? Ist sie conditio sine qua non, brauchen wir diese Utopien? Oder wie wollen wir damit umgehen?

Reinhard Pfriem| Naja, der Begriff der ›Utopie‹ hat in diesem Zusammenhang natürlich eine spezielle Konnotation, weil das ja eigentlich ein Ort nirgendwo ist – zumindest in der etymologisch präzisen Fassung. Und die Nicht-Klärung der Frage, wie eigentlich die neuen gesellschaftlichen Verhältnisse aussehen sollen, teilweise hier sogar die theoretisch begründete Verweigerung, sich mit dieser Frage zu beschäftigen, angefangen von der fundamentalen und bedeutsamen Kapitalismuskritik von Karl Marx und Friedrich Engels im 19. Jahrhun- dert, gehört nach meinem Dafürhalten zu den großen Defiziten, zu den ele- mentaren Schwächen gesellschaftlicher Oppositionsbewegungen der letzten 150 Jahre. Und da – das habe ich eben schon angesprochen – ist eine Transformation eingetreten oder tritt eine Transformation dadurch ein, dass solche neuen Unternehmensformen, also nicht nur übergreifende politische Organisationen, Gruppierungen, NGOs und so weiter, sondern auf eine andere Ökonomie zielende unternehmerische Initiativen wie Energiegenossenschaften, wie Solidarische Landwirtschaft, wie Erzeuger-Verbraucher-Gemeinschaften und so weiter da Wege öffnen, wie denn eine Gesellschaft und eine Wirtschaft der Zukunft aussehen könnten.

Lutz Becker| Das führt direkt zur nächsten Frage: Utopie und Theorie – inwie- fern kann eine Utopie auch theoriebildend sein und inwieweit sollten utopische Konzepte auch in die ökonomische Theorie einfließen?

Reinhard Pfriem| Ich würde schon den Begriff der Utopie, obwohl streng genommen die Übersetzung heißt: Kein Ort. Nirgends – es hieß ja auch mal ein Büchlein von Christa Wolf so – ich würde das schon positiv aufgreifen in unserem Zusammenhang, indem die Belebung und Wiederbelebung und auch die Wiederwertschätzung des Begriffs der konkreten Utopie bedeutet, dass wir sehr viel Fantasie aufwenden sollten dafür, wie denn solche zukünftigen Gestaltungen aussehen und was wir heute schon praktisch tun können, um die einzuleiten und auf den Weg zu bringen. Also auf jeden Fall insofern den Be- griff der Utopie positiv besetzen: Es geht um Möglichkeiten, ich selbst spreche von Möglichkeitswissenschaft, also der Aufgabe der Wissenschaft, Möglichkeiten aufzutun, Akteuren zu ermöglichen, diese Veränderungen durchzuführen. Ich würde nicht kurzschlüssig vom Begriff der utopischen Wissenschaft sprechen, aber trotzdem ist ja nichts anderes damit gemeint. Der Begriff, den ich da verwende, geht zurück auf den wunderbaren Roman von Robert Musil Der Mann ohne Eigenschaften, wo wörtlich nachzulesen ist: Wo es Wirklichkeits- sinn gibt, muss es auch Möglichkeitssinn geben. Von da her habe ich das, und im Gegensatz zu der vermeintlich reinen Wissenschaft nicht nur in den Naturwissenschaften, alles nur beschreiben und erklären zu wollen und nur ja keine Gestaltungsempfehlung zu machen und schon gar keine normativen Orientierungen mit auf den Weg zu geben, geht es genau darum: Den Menschen zu helfen, den individuellen und kollektiven Akteuren, unter anderem gerade auch Unternehmen und unternehmerischen Initiativen, neue Wege aufzutun und insofern konkrete Utopien auf den Weg zu bringen.

Gunnar Sohn| Aber da grenzen sich die Klassiker in der Ökonomie klar von ab oder die herrschende Lehre, die sagt, das sei unwissenschaftlich, weil sie sich dann immer hinter irgendwelchen Naturgesetzen oder metaphysischen Aus- sagen verstecken. Die andere Seite sagt, die Wirtschaftswissenschaft ist per se auch normativ ausgerichtet. Selbst die, die auf Marktgesetzmäßigkeiten verweisen, wie Milton Friedman, sind ja auch wertend, sind auch normativ unterwegs. Ist die Frage der Utopie vielleicht auch eine Frage der Politisierung dieser Denkrichtung oder der Ökonomik?

