
Das schrieb ich Anfang des Jahres: These: Die eigene wirtschaftliche Lage kann man mit belastbaren Daten bewerten. Die Beurteilung der allgemeinen wirtschaftlichen Lage ist eher ein Abbild der Medienberichte.
Und da dominiert in der Gefahren-Wahrnehmung Inflation und der Ukraine-Krieg.
Forschungsfrage: Was passiert, wenn Twitter-X und Co. vor allem den politischen Medientenor nur verstärken und es fast unmöglich für die Bevölkerung machen, Primärquellen wahrzunehmen und den Erregungsüberschuss im Netz mit Distanz, Nüchternheit und Skepsis wahrzunehmen? Gibt es überhaupt noch eine Chance für eine kritische Urteilskraft jenseits von reißerischen Überschriften, Pöbeleien, Beleidigungen, Zynismus und Verdrehungen?
Im Wust der Postings ĂĽberschlagen sich auch Journalisten im Kampf um die Deutungshoheit und in der Sucht nach Aufmerksamkeit.
Die Bildung öffentlicher Meinung wird so immer mehr zum Spielball von besonders sendungsbewussten und netzwerkmächtigen Akteuren, die mit ihren Agitationen besonders erfolgreich sind, wenn eine Überprüfung der Faktenlage schwierig, zweitaufwändig oder schlichtweg ermüdend ist – etwa beim Studium von Wirtschaftsstatistiken.
Da das eigene Erfahrungswissen für die Bildung der individuellen Meinung und somit der Bevölkerungsmeinung jedoch ein wichtiger Faktor ist, scheinen komplexe und schwer überprüfbare Sachverhalte wie beispielsweise Wirtschafts- oder Sicherheitspolitik ein Schlachtfeld für Meinungskämpfe zu sein. Besonders eklatant ist das bei Themen, die man zumindest in Ansätzen mit seiner eigenen Lage abgleichen kann. Vor 14 Jahren – also ungefähr zum Regierungsantritt von Angela Merkel – stuften nur rund 40 Prozent ihre Lage als gut ein.
Ganz anders wird die wirtschaftliche Entwicklung im Ganzen wahrgenommen. Hier gibt es seit 2009 nur vereinzelt Zeitabschnitte, in denen eine positive Wirtschaftsentwicklung verortet wird. Ein positives Delta wie bei der Abschätzung der eigenen Wirtschaftslage zwischen 70 und 7 Prozent gab es im vergangenem Jahrzehnt bei der allgemeinen Wertung der Wirtschaftslage nie. Nah- und Fernsicht klaffen also extrem weit auseinander.Â
Mit der leichten technischen Rezession, die wir seit Anfang des Jahres konstatieren, gibt es wieder mehr Nahrung für Medien und Social Web, um den Standort Deutschland schlecht zu reden. Das hinterlässt Spuren bei der Beurteilung der allgemeinen wirtschaftlichen Lage:

Das die Lage schlecht sei, wird ungefähr so negativ gesehen, wie Anfang 2009 zur Zeit der Finanzkrise. Die eigene Lage wird hingegen nach wie vor optimistisch gewertet. Und das hat gute Gründe: Während der Pandemie waren international die Schweiz und Deutschland jene Länder, die am schnellsten die Arbeitswelt, da wo es möglich ist, auf Homeoffice umgestellt haben. Kaum ein Wirtschaftsmedium titelte mit der Überschrift „Wir sind Remote-Weltmeister“ weit vor den angeblichen Tech-Giganten USA, China und Co. Kaum einer reflektierte, wie wir mit kluger Wirtschaftspolitik ohne großartige Firmenzusammenbrüche durch die Corona-Zeit gekommen sind. Andere Länder haben jetzt einen viel größeren Nachholbedarf und liegen deshalb in den Wachstumsraten vorn, so Wolfgang Brickwedde vom Institute for Competitive Recruiting in der Sendung #ZPNachgefragt.
Und selbst die technische Rezession dürfte bald der Vergangenheit angehören:
“Das Geschäftsklima der Mittelständler hat sich zum Sommerausklang kaum noch verschlechtert, die Geschäftserwartungen allein klettern sogar erstmals wieder leicht nach oben. Gleichzeitig offenbart der Blick in die Segmente ein differenziertes Bild: Bei den Mittelständlern verbessert sich die Stimmung im Verarbeitenden Gewerbe und dem GroĂźhandel und bei den GroĂźunternehmen sogar ĂĽber alle Hauptwirtschaftsbereiche hinweg. Der konjunkturelle Talboden könnte erreicht sein”, teilt KfW-Research mit.
Siehe auch: Wie der Doom-Jargon die Innovationskraft Deutschlands verschlechtern könnte
Edgar Piel
Die mediale Verzerrung der Wirklichkeit lässt sich in vielen Bereichen des Alltags ständig beobachten, egal ob beim “Thema Situation von Frauen”, ob bei der Einschätzung von “Stress oder GlĂĽcksgefĂĽhlen in der Gesellschaft” oder “Vertrauen in die Politik” – ĂĽberall und in fast allen Bereichen gibt es das doppelte Meinungsklima: die eigene Situation wird mehrheitlich gut beurteilt, aber man fĂĽhlt die eigene Situation als Ausnahme, weil man das Allgemeine ja nur aus den Medien kennt – und glaubt. Dieses Phänomen eines “doppelten Meinungsklimas” mĂĽsste zur Grundausbildung von Journalisten gehören, stört aber in der Praxis doch sehr bei der Zeichnung und Dramatisierung von Stimmungsbildern.