Reinhard Pfriem| Wenn ich vom wissenschaftlichen Feld ausgehe, würde ich mindestens nicht im ersten Schritt schon von Politisierung sprechen. Das ist ja relativ prominent geworden vor drei Jahren durch das Buch des französischen Ökonomen Thomas Piketty Das Kapital im 21. Jahrhundert. Piketty, der sicherlich wesentlich besser mit der in den Wirtschaftswissenschaften favorisierten mathematischen Methode umzugehen versteht als ich als vormaliger Betriebswirtschaftsprofessor, hat sich in diesem Buch unter anderem darüber lustig gemacht, dass die Wirtschaftswissenschaften nach wie vor eine solch einseitig kindliche Liebe zur Mathematik haben. Er hat in diesem Zusammen- hang, und es passt auch unmittelbar in diesen Zusammenhang hinein, sich geäußert, dass es eigentlich nur eine Zukunft von Wirtschaftswissenschaften, wirklich zukunftsfähige Wirtschaftswissenschaften, geben kann, wenn die vor mittlerweile 100 Jahren vorgenommene Aufspaltung der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften in dieser extrem fachdisziplinären Separierung zurückgenommen wird. Das heißt: Wenn es einen stärkeren Zusammenhang wieder gäbe – der wird etwa in der inter- und transdisziplinärer Nachhaltigkeitsforschung seit Jahren praktiziert – zwischen den verschiedenen Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, dann wäre völlig klar, dass man nur sehr begrenzt mit der mathematischen Methode operieren kann und dass diese einseitige Orientierung auf die mathematische Methode als höchste Stufe wissenschaftlicher Exzellenz natürlich völlig unangemessen ist, weil man die wesentlichen nicht nur Verhaltensweisen, sondern eben auch Entwicklungsmöglichkeiten von Menschen, erst recht Ermöglichungsbedingungen von handelnden Akt- euren nicht wirklich vor allen Dingen mit mathematischen Mitteln belegen, bearbeiten, beweisen kann.

Gunnar Sohn| Da war man in den 1920er-Jahren schon mal weiter. Also zumin- dest Schumpeter war weiter, denn der hat sich in Bonn ja eher als Sozialwis- senschaftler definiert. Gottfried Eisermann, der den Soziologielehrstuhl nach 1945 in Bonn angetreten hatte, hat in seiner Antrittsvorlesung Schumpeter eher als Soziologen gewertet. Also könnte man doch eigentlich an Schumpeter anschließen?

Reinhard Pfriem| Ja, auf jeden Fall! Da bin ich auf jeden Fall auch an der richtigen Stelle getroffen. Ich habe mich immer gewundert, teilweise auch amüsiert, wie ich in meiner Betriebswirtschaftslehre, meiner Fachdisziplin, in den vergangenen Jahrzehnten auf Konferenzen häufig darauf gestoßen bin, dass der Schumpeter von vor dem Ersten Weltkrieg, der also den Unternehmer zum Teil sogar mystifiziert hat, ganz hochgehalten wurde, aber man von dem Schumpeter der 30er- und vor allem 40er-Jahren, als er dann in die USA emigriert war, vor allen Dingen von seinem letzten großen Hauptwerk Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie nun ja nicht reden sollte – das hätte nichts mit Ökonomie und schon gar nichts mit Betriebswirtschaftslehre zu tun.

Gunnar Sohn| Es ist der kreative Zerstörer übrig geblieben …

Reinhard Pfriem| Ja, in völliger Einseitigkeit! Und man könnte sagen, in der Spekulation darauf, dass die Adressat*innen Schumpeter nie gelesen haben, wird Innovationsfetischismus mit Schumpeter über den Begriff der ›kreativen Zerstörung‹ gerechtfertigt, statt sich damit zu beschäftigen, dass Schumpeter den dramatischen Verlust der Unternehmerfunktion in zunehmenden Maße analysiert hat und sich von daher die Frage stellt, welches heute eigentlich die sozialen Quellen dafür sind, gute unternehmerische Aktivität in die Welt zu setzen. Und deswegen ist vor dem Hintergrund der Schumpeterschen Analyse, dass die Unternehmerfunktion eher in der Zeit der Familiendynastien, der dynastischen Unternehmerrolle, Einheit von Eigentümer*in und Ge- schäftsführung, funktioniert hat, ist es gerade interessant, heute zu sehen, dass gemeinschaftsorientierte Formen des Wirtschaftens, also unter anderem Genossenschaften, teilweise aber auch stiftungsähnliche Formen eine Renaissance – oder vielleicht nicht nur eine Renaissance, sondern eine Blüte erleben, wie es das in der bisherigen Geschichte des Kapitalismus gar nicht gegeben hat. Und das ist dann vielleicht auch die Auflösung des Problems und dieser Entwicklung, die da im 20. Jahrhundert stattgefunden hat.

Gunnar Sohn| Jetzt ist es eigentlich ein Trauerspiel, dass beispielsweise die Uni- versität Bonn so wenig anknüpft an die Forschungstradition von Schumpeter. Also Wuppertal macht’s …

Reinhard Pfriem| Ich hätte es gerade noch länger ausführen können, wollte aber nicht zu lange reden … ich werde als Lehrbeauftragter an der Bergischen Universität Wuppertal im kommenden Wintersemester mit meinem ehemaligen Doktorvater, Norbert Koubek, der natürlich auch schon lange emeritiert ist, an der Universität Wuppertal ein Seminar anbieten: Schumpeter, Nachhaltigkeit und der Wandel des Unternehmertums. Norbert Koubek ist als inzwischen Pensionierter dafür verantwortlich, dass der ehemalige Fachbereich Wirtschaftswissenschaft der Universität Wuppertal, an dem ich extern aus Westberlin vor über 30 Jahren promoviert habe, seit einer Reihe von Jahren Schumpeter School heißt. Ob das tatsächlich von der aktuell tätigen Professorenschaft dieses Fach- bereichs so getragen wird, ist eine andere Frage.

Gunnar Sohn| Dann kommen wir zum zweiten Fragekomplex:

2| »Welche Zukunft siehst Du?«

Reinhard Pfriem| Für wen? Für die Gesellschaft? Für mich selbst?

Lutz Becker| Es gibt natürlich verschiedene Akteure, es gibt sicherlich keine in sich harmonische und geschlossene Gesellschaft, sondern es gibt verschie- dene Perspektiven, mit denen man sich dessen annähern kann.

Reinhard Pfriem| Es ist schwierig, auf eine ernstgenommen so komplexe Frage in Kürze eine Antwort zu geben. Nachdem ich sehr viel über Hoffnung und positiv auch über konkrete Utopien gesagt habe, muss ich dann für meine eigenen Auffassungen schon redlicherweise dazusetzen, dass ich in den letzten Jahren in vielerlei Hinsicht im Sinne der gerade gestellten Frage auch durchaus skeptischer geworden bin; oder vielleicht sogar pessimistischer. Ich habe vor Jahrzehnten schon mal in einem Vortrag gesagt: Skeptiker sind die solideren Optimisten. Aber vielleicht sollte ich auch durchaus nicht nur von Skepsis, sondern auch von Pessimismus sprechen. Ich bin vor einiger Zeit auf ein Zitat von Sigmund Freud gestoßen, das sinngemäß heißt, dass die Menschen gar nicht so tief gefallen sind, weil sie nämlich niemals so hoch gestiegen waren, wie wir in der euphorischen Vernunft- und Aufklärungsphilosophie des 18. Jahrhunderts gedacht haben. Wenn ich mir die kulturellen Entwicklungen heute, aber auch die politischen Entwicklungen anschaue, gerade auch international, dann bringe ich das zusammen mit der Leitfrage, die wir, glaube ich, für die dritten oder vierten Spiekerooger Klimagespräche formuliert hatten: Genügend Kraft für die Große Transformation? Da war also kurz vorher das Gutachten des Beirats Globale Umweltveränderungen unter dem Titel Große Transformation, also für Nachhaltigkeit, erschienen und schließt sich ja die Frage an nach den gesellschaftlichen Kräften und Akteuren, die in der Lage sein könnten, diese Veränderungen tatsächlich zu leisten. In den frühen marxistischen Kontexten schien das immer ganz einfach zu sein mit der Arbeiterklasse und im Zweifel ihrer Partei. Die Zeiten sind lange vorbei. Das heißt: Die Frage, wie sich heute die gesellschaftlichen Kräfte der Veränderungen qualitativ und auch unter dem Gesichtspunkt, ob die kritische Masse groß genug ist, artikulieren können, ist wirklich eine sehr schwierige und offene Frage. Vielleicht ist es sogar mitlaufend einer der Gründe, warum ich mich in den letzten Jahren verstärkt mit Evolutionstheorie beschäftige. Weil ich denke, dass wir die kulturelle Evo- lution, also die der natürlichen, vormenschlichen Evolution folgende kultu- relle Evolution, seit die Menschen auf den Plan der Geschichte getreten sind, als etwas verstehen müssen, wo es eben nicht, wie häufig mit dem Evolutions- begriff die Vorstellung verbunden wird, nur aufwärts geht, sondern dass es eben auch so etwas wie Devolution und Involution geben kann. Das heißt, es tatsächlich eine Entwicklung von kulturellem Niedergang geben kann, weil die Kräfte, die die bessere Zukunft schaffen, dann vielleicht doch nicht hinreichend viele und hinreichend stark sind.

Gunnar Sohn| Liegt es vielleicht auch ein bisschen an einer Naivität in der Betrachtung der Realitäten, dass man den Kapitalismus oder die marktwirtschaftliche Gesellschaft dann eher unter diesen naturgesetzlichen Gesichts- punkten betrachtet hat, dass man aber diesen Faktor ›Macht‹ immer ausklammert? Diese machtpolitischen Faktoren oder wie es ja auch Karl Marx be- schrieben hat: Wie kapitalistische Kräfte, wo es natürlich auch um Herrschaft und Macht geht, auch zu einer Entsolidarisierung der Gesellschaft beitragen oder wie sogar positiv besetzte Begriffe aus der linken Bewegung, aus den neuen sozialen Bewegungen mittlerweile okkupiert werden, wie Emanzipation, Partizipation etc. – wenn man diese New-Work-Debatte nochmal an- schaut, dass es eigentlich ja nur um eine Flexibilisierung und eine Freisetzung von Arbeitskräften geht oder um eine Freelancer-Ökonomie, die weniger gut organisiert ist. Also wo es eben nicht mehr diese klassischen Marktblöcke gibt, dass sich die Arbeiterschaft in den Gewerkschaften organisiert, die Interessen entsprechend vertreten. Zurzeit ist es so, dass es eher eine Vereinzelung ist und dass es eher den Konzernen, den Trust-Gebilden einfacherer fällt, den einen gegen den anderen auszuspielen. Sollte man nicht vielleicht auch in politischen Dimensionen stärker denken? An entsprechende Regelsysteme, Checks-and-Balances und auch vielleicht eine Wiedereroberung des wirtschaftlichen Feldes durch die Politik?

Reinhard Pfriem| Na, wer ist die Politik?

Gunnar Sohn| Die Politik sind die entsprechenden Akteure, die zur politischen Willensbildung beitragen. Dazu gehören wir auch. Aber es sind die Parteien, die Regierungen – es geht um Gesetze.

Reinhard Pfriem| Ich frage deswegen nach, weil ich eigentlich schon, nicht seit ich denken kann, aber seit ich mich wissenschaftlich und auch politisch betätige, immer sehr widersprochen habe allen Vorstellungen, dass die heute böse Welt des Ökonomischen eingenordet wird durch die Politik. Die Ökonomie ist Ausdruck bestimmter kultureller Verhältnisse und Konstellationen so, wie sie funktioniert, auch was in ihr für wichtig gehalten wird, was wertgeschätzt wird und so weiter. Und dieselben kulturellen Strömungen wirken auch auf die Konstellationen der politischen Kräfteverhältnisse, gerade in einem repräsentativen Parteiensystem. Das heißt, es war in meinen Augen die Vorstellung immer schon völlig naiv, daran zu glauben, dass auf diesem Wege von Politik oder diesem Wege des Politischen durch entsprechend höhere Steuern oder Abgaben oder sonst etwas die Unternehmen zu Maßnahmen gezwungen wer- den, die sie selber nicht machen wollen. Es funktioniert ja auch nicht so. Wenn man sich das Parteiensystem anguckt und das Wahlverhalten der Bürgerinnen und Bürger, haben wir ja gerade in Deutschland und auch gerade in den letzten Jahren keine Entwicklung, in der vor allem die Parteien immer stärker geworden wären, die eine radikal nachhaltigkeitsorientierte Politik wollen oder verlangen. Nein, ich denke, um die Frage auf einer anderen Ebene zu beantworten, wenn ich das richtig verstanden habe: Es ist sicherlich nicht das Problem, dass das gesellschaftliche Phänomen Macht zu wenig ernstgenommen worden wäre in den politischen und sozialen Auseinandersetzungen des 20. Jahrhunderts. Im Gegenteil, leninistische Transformation von Sozialismus und Kommunismus war gerade umgekehrt der Weg, Machtphänomene völlig einseitig und unreflektiert in den Vordergrund zu rücken. Und in diesen Zusammenhang gehört für mich auch, dass nicht nur in der stalinistischen Sowjetunion, sondern auch in China, wo wir in der Westberliner Studentenbewegung einige Jahre Hoffnung darauf gesetzt haben, sich Mao Tse-tung, Lin Biao, Deng Xiaoping und einige andere, die sich Ende der 50er-Jahre noch gut und bestens verstanden hatten, gegenseitig zerlegt haben. Und auf einer anderen Ebene bewegt mich auch heute das Problem. Ich konstatiere, dass eine bemerkenswerte – ich will nicht sagen: Unfähigkeit, aber – Schwäche derjenigen, die eigentlich gesellschaftskritisch an einem Strang ziehen, gemeinsam solidarisch stärker zu werden. Und das hat etwas damit zu tun, damit bin ich fast wieder bei der Evolutionstheorie, dass wir vielleicht doch überfordert sind, fast gattungsgeschichtlich überfordert sind, die Gratwanderung zwischen Einheit und Gemeinsam-Vorgehen einerseits und andererseits Konflikt und Streitkultur richtig zu bewältigen. Ich bin sehr angetan von den theoreti- schen Arbeiten von der belgischen, sehr Marx-sozialisierten Chantal Mouffe, die schon vor Jahrzehnten mit dem inzwischen verstorbenen argentinischen Wissenschaftler Ernesto Laclau zu diesen Fragen gearbeitet hat. Sie hat den Begriff der Agonistik geprägt. Und mit Agonistik meint sie, dass es möglich sein muss, statt Einheitsbrei zu machen, offen Streitkultur wirklich in der Gesellschaft zu pflegen, zu kultivieren, aber damit Konflikte auch Konflikte zwischen Kontrahenten bleiben und nicht Gegenstand von feindlichen Auseinandersetzungen werden. Das scheint extrem schwierig zu sein. Und daran scheitert in meinen Augen ganz vieles, weil es möglicherweise und sogar evolutionstheoretisch begründbar, eine überstarke Neigung der Menschen gibt, Konflikte rasch in ein Feld zu führen, in dem es Konflikte zwischen Feinden sind.

Gunnar Sohn| Das eine ist demokratischer Zentralismus in Anführungsstrichen à la DDR oder KP China, das andere sind Checks-and-Balances-Systeme, die Machtmissbrauch eher eingrenzen, wo gerade dann ein Regelwerk geschaffen wird, wo sich Kräfte gegeneinander ausgleichen oder sogar blockieren oder wo eine Kraft nicht durchregieren kann. Aber ist es nicht so gewesen in den letz- ten 20, 30, 40 Jahren, dass man sich deutlich vom Ideal von Röpke, Rüstow, Erhard wegbewegt hat, Wirtschaftspolitik als Staatskunst zu sehen, und stimmt das denn, dass viele Umweltfortschritte, die wir erzielt haben seit den 70er-Jahren, nicht eher durch das gesetzliche Regelwerk entstanden sind, vom Emissionsschutz angefangen über EEG und andere Geschichten. Also ohne staatliche Regelung wird es dann wohl nicht gehen.

Reinhard Pfriem| Nein – ich bin ja nicht grundsätzlich gegen staatliche Regelungen. Ich wollte andersherum darauf hinweisen, dass solche staatlichen Regelungen, wenn sie positive Veränderungen bewirken sollen, entsprechenden sozialen und gesellschaftspolitischen Drucks bedürfen. Ohne die Tatsache, dass bei diesen sogenannten neuen sozialen Bewegungen – über den Begriff kann man lange streiten – diejenigen seit den 70er-, 80er-Jahren besonders stark gewesen wären, die sich anfangs völlig verlacht für regenerative Energien eingesetzt haben und auch praktisch, technisch daran gefrickelt haben, ohne die entsprechende Kritik von Nicht-Regierungs-Organisationen, ohne die … ich habe ja nun selber Ende der 70er-Jahre an Demonstrationen von über hunderttausend Menschen teilgenommen in Kalkar und sonst wo, was die Kritik an der Atomenergie anging, … ohne diese sozialen, gesellschaftlichen und po- litischen Basisbewegungen wäre es sicherlich nicht zu einem Erneuerbare- Energien-Gesetz gekommen. Das ist das Problem, dass es in anderen relevan- ten gesellschaftlichen Sektoren nicht unbedingt vergleichsweise funktioniert. Denken Sie an den ganzen Bereich der Mobilität, wo der Lobbyismus von Alexander Dobrindt sich ausleben kann und es nach wie vor nicht möglich ist, tatsächlich in dem Autofahrerland Deutschland auch nur Geschwindigkeitsbegrenzungen durchzusetzen. Vorgestern stand bei uns in der Zeitung, dass bei einem Unfall mit doppelter Todesfolge nicht der Lieferwagenfahrer, der überholen wollte, bestraft worden ist und nicht der dahinter mit über 200 Stundenkilometer anbrausende Autofahrer, der überhaupt erst dafür gesorgt hat, weil er nämlich dann ausweichen wollte und zwei Menschen zu Tode ge- schubst hat, gegen den wird überhaupt nichts unternommen. Will sagen: Wir haben ja auch sehr unterschiedliche Bedingungen in unterschiedlichen Sek- toren von möglicher gesellschaftlicher Veränderung.

Gunnar Sohn| Liegt es an einer Atomisierung der Gesellschaft oder an der Ent- solidarisierung?

Reinhard Pfriem| Ja, ich will auf die Chantal Mouffe nochmal zu sprechen kom- men, die damals schon mit Laclau von Nähten, von Verbindungen, gesprochen und geschrieben hat, die zwischen den verschiedenen, in unterschiedlichen Sektoren tätigen gesellschaftlichen Oppositionsgruppen oder auch Gruppen, die Neues entwickeln, hergestellt werden müssen. Das ist aber offensichtlich eine außerordentlich schwierige und möglicherweise auf Dauer gesehen zu schwierige Aufgabe. Insofern ist diese Separierung, diese Zersplitterung selbst ein ganz großes Problem.

Lutz Becker| Du setzt ja jetzt bei den kommenden Bergischen Klimagesprächen im September auf das Thema Stadt. Ist die Stadt vielleicht der Ort, wo wieder Nähte entstehen? Hat die Stadt ein utopisches Potenzial aus Deiner Sicht?

Reinhard Pfriem| Wir haben uns entschlossen, nicht nur wegen des letzten Gut- achtens des Wissenschaftlichen Beirats Globale Umweltveränderungen, Der Um- zug der Menschheit, – was ein etwas euphorischer Titel in meinen Augen ist, die ziehen ja Großteils nicht freiwillig um – Stadt zum Thema der ersten im Bergischen Land stattfindenden Klimagespräche zu machen, weil sich daran in der Tat ganz viele Probleme der gegenwärtigen Entwicklung bündeln. Wir haben ja in der Tat eine Veränderung welthistorischen Ausmaßes, dass erst seit ganz kurzer Zeit die Mehrheit der Menschen dieser Erde in Städten leben. Für mich ist Stadt überhaupt nicht euphorisch besetzt. Ich würde, glaube ich, persönlich auch nicht mehr nach Berlin, wo ich lange gelebt habe, allerdings hauptsächlich im eingemauerten Westberlin, zurückziehen wollen, wo meine Tochter mit Schwiegersohn und Enkel leben. Ich bin froh, im eher beschaulichen Kettwig an der Ruhr zu wohnen. Ich glaube, dass nicht nur im Sinne der Vertiefung sozialer Gegensätze, sondern gerade auch im kulturellen Sinne die gegenwärtige Entwicklung der großen Städte, der großen Ballungsräume eher kritisch gesehen werden muss. Und deswegen wird auch der Haupttenor bei diesen ersten Bergischen Klimagesprächen nicht sein, was es da für tolle Ent- wicklungen gibt, sondern wie in Verbindung mit tollen Quartiersinitiativen von unten, aber vor allen Dingen auch die wirklich bestehenden sozialen, öko- logischen und kulturellen Probleme in den Blick genommen werden und in- wieweit es Möglichkeiten gibt, diese Graswurzelinitiativen auf eine größere Ebene zu heben, weil unter dem Druck von Gewerbesteuereinnahmen, Investoreninteressen und einigem anderen mehr doch gegenwärtig gerade viele städtische Entwicklungen in betrüblichem Ausmaß unter die Räder kommen.

Gunnar Sohn| Kommen wir zum dritten Fragekomplex, quasi die Jokerfrage: 3| »Was würdest Du machen, wenn Du König von Deutschland wärst?«

Reinhard Pfriem| Natürlich zurücktreten. Von meinem Verständnis von Demo- kratie … nein: Ich kenne das Lied natürlich von Rio Reiser. Die Frage ist ja auch ernstgemeint dahingehend: Was könnte man verändern? Ich denke aber, so simpel das vielleicht klingen kann, dass hier Inhalt und Prozess besonders eng zusammenhängen. Das heißt, die Veränderungen, die wünschenswert wären, angestoßen zu werden, können eben tatsächlich nicht von einer oder wenigen Personen angestoßen werden. Nach meinem Dafürhalten geht es eben auch in den nächsten Jahren und Jahrzehnten mit dieser repräsentativen Parteiendemokratie in der Weise so nicht weiter, beziehungsweise wenn sich die kulturellen und sozialen Spaltungen der Gesellschaft weiter vertiefen. Das ist überhaupt nicht angemessen beschrieben, wenn man da über AfD und sol- che Dinge redet. Es gibt einfach, um nochmal einen Ausdruck von Chantal Mouffe zu benutzen, ein grundlegendes Defizit an der Möglichkeit politischer Artikulation durch die Menschen, die die soziale Basis dieser Gesellschaften verkörpern. Wenn ich insofern rhetorisch die Frage dann doch ernst nehme, würde ich versuchen, Anstöße dafür zu geben, dass sich institutionelle For- men entwickeln, wie tatsächlich wieder radikale Demokratie neu aufgebaut werden kann. Es gibt in Berlin interessanterweise, aber geboren aus sozialer Not, beziehungsweise bezogen auf soziale Brennpunkte, also eher ex negativo entstanden, in einigen Bezirken seit einigen Jahren sogenannte Quartiersräte. Das scheint mir eine sehr interessante Entwicklung zu sein, wo nämlich genau die heterogenen zukunftsorientiert tätigen Akteure in einem bestimmten städtischen Quartier erstens zusammengebracht, zweitens aber auch mit der darüberliegenden Ebene verkoppelt werden, also sprich: mit der darüberliegenden, wo im gängigen oder gegebenen repräsentativ parlamentarischen System überhaupt erst die unterste Ebene liegt. Wir wohnen seit drei Jahren in Kettwig, ich kann das auch von daher beschreiben: Es gibt eine Bezirksvertretung IX in Essen, da gehören dazu Kettwig, Werden, Heidhausen und weitere. Das ist was völlig anderes als das, was die Menschen in Kettwig treibt, wie sie ihre Formen von Kommunikation, von Auseinandersetzung und so weiter formen. Das heißt, diese gegenwärtige Form von repräsentativ parlamentarischer Demokratie schwebt schon institutionell völlig über dem, was Menschen wirklich bewegt, wie sie agieren, wo sie sich über ihre eigenen Praktiken verständen und und und. Da Anstöße zu geben und zu versuchen, möglichst viele Menschen in Bewegung zu bringen oder Menschen, die in Bewegung sind, darin zu stärken – das wäre dann vielleicht das, was ich – soweit ein König von Deutschland etwas bewirken könnte – machen würde.

Lutz Becker| Da habe ich direkt mal eine Frage, die ich nachhaken würde, näm- lich: Der König von Frankreich, Macron und seine Bewegung en marche – ist das nicht eine Antithese zu den demokratischen Strukturen, die wir derzeit im zumindest westlichen Europa haben?

Reinhard Pfriem| Ich weiß es nicht. Warum? Weil die Begeisterung so groß ist und die Zustimmung?

Lutz Becker| Ja, weil es auch eine Graswurzelbewegung ist, also wo Leute, die politisch aktiv waren, die in der Zivilgesellschaft aktiv waren, die aus anderen Parteien kamen, die unternehmerisch aktiv waren, die sich dann doch auf ein- mal sammeln und Politik machen wollen.

Reinhard Pfriem| Ja, das ist auf jeden Fall ein Hoffnungsschimmer, den man sich in Deutschland gegenwärtig auf die nächsten Jahre gar nicht vorstellen könnte. Auf der anderen Seite haben das manche, auch in meinem engeren Freundeskreis, bis in die jüngste Zeit über die Cinque Stelle Bewegung in Italien auch gesagt. Man muss sich glaube ich nur die Korruptionsaffären unter der Cinque Stelle Oberbürgermeisterin von Rom angucken, aber auch vieles andere dort. Also: Ich weiß es nicht. Ich weiß es auch deshalb nicht, weil auch die Frage ist: Welches sind die strategischen Inhalte einer solchen neuen Stimmung? Und von dem, was ich da aus Frankreich jetzt in den letzten Wochen mitbekommen habe, macht es auf mich sehr stark den Eindruck, als ob eben das Drehen an der Schraube der Arbeitsbedingung und Kündigungsreglung und sonst was alles, also das, was hier mit Hartz IV passiert ist vor einer ganzen Reihe von Jahren, das in einem solchen politischen Kontext einzig denk- bare Veränderungsfeld wäre. Visionen, wie eine unter anderem sich vom Dogma des permanenten wirtschaftlichen Wachstums befreiende Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik der Zukunft aussehen könnte, habe ich da bisher noch nicht identifizieren können.

Gunnar Sohn| Vor allem ist es auch so, dass man Frankreich und Italien nicht vergleichen kann mit dem Parteienstaatssystem Deutschlands. In Frankreich wird schon mal eine Partei von der Bildfläche gewischt, es wird eine neue Partei gegründet, in Italien gab es Forza Italia, die Christdemokraten sind in der Versenkung verschwunden. Ich glaube, man kann es nicht ganz vergleichen. Eins ist, glaube ich, richtig. Das korrespondiert ganz nett mit einem Buch, das gerade in der Bundeszentrale für politische Bildung herauskommt, dass eine Demokratie mehr Orte des öffentlichen Gespräches benötigt …

Reinhard Pfriem| Richtig!

Gunnar Sohn| … da sind dann auch die Stadtcommunities wieder ins Spiel ge- kommen, die man verglichen hat mit einer Mafia in Chicago, wie die in Netz- werken organisiert sind, dass man eher in solche dezentralen Strukturen geht.

Reinhard Pfriem| Da wären wir ja auch wieder bei der Wissenschaft, was ja mal bis vor kurzem mein Beruf gewesen ist oder mein Arbeitsfeld immer noch, und da könnte ich auch nochmal zum Verhältnis von Wissenschaft und Ge- sellschaft abschließend zwei Sätze sagen. Helga Nowotny und Mitautoren ha- ben vor über 10 Jahren von einer Modus-2-Wissenschaft gesprochen und haben sehr ausdrücklich den Begriff der Agora, also des Ortes der öffentlichen Kom- munikation und Verständigung der griechischen Antike, dabei ins Spiel ge- bracht und dass sich Wissenschaft eben in diesem Sinne gesellschaftlich transparent zu zeigen hat, zu rechtfertigen hat und ihre von der Gesellschaft her alimentierte Funktion auch unter Beweis stellen muss, dass das hilfreich ist. Und das gilt jenseits des Verhältnisses von Wissenschaft und Gesellschaft für die Gesellschaft insgesamt. In einer Gesellschaft, da komme ich nochmal auf meine leichte Beschwörung des evolutorischen Niedergangs, in der weiter dramatisch der Anteil der Menschen steigt, die auf den nächsten drei Schritten ins Stolpern zu kommen drohen, weil sie nur unter sich, vor sich auf ihr Smartphone starren, wird diese Kommunikation sicherlich keine sehr guten Chancen haben.

Lutz Becker| Herzlichen Dank, Reinhard Pfriem, für das spannende Gespräch! Und ich glaube, es gibt noch einiges an Stoff aus diesem Gespräch, über den man nochmal dringend nachdenken sollte. Ich denke, Gunnar, da waren auch einige Themen dabei, die Dich reizen.

Gunnar Sohn| Aber ja – vielen Dank für das Gespräch!

Angeführte Literatur

Bergische Klimagespraeche. 2018. http://www.bergische-klimagespraeche.de.

Freud, Sigmund. 1924. Zeitgemässes über Krieg und Tod. Leipzig, Wien, Zürich: IPV.

Laclau, Ernesto und Chantal Mouffe. 1991. Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus. Wien: Passagen.

Mouffe, Chantal. 2014. Agonistik. Die Welt politisch denken. Berlin: suhrkamp.

Musil, Robert. 1957. Der Mann ohne Eigenschaften. Reinbek/Hamburg: Rowohlt.

Nowotny, Helga, Peter Scott und Michael Gibbons. 2001. Re-thinking science. Knowledge and the public in an age of uncertainty. Cambridge: Polity Press.

Pfriem, Reinhard, Uwe Schneidewind, Jonathan Barth, Silja Graupe und Thomas Korbun, Hrsg. 2017. Transformative Wirtschaftswissenschaften im Kontext nachhaltiger Entwicklung. Marburg: metropolis.

Piketty, Thomas. 2016. Das Kapital im 21. Jahrhundert. München: Beck.

Schumpeter, Joseph Alois. 1942. Capitalism, Socialism and Democracy. New York, London: Harper.

Spiekerooger Klimagespraeche. 2018. http://www.spiekerooger-klimagespraeche.de.

Streeck, Wolfgang. 2014. Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus. 5. Aufl. Berlin: suhrkamp.

WBGU. 2011. Welt im Wandel. Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation. Berlin. — 2016. Der Umzug der Menschheit. Die transformative Kraft der Städte. Berlin.

Wolf, Christa. 1979. Kein Ort. Nirgends. Darmstadt: Luchterhand.

Soweit der kleine Auszug aus dem Buch: Wenn das kein Anreiz ist, den Band Möglichkeitswissenschaften zu lesen.

Weitere Beiträge folgen.

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gsohn
Diplom-Volkswirt, Wirtschaftsblogger, Livestreamer, Moderator, Kolumnist und Wanderer zwischen den Welten.

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